3. Dezember 2016

Pausenaufsicht abschaffen?

Besuch in einer Montessori-Schule in Berlin. Auf dem grossen Schulareal tummeln sich mehrere Hundert Schüler und Schülerinnen der Grund- und Oberstufe und Oberschule. Jüngere Kinder spielen Fang mich, andere Verstecken oder Ball­spiele; zwei Knaben raufen sich, Mädchen stehen schwatzend zusammen und ein paar Jungen üben sich in Kickboard; während auf dem Platz Fussball gespielt wird, chillen einzelne Schüler für sich allein. Doch wo ist die Pausenaufsicht? Die Schulleiterin lächelt mich fast mitleidig an: Die braucht es bei uns nicht! Die Schüler würden selber für Ordnung sorgen. Sie fordert mich auf, einen Schüler zu wählen, der mir alles erklärt. Ich entscheide mich für einen Jungen, der einen leicht arroganten Eindruck macht. Seine Führung und Erklärungen beeindrucken: Offensichtlich sind sie verantwortlich, reagieren bei Problemen und schlichten bei Streitigkeiten. Sie machen das ohne genaue Anweisungen, offizielle Friedensstifter oder detaillierte Vorgaben. Die Rolle der Lehrer beschränkt sich auf periodische Gespräche über das Geschehen auf dem Pausenplatz.
Pausenaufsicht abschaffen, Basler Zeitung, 2.12. von Allan Guggenbühl


In der Schweiz werden die Lehrpersonen angehalten, zu zweit Aufsicht zu halten. Sie sind dafür verantwortlich, dass die Pausenplatzregeln eingehalten werden: Man verhält sich fair, respektiert die Stoppregel, löst Konflikte ohne Gewalt, verzichtet auf Kaugummi und Schleckwaren, trägt Spielmaterial Sorge, spielt Fussball auf dem eingezäunten Feld, kommentiert das Spiel nicht als Zuschauer, klettert nicht auf Bäume, steigt die Rutschbahn nicht vorne hinauf, wirft nicht mit Kies, inszeniert keine Wasserschlacht etc. Die Lehrpersonen haben die Pflicht einzugreifen, wenn es einen Regelverstoss gibt. Sie sollen sich am Interventionskonzept orientieren, welches das EDK aufgestellt hat.
Die Schüler nehmen die Aufsicht sehr wohl wahr: Zwei Lehrpersonen, die meistens in ein Gespräch vertieft sind und sich irgendwo ­aufhalten. Die freien Zonen kennt man: Hinter dem Schulhaus ist man vor ihnen sicher und natürlich teilt man ihnen nicht alles mit, was vorgeht. Die Aufsicht trägt jedoch die Verantwortung über das Geschehen.
Aus psychologischer Sicht droht bei diesem Setting die Infantilisierung der Schüler. Sie ­werden auf ihre Abhängigkeit fixiert und dürfen sich von der Verantwortung für das Geschehen um sich herum absentieren. Die Präsenz der Erwachsenen erschwert, dass sich unter der Schülerschaft eine eigenständige Struktur entwickelt und sie sich zuständig fühlt.

In Schulen gibt es drei Kategorien von Vorschriften. Die fixen Regeln, die die Lehrerschaft festlegt: Gewalt, Drogen und Diebstahl werden nicht geduldet. Sie werden von der überwiegenden Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen akzeptiert. Dann gibt es die verhandelbaren Regeln, die von Lehrpersonen mit der Schülerschaft ausgehandelt werden und schliesslich die Regeln, die Schüler selber entwickeln und durchsetzen. Damit dies möglich ist braucht es Freiräume, Vertrauen und Grundsatzdiskussionen über das Zusammenleben. Die Mehrzahl teilt die Werte der erwachsenen Bezugspersonen. Sie will sie jedoch so umsetzen, wie es ihr entspricht. Verantwortung übernimmt sie, wenn sie ihr gegeben wird. Unterschätzen wir die Fähigkeit der Kinder und Jugendlichen zur Selbstorganisation? Statt sie durch Dutzende Regeln zu steuern, mit dem Versicherungsargument ihre Selbstständigkeit zu rauben, könnte man sie miteinbeziehen und ihnen Bereiche überlassen, in denen sie die Verantwortung tragen. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass vor allem Jugendliche sich vermehrt mit ihrer Schule identifizieren und dank dieser Aufgabe reifer werden.


Allan Guggenbühl ist Psychologe und Autor des Buches ­«Vergessene Klugheit – Wie Normen uns am Denken ­hindern».

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