Der Geschichtsunterricht an deutschen Schulen liegt im Argen. Geschichte
gilt, anders als Deutsch, Fremdsprachen und die MINT-Fächer, nicht als
Standardfach. In welchem Maße es gelehrt wird, unterscheidet sich von Schultyp
zu Schultyp und von Bundesland zu Bundesland, doch ist der Befund insgesamt
beklagenswert. Verheerend ist die Situation an Gesamtschulen, wo Geschichte in
der Sekundarstufe I nicht mehr als eigenes Fach, sondern im Verbund mit
Geographie und Sozialwissenschaften als Gesellschaftskunde unterrichtet wird,
wogegen die drei betroffenen Fachlehrerverbände mit gutem Grund protestierten.
Geschichte wird im neuen Hybridfach gar nicht mehr in allen Fällen von einem
Geschichtslehrer unterrichtet, dasselbe gilt umgekehrt für Geographie und
Sozialkunde. Ausgerechnet in einer Zeit großer politischer Krisen leisten sich
die Bundesländer eine schleichende Entwertung und Deprofessionalisierung des
Unterrichts.
Geschichte hat mit Zeit zu tun - im Bild die Prager Rathausuhr, Bild: Alfred Buellesbach
Wie die Zeit aus der Geschichte verschwindet, Frankfurter Allgemeine, 25.9. von Martin Schulze Wessel
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In allen Schultypen ist der Trend in der Sekundarstufe I eindeutig: Um
auch nur die allerwichtigsten historischen Ereignisse in den Blick nehmen zu
können, werden die Lehrpläne bei einer viel zu geringen Stundenzahl überfüllt.
Trotzdem reicht es kaum zum Blick über die eigene Nationalgeschichte hinaus,
ganz zu schweigen von globalhistorischen Perspektiven. Vor allem ist Muße nicht
vorgesehen, die wichtigste Voraussetzung, um komplexe historische Zusammenhänge
zu begreifen. Diesen Hintergrund muss man kennen, um die Diskussion über die
sogenannte Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht einordnen zu können.
„Kompetenzorientierung“ bestimmt seit einigen Jahren die fachdidaktischen
Debatten, die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz, die Curricula.
Grundidee ist die sogenannte Output-Orientierung, derzufolge nicht mehr
die Inhalte der Schulbildung im Vordergrund stehen, sondern das, „was alle
Kinder und Jugendlichen am Ende ihrer schulischen Laufbahn ... wissen und
können sollen“. So schreiben es die Bildungsstandards vor, als ob Inhalte nicht
der Vermittlung bedürften und Wissen und Können nicht von Inhalten abhängig
wären. Doch ist dieser Scheingegensatz nur eine von vielen Ungereimtheiten in
einer ausgesprochen verworrenen Bildungsdebatte.
Ökonomisierung der Geschichte
Es entbehrt nicht der Ironie, dass der Begriff der Kompetenzorientierung
die geschichtsdidaktische Diskussion erst erreichte, als sich 29 OECD-Staaten
anschickten, Bildung mit den Pisa-Tests messbar zu machen. Dafür wurde ein
diagnostisches Messinstrument benötigt, das kulturunabhängig war. So
konstruierte man das Kompetenzkonzept, das in der Pädagogik zuvor unbekannt
war. Obwohl das Fach Geschichte für Pisa gar nicht vorgesehen war, hat sich das
Kompetenzkonzept im vorauseilenden Gehorsam auch in den Bildungsstandards für
Geschichte durchgesetzt. Da wird es gegen den „klassischen“ oder „akademischen“
Geschichtsunterricht in Stellung gebracht, der noch an Bildungsinhalten
interessiert war.
Dass das Kompetenzkonzept mit seiner Output-Orientierung zutiefst
ökonomistischen Theorien verpflichtet ist, die Bildung nur als menschliche
Ressource betrachten, scheint die Bundesländer, ob konservativ,
sozialdemokratisch oder grün regiert, nicht zu bekümmern. Kompetenzorientierung
ist neutral gegenüber Ethik, sie hält zu fortgesetzten Anpassungsleistungen an
das Vorgefundene an. Unfreiwillig wurde dies von einer Neuerscheinung auf dem
didaktischen Buchmarkt illustriert: 2013 erschienen zwei Bände „Kompetenzen
fokussieren“, die von einem „Institut für mentale Konditionierung“
herausgegeben wurden. Mit „mentaler Konditionierung“ machte sich in der
stalinistischen Sowjetunion Iwan Petrowitsch Pawlow einen Namen.
