Sonderpädagogik sei das lukrativste Geschäft der Schweiz, sagt Sefika
Garibovic, Autorin des Buches «Konsequent Grenzen setzen – Vom Umgang mit
schwierigen Jugendlichen». Sie erzählt im Interview, wieso man die sechs Zuger
Sonderschulen für Verhaltensauffällige schliessen soll und wieso Ritalinkinder
die nächsten Verdingkinder sind.
Sefika Garibovic: Lehrer haben einen Lehrauftrag, keinen Erziehungsauftrag, Bild: zvg
"Ritalin macht Zehnjährige zu Junkies!", Zentralplus, 8.10. von Lionel Hausheer
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Die Therapeutin Sefika Garibovic hat einen Erziehungsratgeber
geschrieben, der innert weniger Tage auf Platz 10 der Schweizer
Bestseller-Liste gelandet ist. Sie verachtet «Kuschelpädagogik», steht ein für
konsequente Grenzen, konservative Werte und setzt sich mit Herzblut und Feuer
für «ihre» Kinder ein. Damit stösst Sefika Garibovic auf grosses Echo: Zurzeit
kriegt sie ungefähr tausend Mails pro Tag mit Medienanfragen, Gratulationen von
Fachleuten und Rückmeldungen von Betroffenen.
Die «Kinder», die Sefika Garibovic aufnimmt, gelten als gescheitert,
weil sie aus allen Therapien bereits rausgefallen sind. Die Nacherzieherin
nimmt die Kinder und Jugendlichen trotzdem in ihrer Zuger Praxis auf. Ihre
Erfolgsquote bringt ihr den Respekt von Behörden, Bevölkerung und Fachleuten
ein. Was macht sie nur anders als alle anderen?
Sefika Garibovic: Ich lehre den Kindern Moral. Ich bringe den
Kindern bei, Respekt zu haben, vor sich selbst und anderen, und ich zeige
ihnen, wie sie sich in Hierarchien zurechtfinden und Verantwortung übernehmen.
Was ich verlange ist, dass alle Therapien abgebrochen werden und die Beziehung
der Eltern zum Kind wieder aufgebaut wird. Alle Parteien müssen wieder an einen
Tisch. Dafür bin ich 24 Stunden erreichbar für meine Kinder, die ganze Woche.
zentralplus: Was muss sich in der Beziehung zwischen Eltern und Kind ändern?
Garibovic: Kleinigkeiten! Beispielsweise, dass man sich während einem
Gespräch in die Augen schaut, dass man weiss, wer Vater und Mutter ist, dass
man wieder Rituale in der Familie hat. Dass sich Eltern und Kind wieder guten
Abend und gute Nacht wünschen. Eltern müssen zurückkehren zu alten Werten und
Normen.
zentralplus: Wieso haben Eltern keine Beziehung mehr zu ihren Kindern?
Garibovic: Weil sie die Kinder nie konfrontieren. Die Türe zu, besser gar
nicht hinschauen. Wenn sie etwas wollen, dann gibt man es ihnen. Eltern leben
mit ihren Kindern wie in einer WG. Die Tochter kriegt die Menstruation und
keiner merkt es. „Prominente Fachleute“ sagen, Kinder müssen selber
Entscheidungen treffen. Schauen Sie: Tiere machen es viel besser. Was passiert
mit einem kleinen Elefäntchen, das nach der Geburt sich selbst überlassen wird?
Es wird gefressen.
zentralplus: Was wäre denn die Analogie zum Mensch?
Garibovic: Heutzutage missbrauchen Eltern ihre Kinder im Minutentakt. Nicht
sexuell oder mit Gewalt. Viel schlimmer. Sie achten das eigene Kind nicht, sie
interessieren sich nicht. Die Eltern essen am Tisch und die Tochter isst aus
einem Topf irgendwo in einem Zimmer. Und meine Klienten stammen nur aus der
obersten Schicht.
zentralplus: Ach ja? Das erstaunt ...
Garibovic: Ja, meine Kinder kommen meist aus einem Elternhaus mit Geld. Gerade
auch im Kanton Zug habe ich viele Fälle von Mädchen aus gutem Hause, die auf
Privatschulen gehen. Dabei sind Mädchen meist noch hemmungsloser als Jungs. Sie
verprügeln die Eltern, kiffen und trinken oder ritzen sich selbst, um mit dem
Blut zu signalisieren: «Schau her, mir geht es schlecht.»
zentralplus: Wie arbeiten Sie mit solchen Kindern?
Garibovic: Mein Beruf ist meine Berufung. In diesem Bereich kann niemand
arbeiten, wenn er oder sie nicht wirklich dazu berufen ist. Die Kinder merken,
ob es einem wirklich ernst ist. Die spüren die Persönlichkeit, die vor ihnen
sitzt, viel genauer.
zentralplus: Kinder brauchen also Persönlichkeiten, die Grenzen setzen, sagen
Sie. Sind wir als Gesellschaft denn einfach verweichlicht?
