15. November 2016

Inklusion als Fiktion: Eine Klasse ist mehr als die Summe der Individuen

Beim Thema Integration/Inklusion (sowie auch Lernatelier, altersdurchmischtes Lernen, etc.) wird stillschweigend angenommen, dass Schulklassen einfach eine Ansammlung von Einzelindividuen seien. Man meint, die Arbeit sei getan, wenn man nur genügend Programme auf die Individuen zuschneidet, ob die Lernenden nun hoch- oder durchschnittlich begabt, vielseitig oder einseitig talentiert, langsam  oder schnell, selbstständig oder unsicher, verhaltensauffällig oder normalverträglich, behindert oder nicht behindert sind.  Daraus erklärt sich der Standpunkt der Erziehungsbehörden: Lehrpersonen müssen halt mit Heterogenität umgehen lernen, heilpädagogische Hilfe wird, falls verfügbar, in Dosen zugeführt, sei es im Gruppenraum, sei es im Klassenzimmer. Alles kann modulartig geplant und organisiert werden, ist machbar, und jedes Kind kommt zu seinem Recht und Glück.  
Von Felix Schmutz, 14.11.
 
In dieser Kalkulation fehlt aber etwas: Völlig ausgeblendet wurde, dass Schulklassen immer überindividuelle soziale Konstrukte darstellen, sozio-dynamisch funktionierende Gruppen, die je nach Voraussetzungen und Zusammensetzung günstige oder ungünstige Wirkungen auf das Lernen und die Entwicklung der Einzelnen entfalten. Eine Gruppe kann nur fruchtbare Wirkung für alle und für die Einzelnen haben, wenn  es gelingt, sie durch Steuerung auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören, zu dem jedes Mitglied einen Beitrag leisten kann, der von den andern anerkannt wird. Gelingt das nicht, entwickelt sich im Laufe der Zeit eine soziale Eigendynamik, die alle wohlgemeinten, auf Individuen zugeschnittenen Programme unterlaufen kann. Je älter Kinder und Jugendliche werden, desto mehr verselbständigt sich die Gruppendynamik von den Einwirkungen der Lehrpersonen. Das Problem scheint zu sein, dass nicht nur die Lehrpersonen, sondern auch die Lernenden mit Heterogenität umgehen können müssen. Wo aber haben sie das lernen können, bevor sie in eine Klasse eintreten? Wie können Störungen durch entwicklungsbedingte Ursachen wie Sympathie/Antipathie, Ungeduld, Frustration, Neid, Schadenfreude, kriminelle Neigungen, Suchtverhalten, Empathieschwäche, etc. ausgeschaltet werden? Und können das alle so leicht lernen, wenn sie nach individuellen Programmen beschult werden?

Wenn die Eigendynamik der Gruppe das Schulzimmer zur Hölle macht (vgl. Jean-Paul Sartre Huis clos), bzw. gewisse Schülergruppen unter der Dynamik leiden oder nicht mehr tragbar sind, genügt Individualisierung nicht, räumliche Trennung wird nötig, Krisen bauen sich auf, runde Tische zerreden die Probleme, scheuen vor Lösungen zurück und verbraten Zeit, Lehrpersonen verabschieden sich ins Burn-Out, Eltern greifen ein und nehmen ihre Kinder aus der Klasse, und somit wird die Integration/Inklusion zur reinen Fiktion. 

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