"Die Linken sollen Farbe bekennen", Bieler Tablatt, 8.10. von Lotti Teuscher
Alain
Pichard, haben Sie ein schlechtes Gewissen?
Alain Pichard: Weshalb sollte ich ein
schlechtes Gewissen haben?
Sie
sind das Zugpferd der Grünliberalen. Vor den Bieler Wahlen haben Sie Ihren
Rücktritt bekannt gegeben und prompt hat die Partei zwei von sechs Sitzen
verloren.
Man kann nicht sagen, dass die beiden Sitze
wegen mir verloren gingen, denn wir hatten mit dem Sitzverlust gerechnet.
Weshalb?
Die GLP hat sehr unpopuläre Entscheide
mitgetragen und damit Leute vor den Kopf gestossen, die uns vor vier Jahren
gewählt hatten. Wir waren zum Beispiel während der Spardebatte der Meinung,
dass das Tobs Biel-Solothurn ebenfalls einen Sparbeitrag leisten müsse.
Und das
bereuen Sie jetzt?
Keineswegs, wir betreiben keine
Klientelpolitik. Wir sehen das Ganze. Auch wenn es unpopulär ist.
Sie
machen den Eindruck eines Vollblutpolitikers. Dennoch treten Sie nach nur zwei
Legislaturen zurück. Warum?
Keine Angst, ich gehe ja der Politik ja nicht
verloren. Politisch handeln ist nicht nur an das Ausüben eines Mandats gebunden,
es gibt viele andere politischen Mitwirkungsformen. Allerdings bin ich jetzt
61-jährig und es ist Zeit, Jüngeren Platz zu machen. Mit ein Grund ist auch,
dass ich merkte, dass mein Engagement im Stadtrat zu Lasten des Unterrichts
gegangen ist: Die Rückmeldungen meiner Schüler waren nicht mehr so gut.
Aktiv
bleiben werden Sie in Bezug auf Harmos, denn Sie bekämpfen die Schulreform.
Ich befürwortete es, dass die Schweizer
Schulen gemeinsame Strukturen haben, dass sie sich bezüglich Lehrplaninhalten
absprechen... Aber? Harmos ist keine Harmonisierungsvorlage mehr, sondern
strebt eine Steuerung und eine Kontrolle des Unterrichts an. Eine Allianz von
Politik, Verwaltung und Wissenschaft versucht, die Schule auf Output zu trimmen
und sorgt damit auch für eine Auftragssicherheit für sich selber, denn die
Vorlage spült riesige Geldmengen in die Kasse der Verantwortlichen.
Sie
erheben harte Vorwürfe. Haben Sie Beweise?
Allein die Einführung von Frühfranzösisch
kostet die fünf Passepartout-Kantone etwa 100 Millionen Franken. Passepartout
ist das teuerste und übrigens auch das blödsinnigste Lehrmittel, das je auf den
Markt kam. Auch die Weiterbildungskosten für Lehrer werden Millionen kosten;
der Kanton Bern wird für alle Anpassungen etwa 30 Millionen ausgeben müssen.
Dies sind gewaltige Summen, die in der Praxis fehlen werden.
Die
Berufswelt wird komplexer. Deshalb sind Investitionen in die Schulbildung
sinnvoll.
Nicht jede Investition in die Bildung ist per
se gut. Gut ist sie nur, wenn sie erfolgreich ist und die Bildungsqualität
fördert. Im Gegensatz zu dem Geschwätz vom Bildungsabbau müssen wir
feststellen, dass die Kosten für die Bildung massiv steigen. Aber nicht alle
Mittel kommen dort an, wo es sie dringendst bräuchte!
Sie waren
ursprünglich bei den Grünen und empfanden den Wechsel zur GLP als befreiend.
Weshalb?
Die Grünliberalen politisieren nach folgendem
Grundsatz: Wenn ein Problem auftaucht und es liegt ein Lösungsvorschlag auf dem
Tisch, wird zuerst gefragt, ob der Vorschlag etwas bringt. Danach wird gefragt:
Steht der Aufwand einigermassen im Verhältnis zum Ertrag? Weiter wird
untersucht, ob die Lösung eventuell positive oder negative Nebenwirkungen hat.
