4. Dezember 2016

Ganztagesschulen - kein Effekt auf Leistungen

Deutschlands Schulen werden seit 15 Jahren immer häufiger in Ganztagsschulen umgewandelt. Grund für diesen Umbau waren die internationalen Leistungsvergleiche Timss 1997 und Pisa 2000. Obwohl die Ganztagsschul-Forschung der vorausgegangenen Jahrzehnte keine Leistungsverbesserung bei den Schülern festgestellt hatte, legte die rot-grüne Bundesregierung 2002 das „Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) auf - mit dem Ziel einer deutschlandweiten Einführung von Ganztagsschulen. Als Vorbilder wurden die Schulsysteme in Skandinavien genannt, deren Schüler bei Pisa damals noch besonders gut abgeschnitten hatten. Allerdings hatte man übersehen: In Finnland endete der Schulunterricht um 13 Uhr, in Schweden zwischen 13.30 und 14.30 Uhr, inklusive Mittagspause. Ein „Mehr“ an Unterrichtszeit war das nicht.
Gleichwohl initiierte die Schröder-Regierung 2003 mit vier Milliarden Euro aus Bundesmitteln den Umbau Tausender Schulen in Ganztagsschulen. Auch die unionsregierten Bundesländer nahmen die Finanzspritze gern mit. 2014 gab es in Deutschland schließlich unter den 42.000 Schulen über 16.000 mit Ganztagsbetrieb; 18 Prozent aller Schüler lernen in gebundenen, 20 Prozent in offenen Ganztagsschulen.
Mogelpackung Ganztagsschule, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.12. von Bettina Wiesmann