Garibovic: Sind wir! Ganz Europa, die ganze Schweiz. Warum schliessen sich
Schweizer dem IS an? Die ganze Schweiz weint: Ach, wir brauchen mehr
Polizisten. Blödsinn! Die Jugendlichen gehen, weil sie sich inspiriert fühlen
von diesen Typen. Die Jugendlichen haben das Gefühl, dies seien nun echte
Männer mit Überzeugungen, die sie hier nicht finden. Das hat mit Religion
nichts zu tun. Ich hatte ein paar Klienten, die dort waren.
zentralplus: Vertreten wir denn heute nicht einfach andere Werte, im Vergleich
zu früher?
Garibovic: Nichts! Gar nichts! Egoismus pur! Egoismus im Quadrat. Meine
Klienten lernen bei mir vor allem etwas über Moral, über Hierarchie, über
Respekt. Meine Klienten haben alle einen IQ von 130, das glauben sie mir nicht!
Aber ihre soziale Kompetenz: Null. Die sind nicht krank, die wurden nicht
erzogen.
zentralplus: Sie sagen ja auch, dass die Schulklassen regelrecht nach
therapierbaren Jugendlichen durchkämmt werden. Braucht es denn dieses
Therapie-System überhaupt nicht?
Garibovic: Nein, das braucht es nicht! Man therapiert kerngesunde Kinder.
Therapeuten suchen sich die Arbeit. Das ist das lukrativste Business in der
Schweiz, ein wenig wie die Verdingkinder von früher: Man steckte sie in Heime,
ohne dass sie verurteilt wurden. Alle meine Klienten wurden erst in diesen
Heimen kriminell. Alkohol, Drogen, alles gibt es dort.
zentralplus: Wie ist das in Zug? Hier gibt es sechs Schulen, die
Sonderpädagogik für verhaltensauffällige Kinder anbieten.
Garibovic: Die braucht es alle nicht, behaupte ich. Von 1000 Kindern brauchen
vielleicht zwei diese Schulen wirklich.
zentralplus: Aber gibt’s nicht auch Kinder, die wirklich eine Therapie
brauchen?
Garibovic: Natürlich gibt es Kinder, die ernsthafte psychische Probleme
haben. Aber heutzutage hat sich eine Maschinerie aufgebaut, die jedes Kind, das
ein wenig zu laut oder zu ruhig ist, gleich therapiert. Man gibt ihm Ritalin
oder Concerta. Und wissen Sie, was das für Nebenwirkungen hat?
zentralplus: Welche?
Garibovic: Beispielsweise Wachstumsstörungen oder Verstopfung. Und irgendwann
werden die Kinder resistent ...
zentralplus: Dann muss die Dosis demnach rauf?
Garibovic: Ja, dann erhöht man die Dosis und macht Zehnjährige zu Junkies.
Damit raubt man dem Kind die Kindheit. Ich habe beispielsweise mit einem
Dreizehnjährigen während vier Tagen einen Entzug gemacht.
zentralplus: Was passiert bei einem kalten Ritalinentzug genau?
Garibovic: Wutausbrüche, Depressionen, Ohnmachtsanfälle, Schweissausbrüche.
zentralplus: Aber was ist mit den Kindern, die wirklich verhaltensauffällig
sind?
Garibovic: Nun hören Sie schon auf! Es gibt keine solche Diagnose! Man könnte
auch sagen: Frau Garibovic hat ADHS. Schauen Sie, die chemische Industrie
verkauft in diesem Jahr doppelt so viel Ritalin und Concerta wie letztes Jahr.
Das ist einfach ein gutes Geschäft.
zentralplus: Wie sollen Lehrer denn handeln, wenn sie in ihrer Klasse von
zwanzig Kindern eines haben, das aus dem Raster fällt?
Garibovic: Lehrer können nichts dafür. Man sagt, ich sei erfolgreich. Das
stimmt nicht. Das ist eine innige Zusammenarbeit mit den Klassenlehrern der
Schulen meiner Kinder.
zentralplus: Also: Eltern sind schuld, Lehrer aber nicht?
Garibovic: Lehrer haben einen Lehrauftrag, keinen Erziehungsauftrag. Zu einem
gewissen Teil vielleicht schon, aber grundsätzlich nicht. Das Problem sind
unsere Bildungsdirektoren.
zentralplus: Sie kritisieren gerade den Zuger Bildungsdirektor Stephan
Schleiss.
Garibovic: Nein, das ist ein Toller! Aber man müsste mehr die Eltern stärken
in ihrer Rolle und die Schulen. Aber man schiebt die Kinder im Minutentakt zur
Sonderabklärung. Und raubt ihnen damit ihre Kindheit.
Das Handy von Sefika Garibovic klingelt. Jemand ruft an und gratuliert.
Er sagt, er wünschte, er hätte früher von ihr gewusst. «Ich bin schon Opfer des
Systems», sagt der Anrufer, der Zug sei schon abgefahren. «Machen Sie bitte
weiter und öffnen Sie den Leuten die Augen. Was passiert ist, kann man nicht
mehr rückgängig machen. Sie sind auf dem richtigen Weg. Ich bin auf Ihrer
Seite.»
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