15. November 2016

Zürich im Jahre 10 nach dem Fremdsprachenentscheid

Als vor zehn Jahren in Zürich über die zwei Primarfremdsprachen abgestimmt wurde, schrieb sich Herr Schneebeli für die Politik der SP-Bildungsdirektorin Regine Aeppli die Finger wund. Er brachte das Motto "jünger ist besser" unters Zürcher Volk. Dabei vermischte er willkürlich auch die Ausgangspositionen: Ob das Kind täglich von der neuen Sprache umgeben war oder sie bloss in der Schule während 90 Minuten pro Woche hörte, war für ihn einerlei. 
In der Zwischenzeit hat sich viel verändert: Die wissenschaftlichen Grundlagen sprechen noch eindeutiger gegen den doppelten Fremdsprachen-Unsinn in der Primarschule. Die teuren Zürcher Lehrmittel erlitten Schiffbruch in der Praxis und Lehrer sowie Eltern wissen nun aus eigener Erfahrung, was das hochgelobte Sprachenkonzept anrichtet.
Nicht verändert hat sich die Diskussionskultur, die Kritiker noch immer in die konservative Ecke stellt. Ebenfalls unverändert warten wir noch immer auf die empirisch dargelegten Vorzüge dieses Konzepts, das notgedrungen auf Halbwissen und Manipulation basiert. Und schliesslich schreibt auch Herr Schneebeli unverändert in seiner bunten Schulphantasie gegen die Realität an. (uk)
Franz und Englisch sind besser als ihr Ruf, Tages Anzeiger, 15.11. von Daniel Schneebeli

Nach fast exakt zehn Jahren ist es wieder so weit: Das Zürcher Volk muss darüber entscheiden, ob in der Primarschule eine Fremdsprache aus dem Stundenplan gestrichen werden soll. Derzeit wird ab der 2. Klasse Englisch und ab der 5. Klasse Französisch unterrichtet.
Damals, am 26. November 2006, lehnten die Zürcher die Volksinitiative mit über 58 Prozent Nein-Stimmen ab und sagten Ja zum doppelten Fremdsprachenunterricht in der Primarschule. Die Argumente, die Kinder würden nicht mehr richtig Deutsch lernen und seien im Primarschulalter mit zwei Fremdsprachen überfordert, waren für die Stimmberechtigten nicht stichhaltig genug. Sie gewichteten die steigende Bedeutung der Sprachen in Beruf und Gesellschaft stärker als angebliche Probleme im Unterricht. Zudem glaubten sie, eine Sprache lerne sich leichter, je früher man beginne.

