An Schweizer
Schulen werden neuerdings «Sitzstreiks» als Disziplinarmassnahme eingesetzt. Die
Methode, die nach Gandhi und Kuschelpädagogik klingt, ist nichts anderes als
eine Kollektivstrafe, wie man sie aus dem Militär kennt.
Lehrer erpressen Schüler, Weltwoche, 19.1. von Allan Guggenbühl
«Wir
bleiben hier, bis ihr kooperiert! Niemand verlässt das Zimmer!», teilt der
Schulleiter den Oberstufenschülern mit. Diese sitzen verdattert,
eingeschüchtert oder erstaunt hinter ihren Pulten. Dem Schulleiter sowie der
Klassenlehrerin und der Schulsozialarbeiterin, die mit ernster Miene neben ihm
sitzen, ist es ernst. Protest ist wirkungslos. Die Eltern wurden avisiert. Der
Sitzstreik der Lehrpersonen soll den Schülern klarmachen, dass das Problem nur
gelöst werden kann, wenn sie kooperieren.
Eine neue
Schülerin wird gemobbt. Wenn sie sich im Unterricht meldet, verdrehen die
Schüler und Schülerinnen die Augen, Informationen werden nicht an sie
weitergeleitet, und ihr Schulmaterial ist zerstört worden. Als schliesslich ihr
Schulheft mit Kot verschmiert wird und der Schulleiter einen verzweifelten
Anruf der Mutter des Mädchens erhält, hat die Schulleitung genug. Da
Ermahnungen und Gespräche nichts ergeben haben, entschliesst man sich zur
ultimativen Massnahme: einem Sit-in beziehungsweise einem Sitzstreik. Die
Klasse wird ins Schulzimmer zitiert und darf erst hinaus, wenn sie sich
einsichtig zeigt und der Täter sich meldet. Die Lehrpersonen warten.
Die Idee
des Sitzstreiks entwickelte der israelische Konfliktexperte Haim Omer. Kinder
und Jugendliche brauchen nicht nur Verständnis, sondern es gilt als
Erwachsener, Grenzen zu setzen und durch Präsenz zu signalisieren, dass sie ihr
Verhalten ändern oder eine Tat eingestehen müssen. Dies soll im Rahmen einer
Beziehung geschehen. Der junge Mensch realisiert so, dass er dem Erwachsenen
nicht gleichgültig ist. Es geht um gewaltlosen Widerstand der Lehrpersonen,
damit die Schüler einsichtig werden und kooperieren.
Wirren der Pubertät
Die
Methode des Sit-in wird von vielen Schulen als Antwort auf Vorfälle,
Vandalismus oder schwierige Klassendynamiken angewandt. Die hartnäckige Präsenz
der Lehrpersonen signalisiere den Schülern, dass man sie ernst nimmt. Die
Methode versteht sich als gewaltloser Widerstand der Autoritäten bei
Fehlverhalten der Jungen. Wie so oft, wenn eine Botschaft aus der Ferne kommt
und mit schönen Worten verpackt wird, sieht man nicht genau hin. Die Präsenz
der Bezugsperson ist zweifellos bei Kindern und Jugendlichen wichtig.
Um die
Wirren der Pubertät zu überwinden, brauchen vor allem Jugendliche ein
Gegenüber, das sich mit ihnen respektvoll auseinandersetzt – Eltern und
Lehrpersonen, die sie im Auge behalten, bei Vorfällen reagieren und ihnen
helfen, einen Weg ins Leben zu finden. Voraussetzung ist, dass eine Beziehung
besteht, man eine gemeinsame Geschichte teilt und sich emotional verbunden
fühlt. Eine weitere Voraussetzung ist, dass beide Parteien die Möglichkeit
haben, etwas umzusetzen. Wenn ein Vater drei Stunden auf seinen Sohn einredet,
um ihn vom Kiffen abzubringen, dann beherzigt der Sohn das Anliegen des Vaters
eventuell, weil er sich mit ihm verbunden fühlt und selber Entscheidungen
treffen kann.
Schulklassen
fehlt diese Einheit der Persönlichkeit. Es handelt sich um «Chaoshaufen», die
auf dem Verordnungsweg zu Zwangsgemeinschaften zusammengestellt worden sind.
Die Schüler haben sich nicht gegenseitig ausgewählt wie in einer Clique und
wurden nicht aufgrund eines speziellen Persönlichkeitsprofils aufgenommen.
Menschen begegnen sich, die sich aufgrund ihres Temperaments, ihres sozialen
Hintergrunds oder ihrer Interessen sonst aus dem Weg gehen würden. Zwangsläufig
kommt es zu internen Spannungen, Machtkämpfen, und es bilden sich Untergruppen.
