Eine Umfrage innerhalb
der Lehrerschaft benennt Baustellen, die schwierig zu bewältigen sind. Roland
Misteli, Geschäftsführer des Verbands Lehrerinnen und Lehrer Solothurn (LSO):
«Eine Reform, die wirklich funktionieren soll, müsste zum jetzigen Zeitpunkt über
eine höhere Zufriedenheitsquote verfügen.»
Die integrative Schule - Eine politische Vision und ihre Grenzen, Solothurner Zeitung, 7.11. von Elisabeth Seifert
In den meisten Schulen im Kanton, ob in der
Primarschule oder auf der Sekundarstufe I, ist das Prinzip der Integration seit
vielen Jahren Realität. Schülerinnen und Schüler mit einer Lernschwäche oder
auch Verhaltensauffälligkeiten sind in die Regelklassen integriert und werden
im Rahmen von Förderlektionen gezielt unterstützt.
Die
Klassenlehrpersonen erhalten dabei während einer bestimmten Anzahl Lektionen
pro Woche Unterstützung von Förderlehrpersonen, die mit ihnen zusammen den
Unterricht bestreiten. Trotz der langen Zeit und obwohl sich viele Abläufe
eingespielt haben, gleicht die Spezielle Förderung immer noch einer Baustelle.
Das
legt eine Umfrage offen, die der Verband der Lehrerinnen und Lehrer Solothurn
(LSO) durchgeführt hat. Im Gespräch mit dieser Zeitung analysiert
LSO-Geschäftsführer Roland Misteli die Ergebnisse. Die zentrale Erkenntnis: Die
gesellschaftspolitische Vision einer Schule für möglichst viele kommt an ihre
Grenzen.
Seit
2011 sind im Kanton Solothurn gesetzlichen Grundlagen in Kraft, welche die
Integration zum Credo erheben. Deren flächendeckende Umsetzung soll nach dem
erneuten Schulversuch, der noch bis Ende 2018 dauert, erfolgen. Auch für Roland
Misteli, der der Integration im Grundsatz positiv gegenüber steht, ist nicht
ausgeschlossen, dass es eine Anpassung des Gesetzes braucht.
Roland Misteli, wie erleben Sie persönlich die Stimmung gegenüber
der Speziellen Förderung?
Roland Misteli: Die
Einschätzung der Lehrerinnen und Lehrer ist sehr differenziert. Ein Teil macht
gute bis sehr gute Erfahrungen mit der Speziellen Förderung. Es gibt aber auch
einen grösseren Teil, der sich mit der integrativen Schule mehr oder weniger
arrangiert hat. Man macht es halt, weil man muss. Und immerhin ein Fünftel der
Lehrerschaft ist grundsätzlich negativ eingestellt.
Seit 2010 hat der LSO die dritte Umfrage durchgeführt.
Die Zufriedenheit ist immerhin etwas gestiegen ...
Der
Prozentsatz jener, die mit der jetzigen Situation zufrieden sind, hat klar
zugenommen. Es wurden in der Zwischenzeit auch einige Verbesserungen
vorgenommen. Man hat zum Beispiel das System der Förderstufen vereinfacht.
Weiter ist die Anzahl der Förderlektionen etwas erhöht worden. Über die Zeit
haben sich zudem die Abläufe besser eingespielt, die Lehrkräfte konnten
Erfahrungen sammeln. Und auch die Zusammenarbeit zwischen den Lehrpersonen
funktioniert heute sehr gut. Dennoch sind aber nur 30 Prozent rundum zufrieden.
Gleichzeitig hat auch der Prozentsatz jener, die die integrative Schule
grundsätzlich ablehnen, zugenommen.
Die integrative Schule ist ungefähr zehn Jahre
unterwegs. Müsste man nicht einen etwas höheren Grad der Zustimmung erwarten?
Eindeutig.
Eine Reform, die wirklich funktionieren soll, müsste zum jetzigen Zeitpunkt
über eine höhere Zufriedenheitsquote verfügen.
Wenn sie frei wählen könnten, würde rund die Hälfte
der Lehrkräfte nur dann mit der Integration fortfahren, wenn separative Formen
möglich sind. Was sagen Sie dazu?
Das
ist sicher das erstaunlichste und wichtigste Ergebnis der Umfrage. Im Grundsatz
befürwortete die Lehrerschaft die Integration. Aber mit der Umsetzung ist man
nicht zufrieden. Das hat mit den Rahmenbedingungen zu tun.
Ist das aktuelle Konzept der Speziellen Förderung zu
idealistisch?
Man
kann alle Kinder und Jugendlichen integrieren, wenn man das will. Aber dafür
braucht es die richtigen Rahmenbedingungen. Neben dem nötigen Knowhow und der
Bereitschaft der Lehrerschaft und Schulleitungen ist in erster Linie genügend
Zeit erforderlich. Wenn in einer Klasse mit 22 Kindern mehrere Schüler mit speziellem
Förderbedarf integriert sind, dann geht das ganz einfach nicht ohne zusätzliche
Förderlektionen.
Sie fordern also eine Aufstockung des Pensenpools
für Heilpädagogen und Förderlehrkräfte?
Es
gibt zwei Möglichkeiten. Zum einen kann man den Pensenpool vergrössern, sodass
die Lehrerinnen und Lehrer mehr Lektion zusammen mit einer spezialisierten
Lehrperson bestreiten können. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die
Klassen zu verkleinern. Beide Alternativen kosten aber ziemlich viel Geld.
