14. November 2016

Die braven SVP-Bildungsdirektoren

Genau wie ihr St. Galler Parteikollege verteidigt auch die Thurgauer SVP-Bildungsdirektorin Monika Knill (SVP) den Lehrplan 21 durch dick und dünn. Für sie bedeutet die Initiative einen Vertrauensentzug.
Monika Knill streitet sich mit Klemenz Somm (GLP) vom Initiativkomitee, Bild: Reto Martin
Streitfall neuer Lehrplan, St. Galler Tagblatt, 14.11. Interview: Ch. Kamm/L. Flammer

Die Volksinitiative «Für eine gute Thurgauer Volksschule» will der Kantonsregierung die Kompetenz zum Erlass des Lehrplans wegnehmen und Jahrgangsziele einführen. Erziehungsdirektorin Monika Knill (SVP) und Kantonsrat Klemenz Somm (GLP) vom Initiativkomitee kreuzen die Klingen.
Im Vorfeld der Lehrplan-Abstimmung wird im Thurgau intensiv gestritten. Ist die befürchtete Verpolitisierung der Volksschule schon in vollem Gang?
Monika Knill: Nein. Die kommt erst in Gang, wenn diese Initiative angenommen wird. Ich habe immer Wert darauf gelegt, dass wir im Thurgau eine gute Diskussionskultur pflegen. Wir machen das alle paar Jahre mit dem Bildungsbericht sehr umfassend auch im Parlament. Und die Schulgemeinden haben schon per Gesetz den Auftrag, schulpolitische Diskussionen auf ihrer Ebene zu führen.
Machen Sie den Lehrplan zum politischen Spielball, Herr Somm?
Klemenz Somm: Der Begriff «Verpolitisierung» schiesst übers Ziel hinaus. Was im Moment stattfindet, ist doch eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Bildungsinhalten und dem Quo vadis unserer Volksschule. Wer ist legitimierter, etwas zur zukünftigen Ausrichtung der Volksschule zu sagen, als das Volk? Es finanziert sie letztlich. Deshalb bin ich froh um diese Diskussion.
Haben Sie Angst vor dem Volk, Frau Knill?
Knill: Überhaupt nicht. Die Volksschule Thurgau gibt es seit 183 Jahren. Ausrichtung und Inhalte wurden immer sehr verantwortungsvoll festgelegt – von jenen Ebenen, die bis anhin in der Verantwortung stehen. Es wurde stets ermöglicht, auch grundsätzlich über die Schule zu diskutieren. Die Aufgabenteilung ist völlig klar: Der Gesetzgeber bestimmt den Auftrag der Volksschule, die Regierung ist Auftragsempfänger, erlässt Lehrplan und Stundentafeln. Die Initiative steht für einen Vertrauensentzug.
Somm: Ein gewisses Misstrauen ist im Volk vorhanden, sonst hätte die Initiative auch nicht diese Resonanz entwickelt. Es hat sich in den letzten 20 Jahren in der Schule unheimlich viel, unheimlich schnell verändert. Aber Bildungsinhalte sind nicht beliebig ausdehnbar.
Knill: Machen Sie ein Beispiel.
Somm: Sprachunterricht. Früher gab es gar keine Fremdsprachen auf der Primarstufe. Dann kam Französisch, später noch Frühenglisch. Und jetzt heisst es: Wir müssen unbedingt auch noch das Fach Medienkompetenz einbauen. Man meint es ja gut. Aber es wurde immer mehr in die Schule gepackt. Und die Folge? Die Kompetenzen in den Grundfächern wie Deutsch und Mathematik sind heute nicht mehr zufriedenstellend.
Knill: Genau diese Frage der Fremdsprachen wurde sehr demokratisch 2006 vom Stimmvolk entschieden. Darüber wird jetzt wieder diskutiert. Das kann man auch tun. Aber es zeigt auf, dass der Regierungsrat mit solchen Entwicklungsschritten verantwortungsvoll umgeht. Die Gesellschaft verändert sich. Und das verändert die Schule. Wie es im Gesetz heisst: «…hat sich den jeweiligen Lebensbedingungen anzupassen.»
Mehr Bildungsinhalte heisst mehr Druck für die Schüler.
Knill: Man muss sich vor Augen halten, wie viele Stunden in der Woche ein Schüler tatsächlich in der Schule ist. Hier stellen wir denn auch fest, dass der Druck auf die Kinder per se nicht unbedingt aus der Schule selber kommt, sondern weitgehend vom Umfeld beeinflusst wird mit seinen Erwartungshaltungen.
Somm: Es stimmt, die Schüler sind nur wenige Stunden in der Schule. Die Dauer ist sogar noch reduziert worden. Gleichzeitig wurden die Inhalte erweitert. Alles muss immer komprimierter vermittelt werden. Zeit fürs Repetieren und Üben fehlt. In diesem Umfeld wurde dann in verschiedenen Schulgemeinden auch noch das selbstorganisierte Lernen in erhöhtem Masse propagiert. Damit sind viele Kinder überfordert.
Knill: Sämtliche Themenfelder, die hier angesprochen worden sind, haben doch direkt nichts mit dem neuen Lehrplan zu tun. Der Unterricht ist teils gemeinschaftlich, etwa mit Frontalunterricht, und teils individuell zu gestalten. Das ist die Gesetzeslage und wird von der Initiative nicht tangiert. Die Methodenfreiheit wird weiterhin gewährleistet.
