4. Oktober 2016

Von Geschichte, Kompetenzen und der Bildungspolitik

Der Geschichtsunterricht an deutschen Schulen liegt im Argen. Geschichte gilt, anders als Deutsch, Fremdsprachen und die MINT-Fächer, nicht als Standardfach. In welchem Maße es gelehrt wird, unterscheidet sich von Schultyp zu Schultyp und von Bundesland zu Bundesland, doch ist der Befund insgesamt beklagenswert. Verheerend ist die Situation an Gesamtschulen, wo Geschichte in der Sekundarstufe I nicht mehr als eigenes Fach, sondern im Verbund mit Geographie und Sozialwissenschaften als Gesellschaftskunde unterrichtet wird, wogegen die drei betroffenen Fachlehrerverbände mit gutem Grund protestierten. Geschichte wird im neuen Hybridfach gar nicht mehr in allen Fällen von einem Geschichtslehrer unterrichtet, dasselbe gilt umgekehrt für Geographie und Sozialkunde. Ausgerechnet in einer Zeit großer politischer Krisen leisten sich die Bundesländer eine schleichende Entwertung und Deprofessionalisierung des Unterrichts.
Geschichte hat mit Zeit zu tun - im Bild die Prager Rathausuhr, Bild: Alfred Buellesbach
Wie die Zeit aus der Geschichte verschwindet, Frankfurter Allgemeine, 25.9. von Martin Schulze Wessel
In allen Schultypen ist der Trend in der Sekundarstufe I eindeutig: Um auch nur die allerwichtigsten historischen Ereignisse in den Blick nehmen zu können, werden die Lehrpläne bei einer viel zu geringen Stundenzahl überfüllt. Trotzdem reicht es kaum zum Blick über die eigene Nationalgeschichte hinaus, ganz zu schweigen von globalhistorischen Perspektiven. Vor allem ist Muße nicht vorgesehen, die wichtigste Voraussetzung, um komplexe historische Zusammenhänge zu begreifen. Diesen Hintergrund muss man kennen, um die Diskussion über die sogenannte Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht einordnen zu können. „Kompetenzorientierung“ bestimmt seit einigen Jahren die fachdidaktischen Debatten, die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz, die Curricula.

Grundidee ist die sogenannte Output-Orientierung, derzufolge nicht mehr die Inhalte der Schulbildung im Vordergrund stehen, sondern das, „was alle Kinder und Jugendlichen am Ende ihrer schulischen Laufbahn ... wissen und können sollen“. So schreiben es die Bildungsstandards vor, als ob Inhalte nicht der Vermittlung bedürften und Wissen und Können nicht von Inhalten abhängig wären. Doch ist dieser Scheingegensatz nur eine von vielen Ungereimtheiten in einer ausgesprochen verworrenen Bildungsdebatte.

Ökonomisierung der Geschichte
Es entbehrt nicht der Ironie, dass der Begriff der Kompetenzorientierung die geschichtsdidaktische Diskussion erst erreichte, als sich 29 OECD-Staaten anschickten, Bildung mit den Pisa-Tests messbar zu machen. Dafür wurde ein diagnostisches Messinstrument benötigt, das kulturunabhängig war. So konstruierte man das Kompetenzkonzept, das in der Pädagogik zuvor unbekannt war. Obwohl das Fach Geschichte für Pisa gar nicht vorgesehen war, hat sich das Kompetenzkonzept im vorauseilenden Gehorsam auch in den Bildungsstandards für Geschichte durchgesetzt. Da wird es gegen den „klassischen“ oder „akademischen“ Geschichtsunterricht in Stellung gebracht, der noch an Bildungsinhalten interessiert war.

Dass das Kompetenzkonzept mit seiner Output-Orientierung zutiefst ökonomistischen Theorien verpflichtet ist, die Bildung nur als menschliche Ressource betrachten, scheint die Bundesländer, ob konservativ, sozialdemokratisch oder grün regiert, nicht zu bekümmern. Kompetenzorientierung ist neutral gegenüber Ethik, sie hält zu fortgesetzten Anpassungsleistungen an das Vorgefundene an. Unfreiwillig wurde dies von einer Neuerscheinung auf dem didaktischen Buchmarkt illustriert: 2013 erschienen zwei Bände „Kompetenzen fokussieren“, die von einem „Institut für mentale Konditionierung“ herausgegeben wurden. Mit „mentaler Konditionierung“ machte sich in der stalinistischen Sowjetunion Iwan Petrowitsch Pawlow einen Namen.

