Selbstgesteuert
sollen die Schüler heute lernen. Die Lehrer sind nur noch Coaches. In Wahrheit
werden Hausaufgaben an die Eltern ausgelagert.
Mama wird's schon richten, Weltwoche, 5.1. von Daniela Niederberger
Ein Sechstklässler kam aus der Schule heim: «Mami,
muesch hälfe.» Er sollte auf einer gezeichneten Landkarte die Berge
anschreiben. Und hatte keine Ahnung, wie, die Mutter aber auch nicht. Sie
erzählt: «Ich musste nun herumrennen und schauen, wie das Zeug heisst. Auch war
auf der Zeichnung nicht klar, ob die Lehrerin jetzt den hinteren Hoger oder den vorderen meint.» Ihr Mann
erledigte es dann: «Er ist besser am Compi.» Ein anderes Mal sagte die Tochter,
sie müssten die Kontinente anschreiben. Sie hatte noch weitere Aufgaben – also
waren wieder die Eltern gefragt. «Die Idee, dass die Kinder selbständig lernen,
ist ja schon recht, aber es bedeutet, dass wir röifled», sagt die Mutter aus dem Thurgau.
«Selbstorganisiert»
An einer ersten Oberstufe wurde den
Dreizehnjährigen die Aufgabe nach Hause gegeben, auf einer Zeitachse je ein
wichtiges Ereignis pro Jahr einzutragen. Nur: Wo nachschauen, wie suchen?
Wieder andere Schüler sollten sich selber beibringen, wie man bei einem Dreieck
einen In- und einen Umkreis konstruiert. Mit einem Film von «Simple Maths» auf
Youtube. Das tönt dann so: «Die können nützlich sein oder verdammt schwer zu
bauen [Bild einer Pyramide], manche schmecken einfach nur geil [Fotos von Sandwiches].
Was? Dreiecke! Und was die alle gemeinsam haben? Alle haben einen Inkreis und
einen Umkreis.» Es geht rasant vorwärts mit Musik und flotten Sprüchen («Ihr
nehmt einen Zirkel, und den haut ihr an beiden Ecken rein»). Was das alles
soll? So geht Schule heute vielerorts. Die Kinder sollen «selbstgesteuert» oder
«selbstorganisiert» lernen, ein jedes nach seinen Fähigkeiten und in seinem
Tempo, weil die Schulklassen ja heterogener sind als früher. So weit die an
sich einleuchtende Theorie, die im Lehrplan 21 in mehr oder weniger ausgeprägter
Form Einzug hält und schon heute getestet wird. Zum Beispiel an der
Oberstufenschule Rietwies in Müllheim TG.
Hier gibt es Lernlandschaften, die Lehrer
heissen Coaches. In einem Grossraumbüro sitzen alle Schüler eines Jahrgangs,
vom Kleinklässler bis zum ehemaligen Sekundarschüler, «niveaudurchmischt». Die
Kinder haben individuelle Stundenpläne. Klassenlehrer gibt es zwar noch, aber
die «Klasse» hat kaum je gemeinsam Unterricht. Eine Mutter, die zwei Kinder an
der Schule hatte, erzählt: «Eine Schülerin hatte nicht eine Lektion bei ihrem
Klassenlehrer. Will der Lehrer wissen, wie sie in Mathe oder Deutsch ist, muss
er seine Kollegen fragen. Es entsteht keine Beziehung zu den Schülern.»
Und die Kinder? Sie nutzen die lange Leine. «Man
kann sich als Kind verstecken, und niemand nimmt das wahr», sagt die Mutter. «Der
Faule liess sich sausen.» Etwa ihr Sohn. Nach den Input-Lektionen durften jene,
die die Theorie begriffen hatten, zurück ins Büro, um selbständig zu arbeiten. Ihr
Sohn spickte vor allem Gümeli herum und hielt die anderen vom Arbeiten ab. «Er
ist ein Gescheiter und erledigte die Aufgaben im Hui daheim.» Seine Freunde
aber nicht. Auch in der Gruppe der Tochter wussten sich die Schüler zu helfen.
