In diesem Jahr hat die Mathematikprüfung für den mittleren
Schulabschluss in Berlin und Brandenburg einen neuen Tiefstand erreicht. Die
Schulmathematik ist auf Betreiben des von Psychologen geleiteten Instituts für
Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) zur reinen Vortäuschung des
Rechnens geworden. Die zuständige Behörde sieht es anders: Das Landesinstitut
für Schule und Medien Berlin-Brandenburg will keine „signifikante Häufung
einfacher Aufgaben“ beobachtet haben.
Mit Vera hat Nick leichtes Spiel, Frankfurter Allgemeine, 11.8. von Hans-Jürgen Bandelt, Astrid Baumann, Wolfgang Kühnel, Franz Lemmermeyer, Thilo Steinkrauss
Was gilt als einfach? Eine Teilaufgabe in der Berliner Prüfung zum
mittleren Schulabschluss lautete: „Im Filmpark Babelsberg wird in jedem Jahr
die Anzahl der Besucher gezählt. Geben Sie ein Jahr an, in dem die Besucherzahl
niedriger als 300 000 war.“ Gezeigt wird keine Tabelle, sondern ein
Säulendiagramm für die Jahre 2007 bis 2015. Eine solche Aufgabe ist gar keine
Mathematik. Der Prüfling musste nur die kürzeste Säule aussuchen und die
darunter stehende Ziffernfolge abmalen. Hätte er dabei nur ein wenig
fehlgegriffen, wäre er auch mit einem Punkt belohnt worden.
Außerdem hat der Lehrer vor der Prüfung mit seinen Schülern gewiss ein
halbes Jahr lang Ablesen und Zeichnen anhand der Aufgaben aus dem Aufgabenpool
Vera 8 des IQB für Achtklässler geübt. Hier findet sich eine solche Aufgabe
unter „Darstellung in Diagrammen“. Sie fordert vom Schüler
Säuleninterpretationskompetenz, die zur „Allgemeinen Kompetenz K3“
(Mathematisch Modellieren) zählt. Doch tatsächlich hat die Aufgabe mit
Mathematik und Modellieren nichts zu tun, sondern nur mit Lesefähigkeit und
Alltagsverstand.
Verkümmerter Alltagsverstand
Vera stellt Achtklässlern Aufgaben wie „Zeichne ein Quadrat mit der
Seitenlänge fünf Zentimeter“. Die Aufgabe ist der Leitidee L3, der Allgemeinen
Kompetenz K5, dem Anforderungsbereich I und der Kompetenzstufe 1A im „Didaktischen
Kommentar“ zugeordnet. Wer sich statt dessen auf die didaktische Kombination
L1-K4-I-1A einlassen will, darf ein analoges Fieberthermometer ablesen. Mit
Aufgaben dieser Art werden schon Drittklässler in den jährlichen
bundesdeutschen Zwangstests Vera 3 traktiert. Gern beruft man sich darauf, dass
für den Alltag die Grundrechenarten ausreichen. Ein derart verkümmerter
Alltagsverstand kann aber nicht einmal mehr die einfachsten logischen
Folgerungen vollziehen. Der Alltagsverstand ist nicht fix, sondern schärft sich
durch die Schule.
Vor anspruchsvolleren Aufgaben wurde in Berlin mit einem Sternchen
gewarnt. Die höhere Schwierigkeitsstufe, die ein Drittel der Gesamtpunktzahl
ausmacht, wird aber allen „inkludierten“ Schülern erlassen, die nur die „erweiterte
Berufsbildungsreife“ erlangen sollen. Anspruchsvoll soll beispielsweise
folgende Teilaufgabe sein: „In der Jugendherberge gibt es Drei-Bett-Zimmer und
Fünf-Bett-Zimmer. Es stehen sechzehn Zimmer mit insgesamt 66 Betten zur
Verfügung. Ermitteln Sie die Anzahl der Drei-Bett-Zimmer und der
Fünf-Bett-Zimmer.“
Der Prüfling könnte sich nun überlegen: In sechzehn Dreibettzimmern
könnten nur 48 Betten stehen, die überzähligen achtzehn müssten zu je zweien
auf neun Zimmer verteilt werden, um daraus Fünfbettzimmer zu machen. Ein
Schüler mit schneller Auffassungsgabe könnte ebenso bedenken, dass bei gleich
vielen Drei- wie Fünfbettzimmer nur zwei Betten übrigbleiben, so dass er die
richtigen Anzahlen sofort mit Probe auf Richtigkeit hinschreibt. Aufgabe
gelöst.