Danach ist die GLP entweder für oder gegen eine Lösung – egal, aus welcher
politischen Ecke sie kommt. Diese Art an ein Problem heranzugehen, ist
intellektuell und gedanklich befreiend und befruchtend.
Sie
waren Mitglied der Grünen, was bedeutet, dass es Ihnen auch dort gefallen hat.
Damals engagierte ich mich stark für den
Naturschutz, deshalb lag mir die grüne Partei am nächsten. Ich weiss nicht, ob
ich mich mit der Zeit verändert habe oder die Grünen. Ich stelle einfach fest,
dass meine ehemaligen Weggefährten immer sektiererischer werden, immer mehr auf
Weltuntergangsstimmung machen und mit Regulierungen und Verboten den Menschen
umerziehen wollen. Ausserdem sind sie grauenhaft etatistisch, versuchen wo
immer möglich Geld aus dem Staat zu holen und vergraulen damit die
Mittelschicht.
Initialzündung
für den Wechsel der Partei war Ihr Artikel in der «Weltwoche» vor zehn Jahren
über Probleme mit Immigrantenkinder an einer Bieler Schule. Wie kam es dazu?
Damals kam das Ausländergesetz von Bundesrat
Christoph Blocher aufs Tapet. Laut der Gegenkampagne war das Gesetz
fremdenfeindlich und bausche Probleme auf. Viele linke Lehrkräfte, wie auch
ich, sahen in diesem Gesetz auch vernünftige Aspekte. Deshalb schrieben drei
linke Lehrerkollegen und ich einen Artikel über die Schwierigkeiten mit
Migrantenkindern an den Bieler Schulen. Den Artikel wollte ich in meiner
eigenen Gewerkschaftszeitung publizieren, die ich mitgegründet hatte. Dies
wurde abgelehnt. Auch die «WOZ» druckte den Artikel nicht ab. Schliesslich
schickte ich den Artikel der «Weltwoche». Das löste dann eine riesige und zum
Teil bedrückende Reaktion aus, die mein Verbleiben bei den Grünen unmöglich
machte.
Sie
haben in diesem Artikel nicht nur die Probleme mit Migrantenkindern benannt,
sondern auch deren Nationalitäten genannt.
An den Schulen gibt es nicht einfach Probleme
mit Ausländerkindern, sondern mit Kindern gewisser Nationalitäten und Kulturen.
Mit Russen, Spaniern, Kindern aus der EU oder Vietnam hatten wir nicht mehr
Probleme als mit unseren eigenen Kids. Es waren vor allem muslimische Schüler,
mitunter auch Brasilianer, Dominikaner und Schwarzafrikaner, die uns und vor
allem sich selber zu schaffen machten. Dies wollte ich benennen, denn man darf
nicht alle Ausländer über eine Leiste scheren.
Wie
gravierend sind die Probleme von Immigrantenkindern heute?
Damals besuchten im Schnitt etwa 60 Prozent
aller Kinder die Sekundarschule. Dieses Verhältnis stimmt auch für Spanier,
Portugiesen oder Deutsche; die Kinder der Vietnamesen besuchten sogar fast alle
die Sekundarschule. Aber 80 bis 90 Prozent der Türken, Brasilianer, Dominikaner
und Albaner besuchen die Realschule. In meinen Augen war dies extrem
unbefriedigend. Meine Motivation als Lehrer ist, dass auch diese Kinder Erfolg
haben. Ich bin nicht gegen die Albaner oder Brasilianer, im Gegenteil ich
empfinde mich als deren Anwalt. Ich will, dass sie Erfolg haben. Aber dies
bedingt, ab und zu Klartext zu reden.
Werden
Kritiker auch heute noch in die rassistische Ecke gestellt?
Überhaupt nicht. Heute reden Bundesrätin
Sommaruga, Stadtpräsident Fehr und viele Linke genau gleich. Man hat erkannt,
dass auch etwas gefordert werden darf und dass Integration keine Einbahnstrasse
ist.
Als Sie
2006 den Artikel schrieben, gab es in Biel Klassen mit 80 Prozent ausländischen
Kindern, heute gibt es solche mit 100 Prozent. Dennoch hört man selten von
Problemen. Funktioniert das Unterrichten jetzt besser?
