16. November 2016

Die Gefahr der Stigmatisierung

Das Bekenntnis zur Integrativen Schule, bei dem möglichst alle Kinder in normalen Klassen unterrichtet werden sollen, verursacht viele Verlierer. Lehrer erzählen von Klassen mit Kindern, die kurz zuvor noch in einem Flüchtlingslager waren und kein Wort Deutsch sprechen; von Schülern, die keinen Moment still sitzen können, noch in die Hosen machen oder aufgrund einer geistigen Behinderung rund um die Uhr Betreuung brauchen. Während sich viele Kantone diesbezüglich einen grösseren Spielraum herausnehmen und einen guten Teil der Klein- und Einführungsklassen beibehalten haben, in denen sich solche Kinder in geschütztem Rahmen gemächlicher entwickeln können, hat Basel diese abgeschafft. Dagegen erhebt sich Widerstand. Die heutige Schule bestehe aus einer grossen, schillernden Vielfalt an Kindern. Gerade jetzt eine Schul­reform mit Integration um jeden Preis durchsetzen zu wollen, kommt gemäss der Meinung von Primarlehrer und EVP-Mitglied Philipp Ponacz zu einem schwierigen Zeitpunkt. Denn unter dieser Heterogenität an Kindern seien stets solche, die das Angebot einer Einführungsklasse dringend nötig hätten.
Die Streichung von Klein- und Einführungsklassen hat zur Folge, dass Kinder in Klassen stigmatisiert und ausgegrenzt werden und das Schulsystem heillos überfordert ist. Die Sachkommission in Riehen wollte nun die Einführungsklassen, also die Möglichkeit, die erste Klasse in zwei Jahren zu absolvieren, wieder einführen.
Kinder mit Kulturschock und Hyperaktivität, Basler Zeitung, 16.11. von Franziska Laur


Gefühl, nicht zu genügen
Ponacz, der im Schulhaus Niederholz unterrichtet, ist es ein grosses Anliegen, dass die Kinder einen guten Übertritt vom Kindergarten in die Primarschule haben. «Die Einschulung ist zentral für den Lernerfolg, für das Selbstvertrauen und die Motivation.» Heute würden die Kinder kurz nach der Einschulung abgeklärt. Einzelne erleben, dass sie nicht genügen und daher Hilfe bräuchten. Dies schlage auf das Selbstbewusstsein. «Kinder brauchen einen erfreulichen Schulstart», sagt er.

Der Antrag der Sachkommission auf eine Einführungsklasse für Riehen ist im Einwohnerrat allerdings gescheitert. Die Gegner argumentierten unter anderem, dass dies übergeordnetes Recht verletze – darauf beruft sich auch stets das Basler Erziehungsdepartement mit Christoph Eymann an der Spitze. Allerdings zeigt der laufende politische Prozess mit verschiedenen Vorstössen, dass Einführungs- wie auch Kleinklassen dringend gebraucht werden.

Wie die Riehener Zeitung am 4. November schrieb, habe sich im Einwohnerrat Patrick Huber (Fraktion CVP/GLP) zwar gegen den Antrag der Sachkommis­sion gewandt, auf das kommende Schuljahr wieder eine Einführungsklasse zu schaffen. Stattdessen empfahl er, den Antrag der EVP anzunehmen, wonach ab Schuljahr 2018/2019 eine «Erfahrungsschule» ein­zuführen sei für Kinder, die aufgrund ihres Alters oder Entwicklungsverzögerungen noch nicht schulreif ­sei­en. Der Einwohnerrat beschloss, dass ein entsprechendes Konzept bis Juni 2017 zu präsentieren sei.
Anpassungen an heutige Zeit
«Es spielt ja keine Rolle, ob es Einführungs- oder Erfahrungsschule heisst», sagt Ponacz. Wichtig sei für ihn lediglich, dass es eine Schule gebe, die den Kindern mehr Zeit für ihre Entwicklung lasse. Mit der Vielfalt der Herausforderungen stossen alle Beteiligten langsam an ihre Grenzen. Es brauche Anpassungen an die heutige Zeit.

Da die Schule Riehen teilautonom funktioniert und ihr Lehrpersonal selber berappt, steht es ihr frei, eine solche Erfahrungsschule auch einzuführen. Doch beim Thema Integration sind die Meinungen gespalten, auch unter den Riehener Sozialdemokraten, die an und für sich Befürworter der Integrativen Schule sind.

SP-Mitglied Sasha Mazzotti hat im Einwohnerrat für die Wiedereinführung der Einführungsklassen plädiert. Dieses Konzept funktioniere immer noch bestens, argumentiert sie. Und sie stellt auch die rechtliche Verbindlichkeit der Abschaffung von Einführungsklassen infrage: «Wie andere Kantone beweisen, welche die Einführungsklassen beibehalten haben, ist es durchaus mit dem Gesetz der Integration vereinbar.» Das Ziel sei ja, die Kinder nach der zweijährigen Einführungsklasse in den regulären Schulbetrieb zu integrieren.

Einführungsklassen seien wichtig und nötig, da mit der schrittweisen Senkung des Einschulungsalters aufgrund von Harmos immer jüngere Kinder vom Kindergarten in die Primarschule übertreten würden. Parallel dazu finde wegen der Schulreform eine starke Einschränkung der möglichen Klassenrepetition statt. «Ohne das Angebot der Einführungsklassen haben vorwiegend jüngere Schüler kaum mehr die Möglichkeit, eine Entwicklungsverzögerung aufzuholen», sagt Mazzotti.


Natürlich gebe es Fördermassnahmen für betroffene Schüler. Doch das bedeute, dass sie anstelle von genügend Zeit, einen patchworkartigen Stundenplan verpasst bekommen, bei welchem sie ständig Lerngruppen und Bezugspersonen wechseln müssten.» Sie sagt deutsch und deutlich: «Wir haben in Riehen eine Chance verpasst.» Nun hofft sie, dass bald ein passendes Konzept erarbeitet wird.

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