Sprachenkonzept gescheitert?
Nun doppeln die Initianten von damals nach. «Die Erfolge sind ausgeblieben, das Sprachenkonzept ist gescheitert», sagt etwa der ehemalige Bildungsrat und inzwischen pensionierte Seklehrer Hans-Peter Amstutz. Für ihn und seine Mitstreiter sind die Bedingungen fürs Fremdsprachenlernen in der Primarschule so schlecht, dass der Unterricht nutzlos sei. Die Klassen seien zu gross und die Zahl der Lektionen zu klein.
Im Unterschied zum letzten Mal haben die Initianten diesmal die volle Unterstützung der kantonalen Lehrerverbände. In einer Umfrage des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (ZLV) haben sich fast 80 Prozent für die neue Volksinitiative ausgesprochen. Support gibts diesmal auch aus der Forschung. Die Zürcher Sprachwissenschaftlerin Simone Pfenninger hat im Herbst 2014 in einer Langzeitstudie herausgefunden, dass Zürcher Gymnasiasten, die erst in der Sekundarschule Englisch hatten, ihren Rückstand auf die Frühenglischlerner unter ihren Kameraden in sechs Monaten aufgeholt hatten.
Keine Überforderung
Pfenninger hat zwar wiederholt betont, sie verstehe ihr Studienergebnis nicht als Aufforderung zur Abschaffung der zweiten Fremdsprache in der Primarschule. Dennoch wüssten die Stimmberechtigten gern, wie gut oder eben wie schlecht der Fremdsprachenunterricht in der Primarschule tatsächlich ist.
Aussagen dazu macht eine Arbeit aus dem Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg. Dort haben Forscher die Erkenntnisse aus 25 kantonalen Studien zum Fremdsprachenunterricht analysiert. Dabei zeigte sich: Primarschüler sind mit dem Erlernen von zwei Sprachen nicht generell überfordert, wie die Initianten behaupten. Überfordert seien nur Kinder, die in anderen Fächern auch Mühe hätten. Interessant ist auch, dass jene Eltern und Lehrpersonen, die gegen eine zweite Fremdsprache an der Primarschule sind, ihre eigenen Kinder nicht als überfordert einschätzen.
Zudem hat Überforderung nichts mit der Muttersprache zu tun. Zwar erreichen jene Kinder, die zu Hause Deutsch sprechen, leicht bessere Noten in den Fremdsprachen als Kinder mit einem Migrationshintergrund. Die Forscher führen dies aber auf die privilegiertere Herkunft von einheimischen Kindern zurück.
Motivation als Erfolgsfaktor
Als grössten Erfolgsfaktor im Sprachunterricht haben die Forscher die Motivation eruiert. Kinder, die eine positive Einstellung zu Französisch und Englisch haben, erreichen auch die signifikant besseren Leistungen. Und die Motivation der Schüler wird wesentlich durch die Motivation der Lehrperson beeinflusst. Das heisst: Wenn ein Kind eine motivierte Franzlehrerin hat, wird es mehr lernen und bessere Noten schreiben.
Zu den Leistungen im Fremdsprachenunterricht macht die Analyse nur vage Angaben. Man könne die Resultate der verschiedenen Studien nur schwer vergleichen. Allerdings wird nicht gesagt, dass die Kinder die Lernziele nicht erreichen können. Im Gegenteil. Urs Moser vom Institut für Bildungsevaluation an der Universität Zürich misst seit zehn Jahren die Leistungen beim Frühenglisch im Kanton Aargau und sieht dort einen ähnlichen Lernerfolg, wie er in anderen Schulfächern zu sehen ist: «Der frühe Englischunterricht zeigt Wirkung, und die Lernziele werden von einem Grossteil der Schüler erreicht.»
Für den Französischunterricht kann er keine eigenen Messresultate vorweisen. Eine aktuelle Studie aus der Innerschweiz zeige aber, dass der Lernerfolg im Fach Französisch leicht schlechter sei.
Moser relativiert auch die Erkenntnisse von Simone Pfenninger, weil sie ausschliesslich die Leistungen von Gymnasiasten untersucht hat: «Clevere Schüler haben verpasstes Primarschulwissen eben generell schnell aufgeholt.» Daraus zu schliessen, man müsse Englisch (oder Französisch) in der Primarschule streichen, sei falsch. Denn ähnliche Effekte liessen sich wohl auch in Mathematik oder Deutsch nachweisen. «Niemand würde auf die Idee kommen, ein solches Fach deswegen zu streichen.»
Ähnlich argumentiert Sprachdidaktikerin Christine Le Pape Racine von der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz: «Dass nach dem Fremdsprachenunterricht der Primarschule wieder bei null begonnen werden muss, ist ein ewig wiederkehrendes Argument, das in erster Linie die Arbeit der Lehrpersonen abwertet.» Abgesehen davon seien solche Aussagen demotivierend für Schüler und Lehrer.
Ältere lernen schneller
In einem Punkt hat sich der wissenschaftliche Standpunkt in den letzten zehn Jahren geändert. Die Aussage, wonach kleine Kinder eine Sprache schneller lernen als grosse, hat sich als falsch erwiesen – wenigstens in Bezug auf das schulische Sprachenlernen. Das Gegenteil ist richtig, ältere Kinder lernen schneller. Dennoch bleiben Moser und Le Pape Racine dabei: In der Primarschule soll sowohl Englisch wie Französisch unterrichtet werden. Moser: «Wenn man früher mit dem Lernen beginnt, weiss man am Ende der Volksschule mehr.»
Zusammengefasst kann man sagen: Die Bildungsforschung ist in der Fremdsprachenfrage keine zuverlässige Partnerin – weder für Gegner noch Befürworter. Oder wie Stefan Wolter, Leiter der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, in der NZZ sagte: «Wer den Unterricht einer zweiten Fremdsprache aus der Primarschule verbannen will, kann dies mit Sicherheit nicht wissenschaftlich begründen.» Eine solche Entscheidung sei rein politisch motiviert.
Eltern gegen die Initiative
Zu reden gibt die Volksinitiative auch unter den Eltern. Deshalb hat der Verband der Elterngremien im Kanton Zürich KEO (Kantonale Elternmitwirkungs-Organisation) eine Umfrage durchgeführt. 60 Prozent der Befragten sprachen sich für den Status quo aus, also zwei Fremdsprachen in der Primarschule. Und als erste Fremdsprache wünscht sich die Mehrheit Englisch.


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