30. Oktober 2016

Hochschule für Heilpädagogik gegen Kleinklassen

Was tun mit verhaltensauffälligen und schwachen Schülern? Während sie früher meist in Kleinklassen versorgt wurden, werden sie heute normalerweise in die Regelklasse integriert und von Heilpädagogen unterstützt. In diese Richtung haben sich die meisten Schweizer Schulen in den letzten zehn Jahren entwickelt. Das bringe Unruhe in die Klasse, störe die Mitschüler und überfordere die Lehrer, sagen Kritiker.
Umstrittene Kleinklassen, NZZaS, 30.10. von René Donzé


Im Kanton Aargau haben darum SVP und FDP zum Angriff auf das System geblasen. Mit je einer Motion fordern sie, dass auf integrierte Heilpädagogik verzichtet wird und Schüler mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten nur noch in Kleinklassen gefördert werden. Damit würde der Aargau eine bildungspolitische Trendwende einläuten. Die FDP schreibt, die integrative Schulungsform habe ihre Ziele verfehlt, darum stehe sie heute schweizweit auf dem Prüfstand. Über die beiden Vorstösse wird am 8. November im Kantonsparlament diskutiert.

Nun schaltet sich die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik aus Zürich in die Debatte ein. «Es geht hier um grundsätzliche Fragen von nationaler Bedeutung», sagt Steff Aellig von der Hochschule. Er hat mit Departementsleiter Josef Steppacher relevante Studien zum Thema zusammengefasst und eine Dokumentation erstellt, die sie in den nächsten Tagen Aargauer Politikern und Medien zuschicken werden.

Das Fazit ist klar: Kinder und Jugendliche, die in Kleinklassen zur Schule gehen, werden stigmatisiert und haben es später viel schwerer als solche, die in Regelklassen integriert werden. «Integriert geschulte Kinder mit Lern- oder Verhaltensproblemen haben signifikant höhere Chancen auf einen erfolgversprechenden Berufszugang, als dies ehemalige Sonderklässler haben», wird eine Studie der Pädagogischen Hochschule Bern zitiert. Für Aellig ist dies das schlagkräftigste Argument. «Es geht um die langfristigen Perspektiven dieser Kinder.» Je besser diese seien, desto besser sei das auch für die Gesellschaft.
Wie sehr die integrierten Schüler kurzfristig profitieren, ist weniger klar: Einige Studien sprechen von besseren Lernfortschritten, andere wiederum relativieren das. Auch darauf weist das Dossier hin. «Wir wollen die Diskussion versachlichen», sagt Aellig. Gleichzeitig aber verstehe man sich als Anwälte sowohl der betroffenen Kinder als auch der Fachpersonen, die von der Hochschule ausgebildet werden. SVP-Grossrat Richard Plüss erstaunt es nicht, dass sich die Hochschule zu Wort meldet: «Es geht schliesslich um ihre Klientel», sagt er. Der Aargau gehört zu den 13 Trägerkantonen der Schule.

In der Sache zeichnet sich inzwischen ein mehrheitsfähiger Kompromiss ab. Die Regierung lehnt zwar die SVP-Motion ab. Den FDP-Vorstoss würde sie aber als Postulat entgegennehmen. Sie will prüfen, wie schwierige oder schwache Schüler vorübergehend oder während gewisser Stunden separat beschult werden können. «Ich kann mir vorstellen, dass wir darauf einschwenken», sagt Plüss. Auch FDP-Grossrätin Sabina Freiermuth zeigt sich dialogbereit: «Wir wollen ja nicht zurück zum alten System, sondern gezielt Probleme lösen.» Die SP signalisiert ebenfalls Zustimmung zu diesem Vorgehen.

Solche Time-outs oder vorübergehende Placierungen in Kleinklassen könnten durchaus sinnvoll sein, sagt Aellig – solange die Schüler wieder den Weg zurück in die Regelklasse fänden. «Man darf über die Integration durchaus auch kritisch diskutieren», sagt er. Die Hochschule für Heilpädagogik wolle sich aber in Zukunft vermehrt in diese politische Debatte einbringen. Gelegenheit dazu wird es weiterhin geben. So hat unlängst der Zürcher Kantonsrat die Regierung damit beauftragt, Aufwand und Ertrag der schulischen Integration kritisch zu überprüfen.


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