Somm: Da scheiden sich die Geister. Ich bezweifle, dass diese Methodenfreiheit unangetastet bleibt. Der Trend in der Schule läuft in Richtung selbstorganisiertes Lernen. Aber das ist in der Primarschule nicht stufengerecht. Hier muss die Bevölkerung die Möglichkeit haben, beim Supertanker Schule Kurskorrekturen vorzunehmen.
Eine der grossen Streitfragen im neuen Lehrplan ist die Kompetenzorientierung. Kompetenzen zu haben ist doch etwas Positives.
Somm: Wir hatten in den vergangenen Jahren auch keine Schule, die nicht Kompetenzen vermittelte.
Und wo liegt dann das Problem?
Somm: Der Begriff «Kompetenzorientierung» ist ein Marketingbegriff, um den Lehrplan 21 zu verkaufen mit all seinen Facetten. Woran ich mich störe, ist die Output-Orientierung, die damit verbundene Testitis und das Benchmarking, das europaweit Schule macht. Wir leben in einer sehr zahlengläubigen Gesellschaft und glauben, alles vergleichen und vermessen zu müssen. Eine Hauptsorge der Initianten ist denn auch, dass die Kinder immer mehr kategorisiert und vermessen werden.
Knill: Hier stellt sich die Frage, wie und wo man prüft – also die Frage nach dem goldenen Mittelweg. Wir haben das «Stellwerk» und das «Klassencockpit». Die gibt es schon mit dem heutigen Lehrplan. Sie bieten Orientierungshilfe, sind anerkannt und nicht mehr wegzudenken. Und sonst ist im Thurgau nichts für eine angebliche Vermessung geplant. Das klassische Notenzeugnis bleibt.
Die Initiative schlägt Jahrgangsziele vor. Die kann man auch überprüfen.
Somm: Das stimmt. Jahrgangsziele sollen auch nicht dazu dienen, die Schüler Ende Jahr alle am gleichen Punkt zu haben, wie uns unterstellt wird. Aber sie führen dazu, dass die Heterogenität in den Klassen innerhalb einer gewissen Bandbreite bleibt.
Knill: Wie zwingen Sie die Schüler in diese Bandbreite?
Somm: Wenn man Jahrgangsziele überprüft und jemand erreicht das untere Band dieser Bandbreite nicht, dann muss er repetieren.
Knill: Eine bereits definierte Bandbreite entspricht dem Grundsatz des neuen Lehrplans mit den schweizweiten Basisanforderungen.
Somm: Wieso wehrt ihr euch denn so gegen Jahrgangsziele?
Knill: Weil sie nicht auf jeden einzelnen Jahrgang herabgebrochen werden können. Die Kinder entwickeln sich nicht linear. Der Verweis auf die Heterogenität ist ein Vorwurf an die Volksschule und ihre Lehrpersonen, heute das Potenzial der Schüler angeblich zu wenig auszuschöpfen. Dass sie zu mehr fähig wären.
Somm: Stop, stop. Das ist das Gegenteil meiner Erwartung an die Schule. Ich sage nicht, dass sie jedes Kind in jedem Moment optimal fördern können muss. Im Gegenteil: Sich in einer Klasse einordnen zu können, ist eine Lebensschule für jeden Menschen – eine überfachliche Kompetenz von grösster Wichtigkeit.
Knill: Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, worum es hier geht. Die Initiative will den Lehrplan 21 beziehungsweise unseren neuen Thurgauer Lehrplan nicht. Es heisst ganz klar: «Ohne den Lehrplan 21.»
Somm: Die Initiative will Anpassungen.
Knill: Sie will den Lehrplan 21 nicht, das steht so drin.
Somm: Das sage ich so nicht.
Knill: Dann haben Sie fälschlicherweise unterschrieben?
Somm: Nein. Das Ganze ist eine Auslegungsfrage.
Die Wellen im Abstimmungskampf gehen hoch. Ist Propaganda auf dem Schulhof des Guten zu viel?
Knill: Die Schule hat beim neuen Lehrplan auch eine Informationspflicht gegenüber den Eltern. Jetzt kann man sich überlegen, in welcher Art und Weise man das machen will. Bei der Frage, was wo aufgestellt wird, ist die Sensibilität der gewählten Behörde vor Ort gefragt. Von Seiten des Kantons sehen wir keine Notwendigkeit, in die Autonomie der Schulgemeinden einzugreifen.
Somm: Als Stimmbürger empfinde ich es als hoch störend, wenn man auf Schularealen politische Werbung macht. Und sie einseitig transportiert. Darin spiegelt sich die Empörung einiger Vertreter aus dem Bildungsbusiness, welchen der Umgang mit der direkten Demokratie offensichtlich schwer fällt. Die Schule darf keinen Raum für einseitige, politische Argumentationen bieten. Schüler und Eltern sind dem ausgeliefert.
Knill: Das sind Nebenschauplätze in jedem engagierten Abstimmungskampf. Ich könnte anderseits Beispiele liefern, dass auf Schulgelände Unterschriften für die Initiative gesammelt worden sind.


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