In der Mitte des Grossraumbüros War die «Insel». Darauf standen alle
Lösungsbücher. Die Mutter: «Der Beste war mit seinen Aufgaben fertig, ging zur
Insel, um sie zu korrigieren. Und fürderhin wanderte sein Heft vom einen zur
anderen. Alle schrieben alles ab. An den Prüfungen merkte meine Tochter dann: «Ui,
ich komme nicht draus.»
Mittlerweile ist die Familie umgezogen, der Sohn
besucht das Gymnasium, die Tochter eine normale Oberstufe, wo sie anfangs «sackschlecht»
war. Sie hat wieder richtige Hausaufgaben und muss selber lernen. «In einem halben
Jahr war alles aufgeholt, und heute gehört sie zu den Besten», sagt die
erleichterte Mutter. – In Niederhasli ZH gibt es eine ähnliche Schule, die
Oberstufenschule Seehalde. Es hat altersdurchmischte Lernhäuser, die Klasse
heisst «Homebase». Man lernt im Office mit Kabäuschen. Nicole Fuchs' Sohn
besuchte die «Seehalde». Anfänglich scheinbar mit Erfolg. Im «Infomentor»
können Eltern nachlesen, wie es um die Leistungen ihrer Sprösslinge steht. «Weiter
so!», las dort die Mutter. Es fiel ihr auf, dass der Sohn oft «geladen» nach
Hause kam. – «Die zeigen einem nichts!», klagte er. Jedes Kind hat ein iPad,
auf dem es mit Anleitungen die Lösungswege selber finden soll. «Es geht so viel
Zeit verloren mit Suchen», sagt Fuchs. «Zeit, die fürs Lernen fehlt.» Der
standardisierte Multichecktest fiel «jenseits» aus.
Bei vielen Eltern stieg der Unmut. Nicht Wenige
zahlten teure Nachhilfestunden, andere, auch Nicole Fuchs, schickten ihr Kind
in eine Privatschule. Die Eltern reichten Ende 2015 beim Volksschulamt
Beschwerde ein, die aber abgewiesen wurde. Der Beschwerde waren Elternbriefe beigelegt.
Fred Tanner beispielsweise schrieb: «Unser Sohn hat mehrere Stunden die
Geometrie-Aufgabe komplett falsch gelöst», und niemand merkte es. Bei einer
Aussprache war der Schuldige schnell gefunden: «Der Schüler hätte selbst am
Computer seinen Lösungsweg überprüfen müssen. Bei Geometrie. Soll er das Blatt
gegen den Computer halten?»
Ein ehemaliger Schüler schreibt: «Da wir nur 45
Minuten richtigen Unterricht in der Woche hatten, mussten wir den ganzen Stoff
in der Homebase uns selber beibringen.»› Vor allem aber spielten wir
Onlinespiele und chatteten››. Die Schule gilt als Vorzeigeschule: «Schulleiter von
überallher kamen, und wir mussten sie herumführen.»
Markus Haumüller schreibt, weil sein Sohn kaum
Französisch sprechen konnte, habe er um ein Gespräch mit dem Lerncoach und der
Lehrerin gebeten. Ja, da müsse der Junge sich selber an der Nase nehmen, hiess
es. Er könne ja im Selbststudium Französisch lernen und mit seinen Freunden
Französisch sprechen. «Sorry welches Kind spricht freiwillig französisch?», fragt
Haumüller.
Einfaches Telefongespräch geht nicht
Thomas Baer ist Lehrer an der Privatschule
Müller’s Students-Coaching. Er gibt vielen Kindern von Schulen mit
Selbstorganisiertem Lernen (SOL) aus der Umgebung Nachhilfeunterricht. Eine
seiner Schülerinnen macht eine Lehre im Reisebüro. «Nach drei Jahren
Sekundarschule an der ‹Seehalde› spricht sie kaum einen Satz Französisch. Ein
einfaches Telefongespräch geht nicht. Es erstaunt mich nicht.»
