Genau wie ihr St. Galler Parteikollege verteidigt auch die Thurgauer SVP-Bildungsdirektorin Monika Knill (SVP) den Lehrplan 21 durch dick und dünn. Für sie bedeutet die Initiative einen Vertrauensentzug.
Monika Knill streitet sich mit Klemenz Somm (GLP) vom Initiativkomitee, Bild: Reto Martin
Streitfall neuer Lehrplan, St. Galler Tagblatt, 14.11. Interview: Ch. Kamm/L.
Flammer
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Die
Volksinitiative «Für eine gute Thurgauer Volksschule» will der Kantonsregierung
die Kompetenz zum Erlass des Lehrplans wegnehmen und Jahrgangsziele einführen.
Erziehungsdirektorin Monika Knill (SVP) und Kantonsrat Klemenz Somm (GLP) vom
Initiativkomitee kreuzen die Klingen.
Im Vorfeld der
Lehrplan-Abstimmung wird im Thurgau intensiv gestritten. Ist die befürchtete
Verpolitisierung der Volksschule schon in vollem Gang?
Monika
Knill: Nein. Die kommt erst in Gang, wenn diese Initiative angenommen wird. Ich
habe immer Wert darauf gelegt, dass wir im Thurgau eine gute Diskussionskultur
pflegen. Wir machen das alle paar Jahre mit dem Bildungsbericht sehr umfassend
auch im Parlament. Und die Schulgemeinden haben schon per Gesetz den Auftrag,
schulpolitische Diskussionen auf ihrer Ebene zu führen.
Machen Sie den Lehrplan
zum politischen Spielball, Herr Somm?
Klemenz
Somm: Der Begriff «Verpolitisierung» schiesst übers Ziel hinaus. Was im Moment
stattfindet, ist doch eine vertiefte Auseinandersetzung mit den
Bildungsinhalten und dem Quo vadis unserer Volksschule. Wer ist legitimierter,
etwas zur zukünftigen Ausrichtung der Volksschule zu sagen, als das Volk? Es
finanziert sie letztlich. Deshalb bin ich froh um diese Diskussion.
Haben Sie Angst vor dem
Volk, Frau Knill?
Knill:
Überhaupt nicht. Die Volksschule Thurgau gibt es seit 183 Jahren. Ausrichtung
und Inhalte wurden immer sehr verantwortungsvoll festgelegt – von jenen Ebenen,
die bis anhin in der Verantwortung stehen. Es wurde stets ermöglicht, auch
grundsätzlich über die Schule zu diskutieren. Die Aufgabenteilung ist völlig
klar: Der Gesetzgeber bestimmt den Auftrag der Volksschule, die Regierung ist
Auftragsempfänger, erlässt Lehrplan und Stundentafeln. Die Initiative steht für
einen Vertrauensentzug.
Somm:
Ein gewisses Misstrauen ist im Volk vorhanden, sonst hätte die Initiative auch
nicht diese Resonanz entwickelt. Es hat sich in den letzten 20 Jahren in der
Schule unheimlich viel, unheimlich schnell verändert. Aber Bildungsinhalte sind
nicht beliebig ausdehnbar.
Knill:
Machen Sie ein Beispiel.
Somm:
Sprachunterricht. Früher gab es gar keine Fremdsprachen auf der Primarstufe.
Dann kam Französisch, später noch Frühenglisch. Und jetzt heisst es: Wir müssen
unbedingt auch noch das Fach Medienkompetenz einbauen. Man meint es ja gut.
Aber es wurde immer mehr in die Schule gepackt. Und die Folge? Die Kompetenzen
in den Grundfächern wie Deutsch und Mathematik sind heute nicht mehr
zufriedenstellend.
Knill:
Genau diese Frage der Fremdsprachen wurde sehr demokratisch 2006 vom Stimmvolk
entschieden. Darüber wird jetzt wieder diskutiert. Das kann man auch tun. Aber
es zeigt auf, dass der Regierungsrat mit solchen Entwicklungsschritten
verantwortungsvoll umgeht. Die Gesellschaft verändert sich. Und das verändert die
Schule. Wie es im Gesetz heisst: «…hat sich den jeweiligen Lebensbedingungen
anzupassen.»
Mehr Bildungsinhalte
heisst mehr Druck für die Schüler.
Knill:
Man muss sich vor Augen halten, wie viele Stunden in der Woche ein Schüler
tatsächlich in der Schule ist. Hier stellen wir denn auch fest, dass der Druck
auf die Kinder per se nicht unbedingt aus der Schule selber kommt, sondern
weitgehend vom Umfeld beeinflusst wird mit seinen Erwartungshaltungen.
Somm:
Es stimmt, die Schüler sind nur wenige Stunden in der Schule. Die Dauer ist
sogar noch reduziert worden. Gleichzeitig wurden die Inhalte erweitert. Alles
muss immer komprimierter vermittelt werden. Zeit fürs Repetieren und Üben
fehlt. In diesem Umfeld wurde dann in verschiedenen Schulgemeinden auch noch das
selbstorganisierte Lernen in erhöhtem Masse propagiert. Damit sind viele Kinder
überfordert.
Knill:
Sämtliche Themenfelder, die hier angesprochen worden sind, haben doch direkt
nichts mit dem neuen Lehrplan zu tun. Der Unterricht ist teils gemeinschaftlich,
etwa mit Frontalunterricht, und teils individuell zu gestalten. Das ist die
Gesetzeslage und wird von der Initiative nicht tangiert. Die Methodenfreiheit
wird weiterhin gewährleistet.