Richtig ist, dass die Schulen heute Mittel
zur Hand haben, die das Unterrichten erleichtern. Dazu gehört zum Beispiel der
Schulausschluss. Die Lehrer lassen sich nicht mehr auf der Nase herumtanzen,
sie wollen einen Bildungserfolg. Die Schulen sind geleitet, die Schulleitungen
sehr erfahren. Die Zusammenarbeit zwischen Schulleitung und Behörden hat sich
massiv verbessert. All dies trägt eindeutig Früchte. Niemand – vor allem auch
die Kinder unserer ausländischen Mitbürger – wollen ein Unterrichtschaos!
Disziplinarisch
hat sich somit einiges verbessert. Aber wie steht es mit dem schulischen
Erfolg?
Was wir nicht im Griff haben, und dies ist
ein grosses Problem, ist die erodierende Bildungsqualität. Zwischen 16 und 20
Prozent der Schulabgänger sind Illetristen: Sie könne zwar ihren Namen und ein
paar Sachen schreiben. Wenn sie nicht sofort einen Anschluss an die Schule
finden, vergessen sie alles und sind nach einem Jahr nicht mehr in der Lage,
einfache Texte zu lesen. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Jugendlichen auf
dem Arbeitsmarkt beschränkt vermittelbar sind. Dies ist auch der Grund, weshalb
die Stadt Biel im Vergleich zur Bevölkerungszahl verhältnismässig wenige
Lehrabschlüsse aufweist.
Was
steckt hinter diesem Phänomen?
Nach zwei bis drei Jahren in der Schweiz
leben 80 Prozent der aufgenommenen Asylbewerber von der Sozialhilfe. Das ist
eine Zeitbombe!
50
Prozent aller Bieler Schüler und Schülerinnen sprechen zu Hause weder Deutsch
noch Französisch. Wie gross ist die Belastung dieser Kinder?
Sie müssen eine riesige Anpassungsarbeit
leisten. Ich sage immer, sie müssen sich mehr anstrengen als ihre Schweizer
Mitkameraden. Für unsere Italiener in den 60er-Jahren war das immer klar. Wenn
sie es schaffen und ihre Chancen packen, dann beherrschen sie nach dem
Absolvieren der obligatorischen Schule Deutsch, Französisch und Englisch sowie
ihre eigene Muttersprache. Damit haben sie einen grossen Vorteil auf dem
Arbeitsmarkt. Aber leider passiert viel zu oft Folgendes: Die Kinder lernen
ihre eigene Muttersprache nicht richtig, und können trotz Unterricht aber am
Schluss weder Deutsch, Französisch noch Englisch sprechen.
Deutschsprachige
Bauernkinder im Berner Jura sprechen ab der vierten Klasse so gut französisch,
dass der Klassenlehrer nicht mehr merkt, dass sie eine andere Muttersprache
haben. Weshalb schaffen dies viele Immigrantenkinder nicht?
Dies hat damit zu tun, dass es
Parallelgesellschaften gibt. Wenn zum Beispiel ein türkisches Kind nach Hause
kommt, redet es leider viel zu oft ausschliesslich Türkisch, schaut türkisches
Fernsehen und spielt mit Kindern der gleichen Nationalität. Und wenn es in der
Klasse ebenfalls keine deutschsprachige, sondern nur fremdsprachige Kinder
gibt, wird es sehr schwierig.
Lange
galt, dass Immigranten nach zwei, spätestens nach drei Generationen integriert
waren. Dies gilt heute nicht mehr?
Es gilt mehrheitlich immer noch. Integration
war in der Schweiz während langer Zeit eine Erfolgsgeschichte – kaum ein Land
hat besser integriert als wir. Diese Erfolgsgeschichte gerät aber nun ins
Stottern. Wir stellen fest, dass bei gewissen Immigranten, die zweite
Generation keinen Fortschritt, sondern eher einen Rückschritt macht. Diese
Tendenz beobachten wir Lehrer mit grosser Sorge.
Woran
liegt dies?