Wer Glück hat, findet einen Freund. Viele Schüler wähnen sich jedoch in ihrer
Klasse von Fremden umgeben.
Die
Beziehung zwischen Lehrpersonen und einer Klasse unterscheidet sich von einer
persönlichen Beziehung. «Chaoshaufen» entwickeln in Ausnahmefällen einen einheitlichen
Willen. Meistens fühlen sich die Schüler durch gewisse Mitschüler gestört. Sie
ärgern sich über einen Prahlhans, der alles besser weiss, über Nörgler, die
alles doof finden, oder Schwatztanten, die verbalen Schrott produzieren. Die
Einheit, die Erwachsene in der Schülergruppe sehen, besteht oft nur auf dem
Papier. Die Klasse solidarisiert sich vielleicht bei Abwehrreaktionen. Man
rauft sich zusammen, weil die Überraschungsprüfung als ungerecht empfunden wird
oder der Skitag abgesagt wurde. Lehrer brauchen sehr viel psychologisches
Geschick, um sich als Führungspersonen durchzusetzen.
Oft
entwickeln sich wertvolle Beziehungen zu einzelnen Schülern. Wer jedoch eine
ganze Klasse zum Beziehungs-Gegenüber erklärt, wird enttäuscht werden.
Bei den
Auftritten der Lehrpersonen vor der Klasse oder vor versammeltem Jahrgang
handelt es sich weniger um Beziehungsarbeit, sondern um eine
Machtdemonstration. Die Lehrpersonen reklamieren den Führungsanspruch und
zwingen dem Chaoshaufen ihren Willen auf. Die Klasse hat zu gehorchen, ob sie
einverstanden ist oder nicht.
Sit-ins
sind problematisch, weil sie etwas anderes vorgeben. Es handelt sich um eine
kollektive Strafe. Eher peinlich ist es, wenn man sich auf Gandhi oder
Beziehungsarbeit beruft. Gandhi hat gegen die britische Kolonialmacht
opponiert, war nicht Vertreter der Institution. Effektiv outet sich die Schule
als Machtinstrument des Staates. Die Ordnung muss hergestellt werden.
Ansehen dank
Time-out
Bei
Machtdemonstrationen drohen Gegenreaktionen. Oft melden sich die Opportunisten
zuerst. Sie mimen Zustimmung und übernehmen die Rhetorik der Mächtigen. Die
üblichen Schuldigen werden genannt: Ein Mitschüler, den alle nicht mögen, soll
sie zur Tat angestachelt haben. Andere Klassen halten dicht. Nicht aus Einsicht,
sondern weil sie sich durch dominante Mitschüler einschüchtern lassen.
Dann gibt
es Schüler, die inszenieren sich vor den Mitschülern als Rebellen, um beachtet
zu werden. «Fuck you!», entgegnete ein Schüler dem Schulleiter und zeigte ihm
den Mittelfinger. Ein Time-out war die Folge, sein Ansehen stieg. Schuldige
melden sich. Sie gestehen die Tat, obwohl sie nicht oder fast nicht beteiligt
gewesen sind. Es sind Kinder oder Jugendliche, die dazu neigen, sich schuldig
zu fühlen. «Wieso habe ich den Mitschüler nicht zum Geburtstag eingeladen?»,
werfen sie sich vor, während die wirklichen Täter sich bedeckt halten. Eltern
reagieren oft unwirsch auf Sit-ins. Sie hören vom Vorfall durch ihre Kinder und
glauben deren Versionen – natürlich sind diese unschuldig und ist die Strafe
überrissen. In Extremfällen suchen die Eltern nach einer Gelegenheit, um
zurückzuschiessen. Solche Nachwirkungen bleiben meist unter dem Radar der
Lehrpersonen, weil die erste Reaktion bei Machtdemonstrationen vorsichtiges
Abwarten ist.
Bei
Vorfällen muss die Lehrerschaft reagieren und auch repressive Massnahmen in
Erwägung ziehen. Präsenz ist vor allem während des normalen Unterrichts
wichtig. Man weiss, was die Schüler sorgt, wie es ihnen geht und welche
Interessen sie hegen. Um nach Vorfällen richtig zu reagieren, muss man mit der
internen Dynamik der Klasse vertraut sein: Welches sind die Anführer, die Nerds
oder Schwindler? Welche Schüler können auf die Mitschüler einen Einfluss
ausüben? Ein Sitzstreik der Lehrer mag ausnahmsweise angebracht sein, doch
handelt es sich um eine klassische Erpressung oder eine kollektive Bestrafung
der Schüler. Sich auf Gandhi zu berufen und die Massnahme als Beziehungsakt zu
definieren, ist unehrlich.
Allan
Guggenbühl ist Psychologe und Autor zahlreicher Bücher zum Thema Jugendgewalt
und Konfliktmanagement.
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