Somm:
Da scheiden sich die Geister. Ich bezweifle, dass diese Methodenfreiheit
unangetastet bleibt. Der Trend in der Schule läuft in Richtung
selbstorganisiertes Lernen. Aber das ist in der Primarschule nicht
stufengerecht. Hier muss die Bevölkerung die Möglichkeit haben, beim
Supertanker Schule Kurskorrekturen vorzunehmen.
Eine der grossen
Streitfragen im neuen Lehrplan ist die Kompetenzorientierung. Kompetenzen zu
haben ist doch etwas Positives.
Somm:
Wir hatten in den vergangenen Jahren auch keine Schule, die nicht Kompetenzen
vermittelte.
Und wo liegt dann das
Problem?
Somm:
Der Begriff «Kompetenzorientierung» ist ein Marketingbegriff, um den Lehrplan
21 zu verkaufen mit all seinen Facetten. Woran ich mich störe, ist die
Output-Orientierung, die damit verbundene Testitis und das Benchmarking, das
europaweit Schule macht. Wir leben in einer sehr zahlengläubigen Gesellschaft
und glauben, alles vergleichen und vermessen zu müssen. Eine Hauptsorge der
Initianten ist denn auch, dass die Kinder immer mehr kategorisiert und
vermessen werden.
Knill:
Hier stellt sich die Frage, wie und wo man prüft – also die Frage nach dem
goldenen Mittelweg. Wir haben das «Stellwerk» und das «Klassencockpit». Die
gibt es schon mit dem heutigen Lehrplan. Sie bieten Orientierungshilfe, sind
anerkannt und nicht mehr wegzudenken. Und sonst ist im Thurgau nichts für eine
angebliche Vermessung geplant. Das klassische Notenzeugnis bleibt.
Die Initiative schlägt
Jahrgangsziele vor. Die kann man auch überprüfen.
Somm:
Das stimmt. Jahrgangsziele sollen auch nicht dazu dienen, die Schüler Ende Jahr
alle am gleichen Punkt zu haben, wie uns unterstellt wird. Aber sie führen
dazu, dass die Heterogenität in den Klassen innerhalb einer gewissen Bandbreite
bleibt.
Knill:
Wie zwingen Sie die Schüler in diese Bandbreite?
Somm:
Wenn man Jahrgangsziele überprüft und jemand erreicht das untere Band dieser
Bandbreite nicht, dann muss er repetieren.
Knill:
Eine bereits definierte Bandbreite entspricht dem Grundsatz des neuen Lehrplans
mit den schweizweiten Basisanforderungen.
Somm:
Wieso wehrt ihr euch denn so gegen Jahrgangsziele?
Knill:
Weil sie nicht auf jeden einzelnen Jahrgang herabgebrochen werden können. Die
Kinder entwickeln sich nicht linear. Der Verweis auf die Heterogenität ist ein
Vorwurf an die Volksschule und ihre Lehrpersonen, heute das Potenzial der
Schüler angeblich zu wenig auszuschöpfen. Dass sie zu mehr fähig wären.
Somm:
Stop, stop. Das ist das Gegenteil meiner Erwartung an die Schule. Ich sage
nicht, dass sie jedes Kind in jedem Moment optimal fördern können muss. Im
Gegenteil: Sich in einer Klasse einordnen zu können, ist eine Lebensschule für
jeden Menschen – eine überfachliche Kompetenz von grösster Wichtigkeit.
Knill:
Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, worum es hier geht. Die Initiative
will den Lehrplan 21 beziehungsweise unseren neuen Thurgauer Lehrplan nicht. Es
heisst ganz klar: «Ohne den Lehrplan 21.»
Somm:
Die Initiative will Anpassungen.
Knill:
Sie will den Lehrplan 21 nicht, das steht so drin.
Somm:
Das sage ich so nicht.
Knill:
Dann haben Sie fälschlicherweise unterschrieben?
Somm:
Nein. Das Ganze ist eine Auslegungsfrage.
Die Wellen im
Abstimmungskampf gehen hoch. Ist Propaganda auf dem Schulhof des Guten zu viel?
Knill:
Die Schule hat beim neuen Lehrplan auch eine Informationspflicht gegenüber den
Eltern. Jetzt kann man sich überlegen, in welcher Art und Weise man das machen
will. Bei der Frage, was wo aufgestellt wird, ist die Sensibilität der
gewählten Behörde vor Ort gefragt. Von Seiten des Kantons sehen wir keine
Notwendigkeit, in die Autonomie der Schulgemeinden einzugreifen.
Somm:
Als Stimmbürger empfinde ich es als hoch störend, wenn man auf Schularealen
politische Werbung macht. Und sie einseitig transportiert. Darin spiegelt sich
die Empörung einiger Vertreter aus dem Bildungsbusiness, welchen der Umgang mit
der direkten Demokratie offensichtlich schwer fällt. Die Schule darf keinen
Raum für einseitige, politische Argumentationen bieten. Schüler und Eltern sind
dem ausgeliefert.
Knill:
Das sind Nebenschauplätze in jedem engagierten Abstimmungskampf. Ich könnte
anderseits Beispiele liefern, dass auf Schulgelände Unterschriften für die
Initiative gesammelt worden sind.
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