Deutschlands Schulen werden seit 15 Jahren immer häufiger in Ganztagsschulen umgewandelt. Grund für diesen
Umbau waren die internationalen Leistungsvergleiche Timss 1997 und Pisa 2000.
Obwohl die Ganztagsschul-Forschung der vorausgegangenen Jahrzehnte keine Leistungsverbesserung
bei den Schülern festgestellt hatte, legte die rot-grüne Bundesregierung 2002
das „Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) auf - mit dem
Ziel einer deutschlandweiten Einführung von Ganztagsschulen. Als Vorbilder wurden
die Schulsysteme in Skandinavien genannt, deren Schüler bei Pisa damals noch
besonders gut abgeschnitten hatten. Allerdings hatte man übersehen: In Finnland
endete der Schulunterricht um 13 Uhr, in Schweden zwischen 13.30 und 14.30 Uhr,
inklusive Mittagspause. Ein „Mehr“ an Unterrichtszeit war das nicht.
Gleichwohl initiierte die Schröder-Regierung 2003 mit vier Milliarden
Euro aus Bundesmitteln den Umbau Tausender Schulen in Ganztagsschulen. Auch die
unionsregierten Bundesländer nahmen die Finanzspritze gern mit. 2014 gab es in
Deutschland schließlich unter den 42.000 Schulen über 16.000 mit
Ganztagsbetrieb; 18 Prozent aller Schüler lernen in gebundenen, 20 Prozent in
offenen Ganztagsschulen.
Mogelpackung Ganztagsschule, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.12. von Bettina Wiesmann
Was hat es gebracht? Was die Pisa-Leistungsvergleiche angeht, zu wenig.
Das belegen alle Studien, die es bislang dazu gibt, etwa die bundesweite Studie
zur Entwicklung von Ganztagsschulen „StEG“: „Für Jugendliche aus niedrigeren
sozialen Schichten oder mit Migrationshintergrund lässt sich über vier Jahre
hinweg kein Effekt der reinen Ganztagsschulteilnahme auf ihre Schulleistungen
nachweisen.“ Auch mussten die Forscher, die zugleich als Didaktiker auftreten,
feststellen, dass sich trotz zusätzlicher Leseangebote an Ganztagsschulen die
Lesekompetenzen von Grundschülern nicht verbesserten. Deshalb verwundert es
nicht, dass Lehrer und Schüler jüngst in einer Studie des Deutschen
Jugend-Instituts in dieser Frage keinen Vorteil der verpflichtenden gegenüber
der freiwilligen Ganztagsschule sehen konnten.
Eltern wollen ein flächendeckendes, aber freiwilliges Ganztagsangebot
Eltern wünschen sich eine bessere Vereinbarkeit von Familie und
Erwerbstätigkeit und für ihre Kinder über den regulären Schulunterricht hinaus
Vertiefungsübungen, Hausaufgabenbetreuung sowie sportliche und kreative
Förderung. Und laut einer Studie der Zeitschrift „Eltern“ aus dem Jahr 2013
wollen 87 Prozent aller Eltern ein flächendeckendes, aber freiwilliges
Nachmittagsangebot, aber nur 34 Prozent eine verpflichtende Ganztagsteilnahme
ihrer Kinder. Ein repräsentatives Detail: Nur 10 Prozent der hessischen
Ganztagsschüler besuchen das vorgehaltene Nachmittagsprogramm an fünf Tagen in
der Woche. Selbst in den gebundenen Ganztagsschulen nehmen weniger als zwei
Fünftel der Schüler jeden Tag am Ganztagsbetrieb teil. Soweit die hessische
Ganztagsschulstudie unter Ludwig Stecher von der Universität Gießen. Das heißt, der Bedarf ist
eigentlich gedeckt. Kinder und Jugendliche bestätigen dies immer wieder: Ihr
größter Wunsch ist mehr Zeit für Familie und Freunde. Auch empfindet nach einer
Umfrage des Kinderbarometers 2013 der Landesbausparkassen (LBS) die Hälfte
aller Kinder die Zeit, die sie in der Schule verbringen müssen, als zu lang.
Trotzdem legen die Ganztagsschulverfechter noch eins drauf. Nur die für
alle Kinder einer Schule verpflichtende „gebundene“ Form gilt ihnen neuerdings
als echte Ganztagsschule. Damit meinen sie ein Programm, das Lernen, soziales
Leben und Freizeit in ein gruppenorientiertes Korsett - die Schule - spannt.
Dafür sollen die Schulabläufe auf „Rhythmisierung“ umgestellt werden. Der
wohlklingende Begriff soll glauben machen, dass sich intensive Lernzeiten,
ergänzende Förderstunden und Entspannungsphasen naturgemäß unter einen Hut
bringen lassen. Doch wird dabei übersehen, dass eine „Schule als Lebensraum“
sowohl zur Entschulung von Schule als auch zu einer Verschulung von Freizeit
führt, indem sie die Grenzen zwischen schulischer und elterlicher Prägung
verschiebt und auf die selbstbestimmte Freizeit und Privatheit der Kinder einen
Anspruch erhebt.
Schon jetzt verbringen Eltern durchschnittlich nur noch 28 Minuten am
Tag mit Zuwendung und Betreuung ihrer Schulkinder, stellte kürzlich das
Statistische Bundesamt fest. Nein, Schule darf nicht zur Ersatzlebenswelt für
die Kinder werden, denn sie vermag nur in besonderen Fällen vergleichbar viel
oder mehr als das zu leisten, was elterliche Zuwendung und Erziehung und
selbstbestimmtes Entdecken außerhalb jeglicher Institution bieten können.
