Besuch in einer Montessori-Schule in Berlin.
Auf dem grossen Schulareal tummeln sich mehrere Hundert Schüler und
Schülerinnen der Grund- und Oberstufe und Oberschule. Jüngere Kinder spielen
Fang mich, andere Verstecken oder Ballspiele; zwei Knaben raufen sich, Mädchen
stehen schwatzend zusammen und ein paar Jungen üben sich in Kickboard; während
auf dem Platz Fussball gespielt wird, chillen einzelne Schüler für sich allein.
Doch wo ist die Pausenaufsicht? Die Schulleiterin lächelt mich fast mitleidig
an: Die braucht es bei uns nicht! Die Schüler würden selber für Ordnung sorgen.
Sie fordert mich auf, einen Schüler zu wählen, der mir alles erklärt. Ich
entscheide mich für einen Jungen, der einen leicht arroganten Eindruck macht.
Seine Führung und Erklärungen beeindrucken: Offensichtlich sind sie
verantwortlich, reagieren bei Problemen und schlichten bei Streitigkeiten. Sie
machen das ohne genaue Anweisungen, offizielle Friedensstifter oder
detaillierte Vorgaben. Die Rolle der Lehrer beschränkt sich auf periodische
Gespräche über das Geschehen auf dem Pausenplatz.
Pausenaufsicht abschaffen, Basler Zeitung, 2.12. von Allan Guggenbühl
In der Schweiz werden die Lehrpersonen angehalten, zu zweit
Aufsicht zu halten. Sie sind dafür verantwortlich, dass die Pausenplatzregeln
eingehalten werden: Man verhält sich fair, respektiert die Stoppregel, löst
Konflikte ohne Gewalt, verzichtet auf Kaugummi und Schleckwaren, trägt
Spielmaterial Sorge, spielt Fussball auf dem eingezäunten Feld, kommentiert das
Spiel nicht als Zuschauer, klettert nicht auf Bäume, steigt die Rutschbahn
nicht vorne hinauf, wirft nicht mit Kies, inszeniert keine Wasserschlacht etc.
Die Lehrpersonen haben die Pflicht einzugreifen, wenn es einen Regelverstoss
gibt. Sie sollen sich am Interventionskonzept orientieren, welches das EDK
aufgestellt hat.
Die Schüler nehmen die Aufsicht sehr wohl wahr: Zwei Lehrpersonen,
die meistens in ein Gespräch vertieft sind und sich irgendwo aufhalten. Die
freien Zonen kennt man: Hinter dem Schulhaus ist man vor ihnen sicher und
natürlich teilt man ihnen nicht alles mit, was vorgeht. Die Aufsicht trägt
jedoch die Verantwortung über das Geschehen.
Aus psychologischer Sicht droht bei diesem Setting die
Infantilisierung der Schüler. Sie werden auf ihre Abhängigkeit fixiert und
dürfen sich von der Verantwortung für das Geschehen um sich herum absentieren.
Die Präsenz der Erwachsenen erschwert, dass sich unter der Schülerschaft eine
eigenständige Struktur entwickelt und sie sich zuständig fühlt.
In Schulen gibt es drei Kategorien von Vorschriften. Die fixen
Regeln, die die Lehrerschaft festlegt: Gewalt, Drogen und Diebstahl werden
nicht geduldet. Sie werden von der überwiegenden Mehrzahl der Kinder und
Jugendlichen akzeptiert. Dann gibt es die verhandelbaren Regeln, die von
Lehrpersonen mit der Schülerschaft ausgehandelt werden und schliesslich die
Regeln, die Schüler selber entwickeln und durchsetzen. Damit dies möglich ist
braucht es Freiräume, Vertrauen und Grundsatzdiskussionen über das
Zusammenleben. Die Mehrzahl teilt die Werte der erwachsenen Bezugspersonen. Sie
will sie jedoch so umsetzen, wie es ihr entspricht. Verantwortung übernimmt
sie, wenn sie ihr gegeben wird. Unterschätzen wir die Fähigkeit der Kinder und
Jugendlichen zur Selbstorganisation? Statt sie durch Dutzende Regeln zu
steuern, mit dem Versicherungsargument ihre Selbstständigkeit zu rauben, könnte
man sie miteinbeziehen und ihnen Bereiche überlassen, in denen sie die
Verantwortung tragen. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass vor allem
Jugendliche sich vermehrt mit ihrer Schule identifizieren und dank dieser
Aufgabe reifer werden.
Allan Guggenbühl ist Psychologe und Autor des Buches «Vergessene
Klugheit – Wie Normen uns am Denken hindern».
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