Geld, das dem Kanton und den Gemeinden fehlt…
Dann
bleibt nur der Schluss, dass wir den Anspruch reduzieren und die Integration
nicht so umfassend umsetzen, wie man sich das zu Beginn vorgestellt hat. Und
das heisst: Man muss wieder separative Formen ermöglichen.
Und was verstehen Sie darunter?
Zum
Beispiel wäre es möglich, in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und
Fremdsprachen Niveaugruppen einzuführen. Das funktioniert allerdings nur in
grösseren Schulen. Ebenfalls an grösseren Schulen könnte man eine von mehreren Parallelklassen
im Sinne einer Förderklasse führen. Sehr viele Lehrpersonen wünschen sich zudem
Einschulungsklassen, um die oft grossen entwicklungsbedingten Unterschiede der
ganz Kleinen auffangen zu können.
Zu schaffen machen der Lehrerschaft zudem auch Schüler
mit Verhaltensauffälligkeiten?
Das
ist ein stark wachsendes Problem. Für die schwersten Fälle bieten die
Regionalen Kleinklassen eine Lösung an. Probleme bereitet der Lehrerschaft aber
vor allem ein mittleres Segment von verhaltensauffälligen Schülern. Der
Unterricht leidet darunter, auch kommt es immer wieder zu Mobbing-Fällen. Für
solche Situationen gibt es immer noch keine befriedigende Lösung. Nur wenige
Schulen richten Schulinseln ein, weil sie befürchten, dass ihnen dann in den
übrigen Klassen die Förderlektionen fehlen.
Welche Schlüsse zieht der LSO aus der Umfrage?
Bis
jetzt ist man zu stark von der Idee der Integration ausgegangen. Der Kanton
muss gemäss unserer Einschätzung nach Ablauf des erneuten Schulversuchs
weiterhin separative Formen zulassen. Und zwar braucht es ein definiertes Set
solcher Möglichkeiten, aus denen die Schulträger wählen können. Da die
Gegebenheiten vor Ort sehr unterschiedlich sind, machen einheitliche Vorgaben
des Kantons wenig Sinn. Ich möchte mich auch noch nicht auf die Art der
Separation festlegen, die Diskussion darüber muss jetzt geführt werden. Gefragt
sind ganz besonders auch die Gemeinden. Sie müssen neben den Finanzen immer
auch die Qualität ihrer Schule im Blick haben.
Hat der Wunsch nach mehr Separation auch damit zu
tun, dass sich viele Lehrpersonen stark belastet fühlen?
Zurzeit
haben die Lehrpersonen ein enorm breites Leistungsspektrum in ihren Klassen zu
bewältigen. Das aber stellt hohe Anforderungen an den differenzierenden
Unterricht. Besonders deutlich wird das in der Sek B, in der ehemalige mittlere
Sekundarschüler neben früheren Werkklässlern sitzen. Ich könnte mir gerade hier
zwei Niveaustufen vorstellen. Dass sich viele Lehrpersonen stark belastet
fühlen, hat auch damit zu tun, dass die Lehrmittel bei der Differenzierung des
Unterrichts noch zu wenig Unterstützung bieten.
Plädieren Sie für eine Gesetzesänderung: Soll es den
Schulträgern künftig möglich sei, frei zwischen dem System Kleinklassen oder
der Integration zu wählen?
Es
geht uns um massgeschneiderte Lösungen, um ein Mischsystem, um Separation
innerhalb der Integration. Ich kann momentan nicht sagen, ob es dafür eine
Gesetzesänderung braucht. Man kann möglicherweise auch auf dem Verordnungsweg
eine Palette separativer Formen definieren. Der Weg der Integration ist für uns
nach wie vor richtig. Die Integration ist zudem eine Vorgabe der Verfassung.
Wir müssen uns aber bewusst sein, dass die Schule für alle kaum vollständig
realisiert werden kann. Integration hat ihre Grenzen. Die Frage ist einfach, wo
wir diese Grenze ziehen. Und das hat mit den finanziellen Möglichkeiten zu tun.
Das Hauptziel der Speziellen Förderung besteht
darin, dass schwächere Schüler nicht stigmatisiert werden – wird das erreicht?
Wir
dürfen uns keine Illusionen machen, es gibt auch jetzt noch gewisse
Stigmatisierungen. Durch die integrative Schule haben diese aber klar
abgenommen. Und wenn künftig wieder gewisse separative Formen eingeführt
werden, darf das beispielsweise natürlich nicht dazu führen, dass ein Schüler
wieder in einem anderen Dorf in die Schule gehen muss.
Auffallend ist, dass in der Umfrage sich selbst 50
Prozent der Förderlehrpersonen für separative Formen aussprechen….
Das
ist vor allem deshalb aussergewöhnlich, weil sich die Förderlehrpersonen bei
vielen Fragen in aller Regel mit einem hohen Prozentsatz für die integrative
Schule aussprechen. Erstaunlich ist zudem, dass sich gerade auch ein
beträchtlicher Anteil jüngerer Lehrkräfte für separative Formen ausspricht.
Nicht zu bewahrheiten scheint sich die Furcht, dass
starke Schüler durch die Integration in ihren Lernfortschritt behindert werden?
Aus
der Sicht der Lehrerschaft ist das so. Ein hoher Prozentsatz von über 60
Prozent ist sogar der Meinung, dass auch Schüler ohne Förderbedarf von der
Integration profitieren. In einem gewissen Widerspruch dazu steht allerdings,
dass über 50 Prozent davon überzeugt sind, dass die integrative Schule
ausschliesslich den leistungsschwächeren Schülern etwas bringt.
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