Was hat es gebracht? Was die Pisa-Leistungsvergleiche angeht, zu wenig. Das belegen alle Studien, die es bislang dazu gibt, etwa die bundesweite Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen „StEG“: „Für Jugendliche aus niedrigeren sozialen Schichten oder mit Migrationshintergrund lässt sich über vier Jahre hinweg kein Effekt der reinen Ganztagsschulteilnahme auf ihre Schulleistungen nachweisen.“ Auch mussten die Forscher, die zugleich als Didaktiker auftreten, feststellen, dass sich trotz zusätzlicher Leseangebote an Ganztagsschulen die Lesekompetenzen von Grundschülern nicht verbesserten. Deshalb verwundert es nicht, dass Lehrer und Schüler jüngst in einer Studie des Deutschen Jugend-Instituts in dieser Frage keinen Vorteil der verpflichtenden gegenüber der freiwilligen Ganztagsschule sehen konnten.
Eltern wollen ein flächendeckendes, aber freiwilliges Ganztagsangebot
Eltern wünschen sich eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit und für ihre Kinder über den regulären Schulunterricht hinaus Vertiefungsübungen, Hausaufgabenbetreuung sowie sportliche und kreative Förderung. Und laut einer Studie der Zeitschrift „Eltern“ aus dem Jahr 2013 wollen 87 Prozent aller Eltern ein flächendeckendes, aber freiwilliges Nachmittagsangebot, aber nur 34 Prozent eine verpflichtende Ganztagsteilnahme ihrer Kinder. Ein repräsentatives Detail: Nur 10 Prozent der hessischen Ganztagsschüler besuchen das vorgehaltene Nachmittagsprogramm an fünf Tagen in der Woche. Selbst in den gebundenen Ganztagsschulen nehmen weniger als zwei Fünftel der Schüler jeden Tag am Ganztagsbetrieb teil. Soweit die hessische Ganztagsschulstudie unter Ludwig Stecher von der Universität Gießen. Das heißt, der Bedarf ist eigentlich gedeckt. Kinder und Jugendliche bestätigen dies immer wieder: Ihr größter Wunsch ist mehr Zeit für Familie und Freunde. Auch empfindet nach einer Umfrage des Kinderbarometers 2013 der Landesbausparkassen (LBS) die Hälfte aller Kinder die Zeit, die sie in der Schule verbringen müssen, als zu lang.
Trotzdem legen die Ganztagsschulverfechter noch eins drauf. Nur die für alle Kinder einer Schule verpflichtende „gebundene“ Form gilt ihnen neuerdings als echte Ganztagsschule. Damit meinen sie ein Programm, das Lernen, soziales Leben und Freizeit in ein gruppenorientiertes Korsett - die Schule - spannt. Dafür sollen die Schulabläufe auf „Rhythmisierung“ umgestellt werden. Der wohlklingende Begriff soll glauben machen, dass sich intensive Lernzeiten, ergänzende Förderstunden und Entspannungsphasen naturgemäß unter einen Hut bringen lassen. Doch wird dabei übersehen, dass eine „Schule als Lebensraum“ sowohl zur Entschulung von Schule als auch zu einer Verschulung von Freizeit führt, indem sie die Grenzen zwischen schulischer und elterlicher Prägung verschiebt und auf die selbstbestimmte Freizeit und Privatheit der Kinder einen Anspruch erhebt.
Schon jetzt verbringen Eltern durchschnittlich nur noch 28 Minuten am Tag mit Zuwendung und Betreuung ihrer Schulkinder, stellte kürzlich das Statistische Bundesamt fest. Nein, Schule darf nicht zur Ersatzlebenswelt für die Kinder werden, denn sie vermag nur in besonderen Fällen vergleichbar viel oder mehr als das zu leisten, was elterliche Zuwendung und Erziehung und selbstbestimmtes Entdecken außerhalb jeglicher Institution bieten können. Tatsächlich brauchen Kinder eine ausgewogene Balance zwischen schulischem Bildungsbeitrag, elterlicher Erziehung und persönlicher (Frei)Zeitgestaltung.
Ganztagsschulverfechter haben Idealkinder im Kopf
Was angesichts des gesellschaftlichen Wandels und des Funktionsverlustes mancher Familien heute mehr als früher vonnöten ist, sind Hausaufgabenbetreuung, mehr Bewegung und psychosoziale Hilfe. Vor allem für sozialpädagogische und psychologische Unterstützung müssen mehr Mittel und mehr Personal eingesetzt werden. Daraus einen verpflichtenden Ganztag für alle abzuleiten, ist abwegig, zumal durch das ganztägige Zusammensein der Schüler zusätzliche Konflikte entstehen. Es sind nämlich nicht alle Kinder gleich gut aufgehoben in ihrem schulischen Umfeld.
Im Widerspruch zu ihren Reden zugunsten Benachteiligter haben die Ganztagsschulverfechter ein Idealkind im Kopf, das beim Lernen Erfolg hat, sich in seiner Klasse wohlfühlt, leicht Anschluss findet, nie gehänselt wird und in der Schule keine sozialen Schwierigkeiten hat. Doch es gibt Kinder, für die ihre Klasse eine Qual ist, und die an einem Teil des Tages ein anderes Umfeld brauchen, entweder in der Familie, wo die meisten aufgenommen und aufgehoben sind, oder in anderen Umgebungen, die ihnen eine andere Rolle, eine andere Verortung ermöglichen - auch für ihr Selbstbewusstsein. Deshalb müssen wir behutsam sein, Kindern soziale Umgebungen für zu lange Zeiträume am Tag vorzugeben.
Vor allem aber, wo soll die Zeit für ein individuelles Förderprogramm, für die Rhythmen entspannten Lernens herkommen, wenn man sie nicht beim ureigenen Geschäft der Schule wegnimmt, dem Regelunterricht? Eine einfache Rechnung zeigt, Mittagessen, Hausaufgaben und sportlich-kulturelle Freizeitaktivitäten brauchen jeden Tag mindestens drei Stunden. Damit ist das Extra-Zeitbudget der Kinder im „Ganztag“ bereits verbraucht. Woher soll nun die zusätzliche Zeit für die Förder-, Spezialisierungs- und ergänzenden Lernphasen kommen? Es bleibt nur die Zeit des klassischen Kernunterrichts: weniger Lerninhalte, weniger Fachunterricht. Kinder haben in der durchorganisierten „echten“ Ganztagsschule am Ende weniger Unterricht und weniger Freizeit als zuvor in der Halbtags- oder Zweidrittelschule.
Die Arbeit in heterogenen Lerngruppen braucht Zeit
Einen ähnlichen Preis zahlen Schulkinder von Integrierten Gesamtschulen. Diese wurden seit den siebziger Jahren als Lösung für alle möglichen Schulprobleme angesehen und mit erheblicher Privilegierung bei der personellen und materiellen Ausstattung aufgebaut. Längeres gemeinsames Lernen führt offenbar nicht ohne weiteres zu größerem oder schnellerem Lernfortschritt, wie die schulformvergleichenden Pisa-Auswertungen zeigen. Tatsächlich rangieren Integrierte Gesamtschulen in den Pisa-Vergleichen weit hinter Gymnasien und Realschulen sowie knapp vor den Hauptschulen, die wesentlich kompliziertere Schülerstrukturen aufweisen. Denn die Arbeit in heterogenen Lerngruppen erfordert schlicht mehr Zeit. Folgerichtig verlegten Gesamtschulen einen Teil des Unterrichts auf den Nachmittag. Schon 2009 waren bereits 85 Prozent aller Integrierten Gesamtschulen zugleich Ganztagsschulen. Die Chancenungleichheit, die mangelnde oder nicht erfolgreiche individuelle Förderung der benachteiligten Schüler bestehen trotzdem fort. So wie die Integrierte Gesamtschule vielen Schülern Lernzeiten und Freizeit wegnimmt, so raubt auch die gebundene Ganztagsschule den Kindern Zeit, die sie für sich selbst brauchen.
Für einen aufwendigen Umbau unserer Schulen hin zum verbindlichen Ganztag gibt es keine überzeugenden Argumente. Der tatsächlichen, oft überschätzten Nachfrage von Eltern und Kindern nach Betreuung und Unterstützung kann die Schule nur gerecht werden, indem sie mehr Angebote am Nachmittag mit mehr Freiraum für die einzelnen Schüler und Wahlmöglichkeiten je nach persönlicher Veranlagung, Neigung und Situation verbindet. Ein Modell ist etwa der „Pakt für den Nachmittag“ in Hessen, bei dem sich Schule und Gemeinde - ähnlich wie in Schweden - um die Nachmittagsversorgung der Grundschüler kümmern. Halbtagsschulen, offene Ganztagsschulen mit modularen Übungs- und Entspannungsangeboten und auch gebundene Ganztagsschulen - alle Formen mag es geben, aber keine ausschließlich. Es ist unangebracht, wenn Fachleute und Politiker gebetsmühlenartig versuchen, den scheinbar neuen Schultyp der gebundenen, „echten“ Ganztagsschule zum Allheilmittel für alle Bildungsprobleme zu erklären, und dafür Millionen in die Hand nehmen, die an anderer Stelle einer begabungsgerechten Schulpolitik fehlen.
Die Autorin ist Mitglied des Hessischen Landtags, Sprecherin für Familienpolitik und Obfrau in der Enquetekomission „Kein Kind zurücklassen“.


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