Labyrinth der Kompetenzen
Selbst wenn man derartig abseitige Publikationen ausklammert, ist es
schwer zu ergründen, was mit Kompetenzorientierung eigentlich gemeint ist.
Mehrere Konzepte konkurrieren miteinander. Waltraud Schreiber von der
Universität Eichstätt initiierte das internationale FUER-Projekt (Förderung und
Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins), das in ein
Kompetenzstrukturmodell historischen Denkens mündete. Der
Geschichtslehrerverband legte ein Modell vor, das Reflexions- und
Deutungskompetenz, Sachkompetenz und Medien- und Methodenkompetenz
unterscheidet und daneben auch Wert auf kanonische Inhalte legt. Der Hallenser
Fachdidaktiker Hans-Jürgen Pandel zählte in der jüngsten Ausgabe der
Verbandszeitschrift „Geschichte für heute“ dreißig grundverschiedene
Kompetenzmodelle für Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht. Entsprechend
divers sind die Vorgaben der Bundesländer: Das Schulministerium in Bayern
orientiert sich am FUER-Projekt, während zum Beispiel Rheinland-Pfalz dem
Modell des Geschichtslehrerverbands folgt. So divers die verschiedenen
Kompetenzkonzepte sind, so stimmen sie doch darin überein, die der Geschichte
eigentlich zugrundeliegende Kategorie des Gewordenseins, die sich nur in langen
zeitlichen Zusammenhängen aufspüren lässt, zugunsten von funktionalen Betrachtungen
der Geschichte partiell oder ganz aufzugeben.
Am neuen rheinland-pfälzischen Lehrplan kann man ablesen, in welche
Abgründe die Verzweckung des Geschichtsunterrichts führen kann: Da dient die
Beschäftigung mit dem Holocaust ganz explizit dem Kompetenzerwerb, am Beispiel
des Holocausts soll gelernt werden, was ein Zivilisationsbruch ist. In der
Unterrichtspraxis treten kompetenzorientierte Lernaufgaben oft neben den
Lehrervortrag oder das Klassengespräch. Das kann Lernprozesse fördern, führt
aber häufig geradewegs in die Anachronismusfalle. Stellt man einem Schüler die
Aufgabe: „Was würdest du an der Stelle von Otto Wels tun?“, dann erfordert das
nicht nur die Kenntnis des Ermächtigungsgesetzes, gegen das Wels 1933 im
Reichstag auftrat, sondern die Kenntnis breiter historischer Kontexte, um nicht
sehr kurzschlüssig zu enden.
Geschichte als Demokratieschule
Wie kein anderes Fach hat Geschichte vielfältige
Orientierungsfunktionen: Es lehrt Skepsis gegenüber den verlockend einfachen
Totalentwürfen für die Gesellschaft, und es vermittelt Einsicht in die
Ambivalenzen politischer Entscheidungen, deren langfristige Wirkung in der
Gegenwart nicht abzusehen ist. Wie begrenzt die Spielräume politischen Handelns
manchmal sind, ist kaum aus der Beschäftigung mit der Tagespolitik zu erkennen.
Erst nach der Öffnung der Archive werden für historische Situationen die
Umstände politischer Entscheidungen umfassend sichtbar. Zugleich eröffnet das
Eintauchen in die fremde Welt zurückliegender Epochen die Möglichkeit, sich von
den Selbstverständlichkeiten der Gegenwart zu emanzipieren, sich eine andere
Zukunft vorzustellen. Nicht von ungefähr schreiben Diktaturen eine doktrinär
festgelegte Zukunft vor oder proklamieren eine andauernde Gegenwart. Geschichte
hat insofern eine emanzipative Funktion, ihr Studium schult das Denken in
Alternativen und vermittelt ein Bewusstsein für die Kontingenz des politischen
Geschehens: Chancen können ergriffen, aber auch verpasst werden.
Geschichtsbewusstsein entsteht nicht als Addition aus verschiedenen
fachlichen oder fachübergreifenden Kompetenzen. Schon gar nicht ist es, wie im
rheinland-pfälzischen Lehrplan für Geschichte formuliert, ein „fachdidaktisches
Prinzip“, aus dem sich die geforderten Kompetenzen ableiten ließen.
Geschichtsbewusstsein ist eine selbstreflexive Instanz, unverzichtbar für die
staatsbürgerliche Identität. Der Schulunterricht kann das fördern. Sich in der
Geschichte orientieren zu können ist für Kinder und Jugendliche ein großer
Schritt. Für die Demokratie ist es der beste Schutz gegen radikale
Vereinfachungen des neuen Populismus.
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