3. Dezember 2016

Pädagogik der Menschlichkeit statt der Verwendbarkeit

Eusebio kämpft seit Jahren gegen die Einführung des Lehrplanes 21, zusammen mit einem Team aktiver Gleichgesinnter. Es herrscht Einmütigkeit, der laufende Zustrom weiterer Engagierter sorgt für gute Stimmung – dann kam die kalte Dusche aus den Kantonen Thurgau und Schaffhausen nach den dort massiv verlorenen Abstimmungen gegen den LP21.
Das Volk hat immer Recht! Wirklich?  Medien-Panoptikum, 3.12. von Eusebio (Vorveröffentlichung)


Man sollte inzwischen eigentlich gemerkt haben, meint Eusebio, dass der LP21 die schlimmste Schulreform aller Zeiten einläutet. 2300 Kompetenzstufen, welche Können statt Wissen vortäuschen, die klassischen Bildungsziele über Bord werfen und trotzdem weiterhin Lesen Schreiben Rechnen und weitere Grundfähigkeiten abbauen, seit Jahrzehnten herangewachsene Fächerstrukturen durch zeitgeistlich geprägte unscharfe Themenbereiche ersetzen, angefüllt mit emotional und gefühlsmässig aufgeladenen Kompetenzen, dazu angetan, ideologischen Einfluss auf die Haltung der Heranwachsenden auszuüben, die Klassengemeinschaft mitsamt ihrem Lehrer aufzulösen und in der Einsamkeit selbstgestalteter Lernumgebungen veröden zu lassen – dies und weitere Fragwürdigkeiten allein nur deshalb, um die angeblich komplexen Probleme unserer künftigen Gesellschaft bewältigen zu können. Von Harmonisierung ist schon lange kaum mehr die Rede.

Eusebio ist mit dieser Kritik nicht allein. Persönlichkeiten wie Hans Zbinden, Rudolf Künzli, Remo Largo, Konrad Paul Liessmann, Urs Kalberer, Regula Stämpfli, Andreas Büchi, Rolf Dubs, Benedikt Weibel, Mathias Binswanger, Walter Herzog, Roland Reichenbach, Beat Kappeler, René Donzé, Alain Pichard und viele mehr sehen es ähnlich. Dahinter stehen nicht nur pädagogische und staatsmännische Gesichtspunkte; gesunder Menschenverstand reicht aus nach einem Blick in das Monsterwerk. Man fragt sich dann zum Beispiel, weshalb Schülerinnen und Schüler bloss die Bedeutung von Rechtschreiberegeln reflektieren müssen, anstatt dieselben richtig anzuwenden. Aber solches sei für die Lösung künftiger Gesellschaftsprobleme nicht mehr nötig, man habe ja Korrekturprogramme ...

Damit wird auf einen der häufigsten und gleichzeitig doofsten Einwände der Lehrplanturbos gegen Kritik verwiesen: Die Pädagogik aus dem letzten Jahrhundert habe völlig ausgedient, weil unfähig, die komplexen Probleme der künftigen Gesellschaft zu lösen. Dabei wird bewusst ein falsches Bild dieser angeblich verstaubten Paukerschulen gezeichnet, bestehend aus stupidem Auswendiglernen von Hauptstädten und langweiligen Monologen im Frontalunterricht. Die Verunglimpfung und Lächerlichmachung der Vergangenheit schlechthin wird im gleichen Atemzug auf die Menschen übertragen, welche dafür einstehen, und nehmen bisweilen beinahe paranoide Züge an: sie seien konservativ, rückständig, rückwärtsgewandt und verschwörungstheoretisch infiziert.

Diese Dialektik ist nicht neu. Sie fand schon immer Anwendung bei revolutionären Umwälzungen, um Gegner der Besonnenheit mundtot zu machen. Der Lehrplan 21 kann durchaus als revolutionär bezeichnet werden; die EDK kündigte ihn zu Beginn auch so an. Heute bemüht sie sich um Schadensbegrenzung und verniedlicht das Werk zum harmlosen Kompass, der sowieso nicht gelesen werde.

