24. Februar 2017

Deutschunterricht vermittelt zu wenig Sprachkompetenz

In der Diskussion um den frühen Fremdsprachenunterricht ist ein wichtiges Thema fast ganz aus dem Blick geraten: die Frage nämlich, wie es eigentlich um die Deutschkenntnisse unserer Jugendlichen steht. Sind sie sprachlich gerüstet für den Eintritt ins Berufsleben, für die Wahrnehmung ihrer Rechte und Pflichten als Bürgerinnen und Bürger der Schweiz? Eines Landes notabene, das ihnen durch die direkte Demokratie sehr viele Mitsprachemöglichkeiten gibt?
Der sprachliche Schlendrian grassiert, St. Galler Tagblatt, 23.2. von Mario Andreotti


Im Jahre 2003 beteiligte sich die Schweiz an einer internationalen Studie der OECD, in der die Grundkompetenzen in «Lesen» und «Mathematik» erhoben wurden. An der Studie nahmen 5200 Personen zwischen 16 und 65 Jahren teil. Als 2006 die Ergebnisse der Studie bekannt wurden, staunte man: Hochgerechnet konnte man davon ausgehen, dass in der Schweiz etwa 800000 Erwachsene zwischen 16 und 65 Jahren, deren Muttersprache jeweils eine unserer vier Landessprachen ist, grosse Mühe mit dem Lesen und Schreiben haben, das heisst, selbst einfache Texte nicht verstehen und nicht schreiben können. Was das für das Schicksal jedes einzelnen Betroffenen bedeutet, kann sich ausmalen, wer überlegt, welche Rolle sprachliche Fähigkeiten in seinem eigenen Lebensalltag spielen.
Besonders deutlich wird das Problem mangelnder Sprachkompetenz bei der Lehrlingsausbildung, in den weiterführenden Schulen und Hochschulen. Lehrmeister beklagen selten, dass ihre Lehrlinge zu wenig Englisch können, sondern dass es ihnen vielmehr an grundlegenden Kenntnissen in Deutsch und Mathematik fehle. Das ist umso bedeutungsvoller, als rund 60 Prozent aller Berufe weder eine zweite Landessprache noch Englisch verlangen, mündliche und schriftliche Deutschkenntnisse hingegen zum Berufsalltag der meisten Berufe gehören und Voraussetzung für eine Weiterbildung sind. Hier steht die Schule in der Pflicht: Es ist ein offenes Geheimnis, dass die andauernden Schulreformen der letzten Jahrzehnte das Schwergewicht im Deutschunterricht zu wenig auf gründliches Erlernen von Grammatik, Stilistik und Rechtschreibung gelegt haben. Dieser unerfreuliche Zustand wird sich mit dem Lehrplan 21 nicht verbessern, sondern im Gegenteil noch verfestigen. In unsern Schulen wird der Deutschunterricht mit allen möglichen lebenskundlichen und politischen Themen überfremdet, so dass für das Kerngeschäft, das Einüben von Sprachkompetenz, kaum mehr Zeit bleibt. So sind Jugendliche mündlich oft bewandert, können sich bestens präsentieren, aber schriftliche Texte, etwa Aufsätze oder Bewerbungen, bekommen sie nur fehlerhaft hin.

Und die Lehrkräfte? Als Examinator bei der Ergänzungsprüfung für den Hochschulzugang habe ich immer wieder Einblick in korrigierte Aufsätze. Und immer wieder muss ich feststel-len, dass so manche Lehrer zahlreiche Formfehler übersahen oder zumindest ungeahndet liessen. Der Schlendrian scheint längst auch auf viele Unterrichtende übergegriffen zu haben. Entweder beherrschen sie gewisse Grammatikregeln selber nicht mehr oder fürchten, zu viel Rotstift könnte Jugendliche in ihrer Kreativität hemmen.


Sprachpflege, wie sie eine lange, bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende Tradition hat, ist heute verpönt. Und das im Zuge der Reformpädagogik auch in unsern Schulen, die täglich mit und an der Sprache arbeiten sollten. Selbst unter Deutschlehrern finden sich Leute, die Grammatik für einen vernachlässigbaren Aspekt ihres Faches halten. Sie argumentieren dann gerne, Sprache sei ein Mittel der Kommunikation und als solches halt dem Wandel unterworfen. Sprachverhunzung wird dann nur allzu oft mit Sprachwandel verwechselt. Es ist schon fast eine Binsenwahrheit: Formale Richtigkeit fördert das Denken. Verschiedene Verbformen zu erkennen, eingeschobene Nebensätze durch Kommas zu trennen oder Eigennamen gross zu schreiben, hat nichts mit langweiligem Pauken zu tun, sondern damit, Strukturen der Sprache zu verstehen. Und das ist heute notwendiger denn je, soll uns die Sprache als wichtigstes Werkzeug erhalten bleiben. 

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