Zum Teil, und das muss man eben sagen, liegt
es an der Zahl. In Klassen, in der eine Mehrheit andere Sprachen spricht als
Deutsch oder Französisch, wird es schwierig. Ausserdem muss man
zielorientierter arbeiten. Frühfranzösisch oder eine Filière bilingue sind
kontraproduktiv. Sicher müssen wir auch die Kinder früher erfassen und fördern.
Und das
geschieht nicht?
Biel müsste viel, viel mehr Geld investieren.
Denn es braucht hervorragende Lehrer an den Schulen, und es braucht das
Vier-Augen-Prinzip in den Schulklassen. Von den Bieler Linken erwarte ich, dass
sie nun Farbe bekennen. Denn sie waren stets für offene Grenzen und strichen
das Wort «Aufnahmefähigeit» aus ihrem Vokabular. Jetzt sind sie alle da, und
man muss ihnen eine Chance geben.
Biel
muss an allen Ecken und Ende sparen. Woher soll das Geld kommen?
Statt für die 900 Senioren-Abonnenten des
Tobs Millionen zu investieren oder überteuerte Öko-Label-Schulhäuser zu bauen,
gilt es jetzt, Millionen für den Unterricht, für die Informatik und die
Betreuung der Schüler freizumachen. Biel ist nicht mehr die Stadt der 60er
Jahre, sie ist, was viele nicht ohne Stolz sagen: Eine «Multikulti-Stadt,
farbig, kreativ zwar, aber mit gewaltigen sozialen Problemen. Jetzt müssen wir
das Geld umleiten und teilweise in die Migranten investieren. Dies würde deren
Kindern bessere Erfolge ermöglichen. Aber das Geld ist im Moment nicht
vorhanden.
Massgeblich
für den Erfolg der Schulkinder ist nicht nur Geld, verantwortlich sind auch die
Eltern. Gelingt es den Schulen, den Eltern fremdsprachiger Kindern
beizubringen, wie wichtig Bildung in der Schweiz ist?
Eine wichtige und
gute Frage. Unser Schweizer Schulsystem basiert stark auf der Elternmitarbeit.
Wenn diese mitziehen, wenn die Eltern die Schulanlässe besuchen und ihre Kinder
fördern, führt dies meistens zum Erfolg. Eltern, die nicht mitmachen wollen,
dazu zu bringen, ihre Kinder zu unterstützen, erfordert einen Kulturwandel.
Denn die Schweiz wendet keinen Zwang an, damit die Eltern ihre Kinder zum
Beispiel frühzeitig in Förderungsgruppen schicken. Es ist sehr schwierig,
Massnahmen durchzusetzen, die die Hoheit der Eltern über die Erziehung ihrer
Kinder einschränken.
Die
Frage ist doch: Beschränkt man sich auf jene Eltern, die ihre Kinder nicht
genügend unterstützen?
Genau, ich plädiere für eine solche Lösung.
Das Problem ist, dass dies zu einer Ungleichbehandlung führt, was dem Schweizer
Selbstverständnis widerspricht. Das Vordringlichste ist meiner Meinung jetzt:
Wir müssen unbedingt die Quote der Illetristen senken! Doch statt dieses
Problem anzugehen, wird ein idiotisches Frühfranzösischkonzept eingeführt und
Biel investiert stattdessen in die Filière bilingue...
...die
sehr beliebt ist bei den Eltern.
Genau, aber im Grunde genommen ist die
Filière bilingue eine Privatschule für den Mittelstand, die mit öffentlichem
Geld finanziert wird. Dass man damit die Restschulproblematik verschärft und
fremdsprachige Kinder mit einem bilingualen Unterricht komplett überfordert,
wird ausgeblendet!
Was
denken Sie zu folgenden drei Stichworten: Erfolgreiche Integration
fremdsprachiger Kindern?
Ist eines meiner grössten Anliegen.
Kopftuch
tragen in der Schule?
Ist für mich kein Problem, wenn die Mädchen
auch am Schwimmunterricht und an Lagern teilnehmen.
Burkaverbot?
Ich finde die Burka grässlich. Ich persönlich
bin aber liberal und deshalb grundsätzlich gegen Kleidervorschriften. Doch wer
wegen einer Burka in die Sozialhilfe gleitet, sollte massiv weniger Geld
erhalten. In der Schule hat eine Vollverschleierung hingegen nichts verloren.
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