Neu hingegen ist die unheilvolle Tendenz breiter Kreise, diese Taktik kritiklos zu übernehmen und mitzuschreien im Umzug der zeitgeistbewegten Erneuerer, welche damit dem Globalisierungs- und Digitalisierungsgespenst glauben begegnen zu müssen. Sie verkennen die Tatsache, dass unser weltweit anerkannt gutes Bildungsmodell mitverantwortlich ist für fast alles, was die Schweiz heute ausmacht: Die einmalige Kombination von Wohlstand und Sicherheit in Freiheit! Eine über weite Strecken unstrukturierte Ansammlung kleinkarierter und zeitgeistlich geprägter Kompetenzen wird das Erbe unserer Volksschulen aus dem letzten Jahrhundert nicht halten können, weil sie das bisherige Erfolgsrezept über Bord wirft: Die Vermittlung von Bildung! Kompetenzen sind sicher angebracht in der Berufsausbildung, auch in der späteren beruflichen und persönlichen Ausprägung; die Grundlage für das Verstehen dieser Welt muss jedoch schon in der Volksschule altersgerecht vermittelt werden. Bildung verhilft zu jener flexiblen Überlegenheit, welche Voraussetzung ist für unsere KMU-basierte Wirtschaft mit ihren zahlreichen Berufsolympiade-Medaillen, für die führenden Ränge unserer Forschungs- und Entwicklungsanstalten wie auch für das Funktionieren unserer direktdemokratischen Milizgesellschaft.

“Zukunft braucht Herkunft” sollte eigentlich jedem denkenden Menschen geläufig sein; das Zitat ist jedoch den Lehrplanturbos vermutlich schon deshalb suspekt, weil seine Wurzeln in der Antike liegen. Dieselbe Grundhaltung mag bei der Streichung des Faches Geschichte mitgespielt haben. Sie ignoriert die Tatsache, dass nicht jede menschliche Entwicklung kurzfristigen Veränderungen unterliegt. Dazu zählt mit Bestimmtheit der Prozess des Lernens, Reifens und Heranwachsens: ein erbbiologisch gesteuerter Vorgang mit evolutionärem Ablaufdatum, der nicht plötzlich von einem technologischen Durchbruch wie der Digitalisierung weggewischt wird. Pestalozzi hat diesen Vorgang, fokussiert auf Bildung und Erziehung, in die Formel “Kopf, Herz und Hand” gepackt – heute noch genauso aktuell wie vor 200 Jahren. Er hat auch Eingang gefunden im gesetzlichen Auftrag an die aargauischen Schulen. Der aargauische alt-Oberrichter Rudolf Weber schreibt dazu in einem Essay:

Pestalozzi versteht Bildung als Menschen-, Persönlichkeits- oder auch sittliche Bildung. Es geht dabei um die Bildung des ganzen Menschen, um eine Pädagogik, welche nicht seine Verwendbarkeit, sondern seine Menschlichkeit ins Zentrum stellt. In diesem Sinne erfüllt die Schule eine doppelte Aufgabe: Einerseits hat sie die Kinder zum gesellschaftlichen Leben zu befähigen, anderseits ihre Anlagen und Kräfte so zur Entfaltung zu bringen, dass sie zu einer sittlichen Lebensgestaltung finden können. Menschenbildung soll bei den Kindern echtes moralisches Verhalten entwickeln. Mit der Dreiteilung der Bildung von Kopf, Herz und Hand bringt Pestalozzi seine Auffassungen von Pädagogik auf den Punkt: Die Schule soll die heranwachsende Generation auf die vor ihr liegenden Anforderungen so vorbereiten, dass sie ihnen nicht nur hinsichtlich ihrer praktischen („Hand“) und intellektuellen („Kopf“) Fähigkeiten, sondern auch und in erster Linie als Mitmenschen und verantwortliche Mitgestalter des Zusammenlebens („Herz“) gewachsen sind. Es genügt dabei nicht, die Schüler zu unterrichten; vielmehr müssen sie erzogen werden, damit sie ihr eigenes Leben im Sinne wahrer Bildung fruchtbar gestalten können.