Detektive im Klassenzimmer
Oder doch nicht ganz? Die Rechnung wurde nämlich ohne den „Operator“
gemacht. Operatoren sind die normierten Befehlsformen, die von der
Mathematikdidaktik unter der Ägide der Kultusministerkonferenz (KMK) ersonnen
wurden. Wichtig ist beispielsweise das „Ermitteln“. Unter „ermitteln“ versteht
die KMK: „Zusammenhänge oder Lösungswege aufzeigen und unter Angabe von
Zwischenschritten die Ergebnisse formulieren.“ Ermitteln gilt per se als
anspruchsvoll. Wer nur die Reife zum Beruf anstrebt, muss in Berlin nichts
ermitteln.
Wenn der Schüler die Lösung sofort sieht und begründen kann, lässt ihn
die Aufforderung „Ermitteln Sie!“ trotzdem im Ungewissen. Soll er nun zwei
Gleichungen in x und y hinschreiben (zwei Punkte) und lösen (zwei Punkte) oder
nicht? Überraschenderweise wird laut Korrekturunterlagen gnädig beschieden:
„Auch eine Lösung durch Probieren - mit Nachweis - wird akzeptiert.“
Die meiste Arbeit hat der
Taschenrechner
Blicken wir zurück. Wie sah eine Realabschlussprüfung Mathematik in
Baden-Württemberg vor vierzig Jahren aus? Ebenso wie die heutige Berliner
Prüfung hatte sie acht Aufgaben, die aber mehrere Teilfragen hatten und
ausführliche Rechnungen ohne Taschenrechner erforderten. Keine Sachaufgaben
waren darunter. Es gab zwei Aufgaben zu arithmetischen und geometrischen
Folgen, zwei zu Rotationskörpern, eine zu Dreiecken, eine zu Trapezen, eine zu
Quadern und eine zu Pyramidenstümpfen. Bei den Teilfragen kam fast das ganze
Arsenal des geometrischen Curriculums zum Einsatz, fast alles Themen, die im
heutigen Gymnasium nicht einmal mehr zugelassen sind. Kein heutiger Realschüler
und kaum ein Abiturient würde diese Prüfung bestehen.
Die letzte Teilaufgabe der baden-württembergischen Prüfung setzte
räumliches Vorstellungsvermögen voraus, wie es ein angehender Student beim
technischen Zeichnen oder im Ingenieurwesen benötigt: „Einem quadratischen
Pyramidenstumpf mit den Maßen a = 6,3 Zentimeter (Länge der Grundkante), b =
4,2 Zentimeter (Länge der Deckkante) und s = 5,5 Zentimeter (Länge der
Seitenkante) wird eine Kugel umbeschrieben. Wie groß sind der Radius und das
Volumen dieser Umkugel?“ Zum Vergleich die Berliner Kugelstoß-Teilaufgabe 3c:
„Der Durchmesser einer Kugel für Männer beträgt zwölf Zentimeter. Berechnen Sie
das Volumen der Kugel für Männer.“ Ein Blick auf das Formeldoppelblatt,
Eintippen in den Taschenrechner, fertig!
Zu den Autoren: Hans-Jürgen Bandelt ist Professor für Mathematik an der
Universität Hamburg, Astrid Baumann lehrt Mathematik an der Frankfurt
University of Applied Sciences, Wolfgang Kühnel ist emeritierter Professor für
Mathematik an der Universität Stuttgart, Franz Lemmermeyer lehrt Mathematik am
Gymnasium St. Gertrudis in Ellwangen, Thilo Steinkrauß am Herder-Gymnasium in
Berlin.
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