Tatsächlich brauchen Kinder eine ausgewogene Balance zwischen schulischem
Bildungsbeitrag, elterlicher Erziehung und persönlicher (Frei)Zeitgestaltung.
Ganztagsschulverfechter haben Idealkinder im Kopf
Was angesichts des gesellschaftlichen Wandels und des Funktionsverlustes
mancher Familien heute mehr als früher vonnöten ist, sind
Hausaufgabenbetreuung, mehr Bewegung und psychosoziale Hilfe. Vor allem für
sozialpädagogische und psychologische Unterstützung müssen mehr Mittel und mehr
Personal eingesetzt werden. Daraus einen verpflichtenden Ganztag für alle
abzuleiten, ist abwegig, zumal durch das ganztägige Zusammensein der Schüler
zusätzliche Konflikte entstehen. Es sind nämlich nicht alle Kinder gleich gut
aufgehoben in ihrem schulischen Umfeld.
Im Widerspruch zu ihren Reden zugunsten Benachteiligter haben die
Ganztagsschulverfechter ein Idealkind im Kopf, das beim Lernen Erfolg hat, sich
in seiner Klasse wohlfühlt, leicht Anschluss findet, nie gehänselt wird und in
der Schule keine sozialen Schwierigkeiten hat. Doch es gibt Kinder, für die
ihre Klasse eine Qual ist, und die an einem Teil des Tages ein anderes Umfeld
brauchen, entweder in der Familie, wo die meisten aufgenommen und aufgehoben
sind, oder in anderen Umgebungen, die ihnen eine andere Rolle, eine andere
Verortung ermöglichen - auch für ihr Selbstbewusstsein. Deshalb müssen wir
behutsam sein, Kindern soziale Umgebungen für zu lange Zeiträume am Tag
vorzugeben.
Vor allem aber, wo soll die Zeit für ein individuelles Förderprogramm,
für die Rhythmen entspannten Lernens herkommen, wenn man sie nicht beim
ureigenen Geschäft der Schule wegnimmt, dem Regelunterricht? Eine einfache
Rechnung zeigt, Mittagessen, Hausaufgaben und sportlich-kulturelle
Freizeitaktivitäten brauchen jeden Tag mindestens drei Stunden. Damit ist das
Extra-Zeitbudget der Kinder im „Ganztag“ bereits verbraucht. Woher soll nun die
zusätzliche Zeit für die Förder-, Spezialisierungs- und ergänzenden Lernphasen
kommen? Es bleibt nur die Zeit des klassischen Kernunterrichts: weniger
Lerninhalte, weniger Fachunterricht. Kinder haben in der durchorganisierten
„echten“ Ganztagsschule am Ende weniger Unterricht und weniger Freizeit als
zuvor in der Halbtags- oder Zweidrittelschule.
Die Arbeit in heterogenen Lerngruppen braucht Zeit
Einen ähnlichen Preis zahlen Schulkinder von Integrierten Gesamtschulen.
Diese wurden seit den siebziger Jahren als Lösung für alle möglichen
Schulprobleme angesehen und mit erheblicher Privilegierung bei der personellen
und materiellen Ausstattung aufgebaut. Längeres gemeinsames Lernen führt
offenbar nicht ohne weiteres zu größerem oder schnellerem Lernfortschritt, wie
die schulformvergleichenden Pisa-Auswertungen zeigen. Tatsächlich rangieren
Integrierte Gesamtschulen in den Pisa-Vergleichen weit hinter Gymnasien und
Realschulen sowie knapp vor den Hauptschulen, die wesentlich kompliziertere
Schülerstrukturen aufweisen. Denn die Arbeit in heterogenen Lerngruppen
erfordert schlicht mehr Zeit. Folgerichtig verlegten Gesamtschulen einen Teil
des Unterrichts auf den Nachmittag. Schon 2009 waren bereits 85 Prozent aller
Integrierten Gesamtschulen zugleich Ganztagsschulen. Die Chancenungleichheit,
die mangelnde oder nicht erfolgreiche individuelle Förderung der
benachteiligten Schüler bestehen trotzdem fort. So wie die Integrierte
Gesamtschule vielen Schülern Lernzeiten und Freizeit wegnimmt, so raubt auch
die gebundene Ganztagsschule den Kindern Zeit, die sie für sich selbst
brauchen.
Für einen aufwendigen Umbau unserer Schulen hin zum verbindlichen
Ganztag gibt es keine überzeugenden Argumente. Der tatsächlichen, oft
überschätzten Nachfrage von Eltern und Kindern nach Betreuung und Unterstützung
kann die Schule nur gerecht werden, indem sie mehr Angebote am Nachmittag mit
mehr Freiraum für die einzelnen Schüler und Wahlmöglichkeiten je nach
persönlicher Veranlagung, Neigung und Situation verbindet. Ein Modell ist etwa
der „Pakt für den Nachmittag“ in Hessen, bei dem sich Schule und Gemeinde -
ähnlich wie in Schweden - um die Nachmittagsversorgung der Grundschüler
kümmern. Halbtagsschulen, offene Ganztagsschulen mit modularen Übungs- und
Entspannungsangeboten und auch gebundene Ganztagsschulen - alle Formen mag es
geben, aber keine ausschließlich. Es ist unangebracht, wenn Fachleute und
Politiker gebetsmühlenartig versuchen, den scheinbar neuen Schultyp der
gebundenen, „echten“ Ganztagsschule zum Allheilmittel für alle Bildungsprobleme
zu erklären, und dafür Millionen in die Hand nehmen, die an anderer Stelle
einer begabungsgerechten Schulpolitik fehlen.
Die Autorin ist
Mitglied des Hessischen Landtags, Sprecherin für Familienpolitik und Obfrau in
der Enquetekomission „Kein Kind zurücklassen“.
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