Labyrinth der Kompetenzen
Selbst wenn man derartig abseitige Publikationen ausklammert, ist es schwer zu ergründen, was mit Kompetenzorientierung eigentlich gemeint ist. Mehrere Konzepte konkurrieren miteinander. Waltraud Schreiber von der Universität Eichstätt initiierte das internationale FUER-Projekt (Förderung und Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins), das in ein Kompetenzstrukturmodell historischen Denkens mündete. Der Geschichtslehrerverband legte ein Modell vor, das Reflexions- und Deutungskompetenz, Sachkompetenz und Medien- und Methodenkompetenz unterscheidet und daneben auch Wert auf kanonische Inhalte legt. Der Hallenser Fachdidaktiker Hans-Jürgen Pandel zählte in der jüngsten Ausgabe der Verbandszeitschrift „Geschichte für heute“ dreißig grundverschiedene Kompetenzmodelle für Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht. Entsprechend divers sind die Vorgaben der Bundesländer: Das Schulministerium in Bayern orientiert sich am FUER-Projekt, während zum Beispiel Rheinland-Pfalz dem Modell des Geschichtslehrerverbands folgt. So divers die verschiedenen Kompetenzkonzepte sind, so stimmen sie doch darin überein, die der Geschichte eigentlich zugrundeliegende Kategorie des Gewordenseins, die sich nur in langen zeitlichen Zusammenhängen aufspüren lässt, zugunsten von funktionalen Betrachtungen der Geschichte partiell oder ganz aufzugeben.
Am neuen rheinland-pfälzischen Lehrplan kann man ablesen, in welche Abgründe die Verzweckung des Geschichtsunterrichts führen kann: Da dient die Beschäftigung mit dem Holocaust ganz explizit dem Kompetenzerwerb, am Beispiel des Holocausts soll gelernt werden, was ein Zivilisationsbruch ist. In der Unterrichtspraxis treten kompetenzorientierte Lernaufgaben oft neben den Lehrervortrag oder das Klassengespräch. Das kann Lernprozesse fördern, führt aber häufig geradewegs in die Anachronismusfalle. Stellt man einem Schüler die Aufgabe: „Was würdest du an der Stelle von Otto Wels tun?“, dann erfordert das nicht nur die Kenntnis des Ermächtigungsgesetzes, gegen das Wels 1933 im Reichstag auftrat, sondern die Kenntnis breiter historischer Kontexte, um nicht sehr kurzschlüssig zu enden.

Geschichte als Demokratieschule
Wie kein anderes Fach hat Geschichte vielfältige Orientierungsfunktionen: Es lehrt Skepsis gegenüber den verlockend einfachen Totalentwürfen für die Gesellschaft, und es vermittelt Einsicht in die Ambivalenzen politischer Entscheidungen, deren langfristige Wirkung in der Gegenwart nicht abzusehen ist. Wie begrenzt die Spielräume politischen Handelns manchmal sind, ist kaum aus der Beschäftigung mit der Tagespolitik zu erkennen. Erst nach der Öffnung der Archive werden für historische Situationen die Umstände politischer Entscheidungen umfassend sichtbar. Zugleich eröffnet das Eintauchen in die fremde Welt zurückliegender Epochen die Möglichkeit, sich von den Selbstverständlichkeiten der Gegenwart zu emanzipieren, sich eine andere Zukunft vorzustellen. Nicht von ungefähr schreiben Diktaturen eine doktrinär festgelegte Zukunft vor oder proklamieren eine andauernde Gegenwart. Geschichte hat insofern eine emanzipative Funktion, ihr Studium schult das Denken in Alternativen und vermittelt ein Bewusstsein für die Kontingenz des politischen Geschehens: Chancen können ergriffen, aber auch verpasst werden.
Geschichtsbewusstsein entsteht nicht als Addition aus verschiedenen fachlichen oder fachübergreifenden Kompetenzen. Schon gar nicht ist es, wie im rheinland-pfälzischen Lehrplan für Geschichte formuliert, ein „fachdidaktisches Prinzip“, aus dem sich die geforderten Kompetenzen ableiten ließen. Geschichtsbewusstsein ist eine selbstreflexive Instanz, unverzichtbar für die staatsbürgerliche Identität. Der Schulunterricht kann das fördern. Sich in der Geschichte orientieren zu können ist für Kinder und Jugendliche ein großer Schritt. Für die Demokratie ist es der beste Schutz gegen radikale Vereinfachungen des neuen Populismus.


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