Schon an der ersten Info-Veranstaltung vor Schulbeginn hatte man uns
Eltern darauf hingewiesen, dass es in der ersten Klasse keine Zeugnisse geben
wird. Keine Noten, welche die Leistung des Kindes bewerten, keine Prüfungen,
die es unter Druck setzen. Mir gefiel die Idee ganz gut, dass die Kinder ins
Lernen einsteigen können, ohne sich gleich unter Leistungsdruck fühlen zu
müssen.
Zweifelhafte Dauerbewertung von Erstklässlern, Tages Anzeiger, Mamablog, 10.2. von Jeanette Kuster
Die Realität erlebe ich jetzt aber ganz anders. Die Kinder werden nicht
nur einmal pro Semester bewertet, sondern jede Woche. Schuld daran ist das
sogenannte «Kontakt- und Hausaufgabenheft».
Heute leider keine Belohnung
Jede Seite im Heft stellt eine Woche dar. Im oberen Teil notiert das
Kind seine Hausaufgaben, der untere Teil wird von der Lehrperson jeweils übers
Wochenende ausgefüllt. Da gibt es einerseits die vier Felder mit den
Strichmännchen, von denen jedes eine Verhaltensweise symbolisiert: Wie das Kind
mit seinen Kameraden und den Lehrern umgeht, ob es sich an die Regeln hält, ob
es seine Aufgaben zuverlässig erledigt und wie konzentriert es arbeitet. Hat
das Kind sich in allen Bereichen vorbildlich verhalten, bekommt es unter jedes
Bildchen einen Stempel ins Heft gedrückt. Wenn nicht, bleibt das entsprechende
Feld leer. Darunter schreibt die Lehrerin im besten Fall ein «Bravo!» oder eine
Erklärung für das leere Feld hin. Oder es steht da einfach: «Leider heute keine
Belohnung!»
Das Heft «dient als Kommunikationsmittel zwischen Schule, Schüler und
Elternhaus», formuliert es zum Beispiel die Schule Rorschach auf ihrer Website.
Tatsächlich bekommt man als Eltern aber nur bruchstückhafte Informationen
geliefert, mit denen man nicht viel anzufangen weiss. Je nachdem, wie schnell
die Lehrperson eine Verfehlung notiert, kommt das Kind fast wöchentlich mit
negativem Feedback nach Hause.
Die Detailinfos fehlen
«Du hast mit deiner Nachbarin geredet», «Du bist einmal zu spät
gekommen»: Mich lassen solche Sätze ziemlich ratlos zurück. Redet das Kind
ununterbrochen während der Schulstunde, oder ist das nur einmal vorgekommen?
Wie viel zu spät ist es gekommen? Und an welchem Tag ist das überhaupt
passiert? Manchmal hilft es auch nichts, mit dem Kind darüber zu reden, weil
sich der Vorfall vielleicht am Dienstag ereignet hat, ich das Heft aber erst am
Montagabend zur Unterschrift bekomme – eine ganze Woche später also. Zu lange,
als dass sich die Siebenjährige noch genau an das Geschehene erinnern könnte,
wenn es in ihrer Wahrnehmung unbedeutend gewesen ist.
Beim Elterngespräch habe ich die Lehrerin auf dieses Problem
angesprochen und ihr gesagt, dass die knappen Feedbacks einem nicht
weiterhelfen, wenn man die Zusammenhänge nicht kennt. Sie zeigte Verständnis
und sagte entschuldigend, sie habe leider nicht die Zeit, bei ihren Feedbacks
ins Detail zu gehen. Ich könne sie aber jederzeit anrufen und nachfragen – was
ich auch bereits einmal getan habe.
Trotzdem frage ich mich, ob das Kontaktheft unter diesen Umständen
wirklich sinnvoll ist. Den Lehrern beschert es Mehrarbeit, weil sie jede Woche
eine Bewertung abgeben müssen – und dadurch vielleicht auch Dinge notieren, die
eigentlich nicht der Rede wert wären. Auf Elternseite wiederum provoziert das
unnötige Sorgen, da so ein Eintrag schnell nach ernstem Problem aussieht. Und
auch die Kinder merken wegen des kleinen Hefts vermutlich nicht viel von der
gut gemeinten Idee, dass man in der 1. Klasse auf Benotungen verzichten will.
Sie fühlen sich vielmehr dauerbewertet. Und das ist ja eigentlich nicht Sinn
und Zweck dieses schulischen Kommunikationsmittels.
Jeanette Kuster
ist zweifache Mutter, Journalistin und Kommunikations-Fachfrau. Sie hat bei verschiedenen Medien in den Ressorts Lifestyle und Kultur als Redaktorin gearbeitet. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Zürich.
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