Diesen Grundsatz, der ansatzweise seit dem ersten Schulgesetz von 1835 gilt, vermag der Lehrplan 21 mit seinen Kompetenzlein nicht mehr zu erfüllen – zum Nachteil von Volk, Staat und Wirtschaft. Am härtesten trifft es wohl die Schwächsten, welche bis vor kurzem in der Realschule einen auf sie zugeschnittenen Unterricht (“weniger Kopf, mehr Herz und Hand) gefunden hatten. Ausgerechnet jene politische Seite, die sich stets für Chancengleichheit stark macht, steckt diesbezüglich beim LP21 den Kopf in den Sand.

Das wirklich schlimme an dieser Entwicklung jedoch ist die Tatsache, dass große Teile unserer Stimmberechtigten den LP21 weder kennen noch hinterfragen, ja, sich von geschürten Zukunftsängsten verunsichern lassen und naiv glauben, mit “modernen Methoden und zeitgeistlichen Inhalten, die nur aus Können bestehen, die digitale Zukunft 4.0 bewältigen zu können.” Dabei muss alles neu und anders sein: Lehrplan, Methoden, Lehrerbildung, Controlling (Monitoring), Lehrmittel ... alles unter Ausklammerung jedweder pädagogischen Erfahrung auf die Heranzüchtung eines ökonomisch effizienten Kunden ausgerichtet ... nur das Kind bleibt, was es ist und mit ihm die Konstanten von Bildung und Erziehung seit Pestalozzi.

Eusebio glaubt einen Zusammenhang zu verspüren zwischen der heutigen, infolge Digitalisierung & Co verunsicherten Gesellschaft und der blinden, aber törichten Hinwendung zu unerprobten, kompetenz- und zeitgeistorientierten Schulreformen als Heilsbringer. Es hat weniger mit Wertewandel als mit Werteverlust zu tun und reicht bis hinauf zu einzelnen Bildungsdirektoren, welche nicht mehr genau wissen, was Bildung eigentlich ist.


Halten wir dagegen und mobilisieren unseren ganzen Freundes- und Bekanntenkreis für die noch kommenden Volksabstimmungen. Im Aargau heisst dies ein Ja zur Bildungsinitiative am 12. Februar.

1 Kommentar:

  1. Wohin die Pädagogik der Verwendbarkeit führen kann, zeigt folgendes schockierendes Beispiel:

    Auf die Abschaffung der Wehrpflicht in Deutschland von 2011 folgt nun die Köderung von jungen Schulabbrechern zur „Freiwilligen“-Armee. Gibt das nicht Verhältnisse wie in den USA?
    Wenn man das Bildungswesen mit der „Kompetenzorientierung“ herunterfährt, hat man nachher genügend „freiwillige“ Schulabbrecher, die sich als Zeitsoldaten verpflichten, um in der Armee den Abschluss nachzuholen, weil sie sonst nirgends unterkommen. Die Fremdsprachen können dann in Auslandeinsätzen vor Ort nachgeholt werden (!).
    Die Umstellung des bewährten Bildungssystems auf „Kompetenzorientierung“ (nach Weinert/OECD, wie sie auch im Lehrplan 21 vorgesehen ist) im Jahre 2005 fällt nach 10 Jahren für einige Bundesländer in Deutschland vernichtend aus. Das bisherige «Musterländle» Baden-Württemberg stürzte 2015 mit der Fratton-«Gemeinschaftsschule» völlig ab.

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