Es gebe keine Konversation. Die Schüler
bekämen vielleicht den Auftrag, ein Filmli mit einem vorbereiteten Dialog zu
drehen und es dem Lehrer zu schicken. Die Grammatikkenntnisse der Tochter seien
«haarsträubend», obwohl sie eine gute Schülerin sei. Den Kindern Youtube-Filme
auf den Computer laden, sie ihre Aufgaben selber korrigieren lassen, «das ist einfach.
Und das bei einem vollen Sekundarlehrerlohn», kritisiert Baer. Ein guter Lehrer
stelle sein Material sorgfältig zusammen, zeige den Schülern etwas, lasse sie
selber arbeiten und bespreche das Ganze wieder im Plenum. «Aber das ist heute
als Frontalunterricht verschrien.»
Ist der Lehrer vor der Klasse präsent, können
die Schüler sofort fragen. An den SOL-Schulen muss ein Schüler, der etwas nicht
versteht, mit dem Fachlehrer einen Termin abmachen. Doch der ist vielleicht
erst übermorgen im Haus.
«Wir hatten ein gutes Schulsystem. Das wird mutwillig
zerstört. Ganze Schülergenerationen werden verbraten», sagt Thomas Baer, der
die Beschwerde mit unterzeichnet hat. An der SOL-Schule Ruggenacher in
Regensdorf ZH hat sich zwischen 2011 und 2014 die Gymi-Quote halbiert. Und doch
fand die Fachstelle für Schulbewertung der Zürcher Bildungsdirektion 2012 lobende
Worte für die Schule. Die respektvolle Umgebung wurde erwähnt, die individuelle
Förderung und auch das eigenverantwortliche Lernen. Das ist nicht
verwunderlich. Der Kanton Zürich führt demnächst den Lehrplan 21 ein, in dem
all dies eine wichtige Rolle spielt.
Wohin die Selbststeuerung führen kann, zeigt
sich im Bundesland Baden-Württemberg, das bislang in Sachen Bildung einen
innerdeutschen Spitzenplatz belegte. Es ist weit abgerutscht, wie die neuste
Studie «Bildungstrend 2015» zeigt. Der Rückgang ist vor allem bei der Lesekompetenz
markant. Das Bundesland hat unter der Regierung der Grünen und der SPD grosse
Schulreformen durchgeführt. Es wurden Gemeinschaftsschulen errichtet, «Lernbegleiter»
kamen auf und das «selbstgesteuerte» Lernen, man schwärmte, «wie bereichernd Unterschiedlichkeit
sein kann». Aber das kennen wir ja.
Selbstgesteuert auf der PISA-Abwärtsspirale
AntwortenLöschenDer zentrale Punkt bei der Lehrplan 21-Reform ist die "Kompetenzorientierung" mit dem "selbstgesteuerten Lernen", bei dem der Klassenunterricht verunmöglicht und wo der qualifizierte Lehrer aus dem Lernprozess gedrängt wird. Beim "selbstgesteuerten Lernen" brauchen die alleine lernenden Schüler mehr als doppelt so viel Zeit wie beim bewährten Klassenunterricht, deshalb fällt beim Lehrplan 21 mehr als 50% des Stoffs "unter den Tisch" oder wird, wie das kleine 1x1 in nachfolgende "Zyklen" verschoben. Wissenserwerb und Auswendiglernen sind dann nicht mehr gefragt, die Schüler können ja "googeln". Westliche Länder, die wie Finnland auf die "Kompetenzorientierung" nach Weinert/OECD umgestellt haben, stürzen bei PISA seit Jahren ab. Mit dem selbstgesteuerten "Wochenplan" wird seit 1990 in immer mehr Schulhäusern mit unseren Kindern experimentiert, in der Folge befindet sich die Schweiz seit 2009 auf der PISA-Abwärtsspirale. Wollen wir mit der Kompetenzorientierung nach Weinert des Lehrplans 21 unser bewährtes Bildungswesen an die Wand fahren? Von 1200 Aargauer Primar- bis Mittelschullehrer lehnen rund 70% das "selbstgesteuerte Lernen" ab.