Der Lehrplan 21 sollte eine Reform sein gegen den Kantönligeist im Bildungswesen. Er wurde zum Reglementiermonster.
Lehrplan 21: Das regulierte Schulkind, Beobachter, 20.2. von Susanne Loacker
Die Idee: Schweizweite Harmonisierung der Schule
2006 nahm das Schweizer
Stimmvolk das sogenannte HarmoS-Konkordat (kurz für «interkantonale
Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule») mit 86
Prozent Ja-Stimmen an. Das Konkordat, das von der Konferenz der kantonalen
Erziehungsdirektoren (EDK) formuliert wurde, soll die Qualität und die
Durchlässigkeit des Schweizerischen Schulsystems sichern und
Mobilitätshindernisse abbauen.
Es hat konkret folgende
Inhalte:
§ Die
obligatorische Schulzeit wird schweizweit auf elf Jahre verlängert, anstelle
des bisherigen Kindergartens wird eine Vorschule oder Eingangsstufe eingeführt.
§ Es
werden für die ganze Schweiz übergeordnete Ziele für die obligatorische Schule
eingeführt.
§ Es
sollen Instrumente der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung auf nationaler
Ebene benannt werden, um die Anforderungen anzugleichen.
§ Es
sollen Instrumente für verbindliche Bildungsstandards bestimmt werden.
§ Die
Schule soll an nationale und internationale Portfolios angepasst werden.
Seit der Abstimmung hat
die Erziehungsdirektion an einem gemeinsamen Lehrplan für die deutsch- und
mehrsprachigen Kantone gearbeitet, der die Volksschule vereinheitlichen und
allen Deutschschweizer Kindern einheitliche Lernziele geben soll. Der neue
Lehrplan ist vermutlich das grösste Bildungsprojekt, an das sich die Schweiz je
gewagt hat: Fast acht Jahre lang dauerte die Arbeit, insgesamt waren rund 200
Fachleute beteiligt. Ende 2014 wurde die überarbeitete und gekürzte Version des
Lehrplans 21 von den Deutschschweizer Erziehungsdirektorinnen und direktoren
freigegeben. Nun entscheidet jeder Kanton gemäss den eigenen Rechtsgrundlagen
über die Einführung. Die Einführung war in den meisten Kantonen auf das
Schuljahr 2017/18 vorgesehen. Bereits gibt es aber Widerstand und
Verschiebungspläne. Ob der Lehrplan 21 von den Lehrern je genutzt wird, ist
offen.
Die Kritik: «Ein Bürokratiemonster»
§ Übers
Ziel hinaus geschossen: Die
Schweizerische Konferenz der Kantonalen Erziehungskommissionen (EDK) hat den
Auftrag allzu wörtlich genommen. HarmoS sollte die Schule einfacher machen,
doch herausgekommen ist ein bürokratisches Monster: Rund 200 Fachleute haben
nach acht Jahren Arbeit hinter verschlossenen Türen ein Konvolut vorgelegt, das
in der ersten Version 557, in der abgespeckten Ausgabe immer noch 470 Seiten
dick war. Über die Gesamtkosten schweigt man sich aus.
§ Bürokratiemonster: Der neue Lehrplan
umfasst 363 Kompetenzen, unterteilt in 2304 Kompetenzsstufen; in der ersten
Version waren es sogar 819 mehr. So zerlegt man Schule und auch Schüler in ihre
Einzelteile – so lange, bis man das Ganze aus den Augen verliert.
§ Fragwürdige
Ausrichtung: Das
Zauberwort der neuen Bildungsbibel heisst Kompetenzen. Man misst nicht mehr,
was die Schüler wissen, sondern was sie können sollen. Das klingt zwar super,
doch der Lehrplan 21 definiert nur in wenigen Bereichen, welche Bildungsinhalte
die Lehrer den Schülern beibringen sollen. An erster Stelle steht das
Erarbeiten von messbaren Kompetenzen, die meist an beliebig austauschbaren
Inhalten erworben werden können.
§ Die
Schwachen haben wenig Chancen: Eine
Schulklasse ist heute ein gruppendynamisches, von hierarchischen Strukturen
geprägtes Gefüge, in dem, wenn der Lehrer schlau ist, auch einmal der
Schwächere vom Stärkeren lernt – weil der Lehrer das so aufgleist. Isoliert man
dagegen die Schüler, lässt sie quasi-individuell von einem Lern-Coach betreuen,
werden die Guten rasant schnell noch besser – und die Schlechten schlechter.
Auf der Strecke bleibt die Chancengleichheit.
Zusammenfassend
kritisiert Erziehungswissenschaftler Walter Herzog: «Der Lehrplan 21 nützt all
denen, die die Schule stärker kontrollieren und vermessen möchten, denjenigen,
die Tests entwickeln und durchführen wollen, weil sie damit Geld verdienen.
Messbarkeit per se bringt nichts. Die Sau wird ja auch nicht fetter, bloss weil
man sie wiegt.»
Man müsse ernsthaft
befürchten, dass sich die Lehrer künftig vor allem an den Prüfungen
orientierten. «Das nennt man ‹teaching to the test›, Lehren für die Prüfung –
und genau das bringt kein sehr nachhaltiges Lernen.»
Die Befürworter: «Lehrplan bietet
Orientierung»
Der Dachverband der
Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) sieht die ganze Kritik nicht so: «Der
Lehrplan 21 nützt denen, die wissen wollen, was in der Volksschule läuft,
denen, die Lehrmittel herstellen, denen, die Tests anbieten, und denen, die
sich beim Unterrichten und Lernen orientieren wollen», sagt Jürg Brühlmann,
Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle beim LCH.
Auf die Frage, was denn
am Schluss von der Vision und vom Projekt Lehrplan 21 übrig bleiben werde,
meint Anita Fetz lapidar: «Ein rein nutzenorientiertes Bildungsverständnis –
und ein ordinäres Sparprogramm.» Wenn es weiträumig umgesetzt werde, schaffe es
langfristig eher die öffentlichen Schulzimmer ab, statt die kantonalen
Unterschiede zu überwinden.
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