25. September 2016

Westliche Bequemlichkeit vs. asiatische Lernbereitschaft

Mit der westlichen Lernbereitschaft ist es nicht weit her: fernöstliche Lektionen für überzeugte Eurozentriker.
Alle wissen, was sie der Familie und der Gemeinschaft schulden, Bild: Toru Hanai
Ansprüche? Pflichten! NZZ, 24.9. von Urs Schoettli

Jeder westliche Regierungschef auf China-Reise fühlt sich verpflichtet, bei den Gastgebern den Respekt gegenüber Menschenrechten anzumahnen – zur Befriedigung seines eigenen Publikums zu Hause. Nach der gerne medienwirksam geäusserten Kritik geht man dann aber jeweils rasch zum Business über, zu lukrativ sind die Absatzmärkte im Reich der Mitte. Sinnvoll wäre es für die auftrumpfenden Besucher freilich, nach getaner Arbeit einen Abstecher in Pekings Konfuzius-Tempel zu machen und dort fern des Alltagsgetriebes in Ruhe über die Lehren zu reflektieren, die der Westen zum eigenen Nutzen aus der grossen chinesischen Kultur ziehen könnte.

Der grosse Weise Konfuzius hat im Staats- und Gesellschaftsverständnis nicht nur der Chinesen, sondern auch der Vietnamesen, Koreaner und Japaner tiefe Spuren hinterlassen. Zwei Werte ragen dabei heraus: Harmonie und Pflicht. Sie bilden den Kitt eines Gesellschaftsvertrags, der in all diesen Nationen spielt, in Japan aber zweifellos seine radikalste Ausprägung erfahren hat. Wir kennen aus der Geschichte die verheerenden Umstände, welche Konfuzius dazu veranlassten, diesen beiden Werten ein besonderes Gewicht beizumessen. Sein Leben (551–479 v. Chr.) fiel in eine Zeit der unablässigen Machtkämpfe und bürgerkriegsähnlichen Wirren, wie sie 1500 Jahre später auch Japan heimsuchen sollten.

No free lunch
«Pflicht» ist ein Begriff, der in Mitteleuropa längst den Klang des Altertümlichen hat – «Anspruch» bzw. «Anrecht» sind höher im Kurs. Die asiatischen Medien haben im Frühling darum auch ausführlich über die helvetische Abstimmung zum Menschenrecht auf ein Grundeinkommen berichtet. In manchen Meinungsäusserungen schwang die Frage mit, wie es denn sein könne, dass ein Anspruch ohne jede Gegenleistung gewährt werden soll. Mit entsprechender Befriedigung wurde der bemerkenswert rationale Entscheid an der Urne konstatiert. Damit wären wir beim Grundverständnis des ostasiatischen Gesellschaftsvertrags angelangt: Es gibt keine Anrechte gegenüber anonymen Dritten, sondern bloss wechselseitige Pflichten – in der Familie und im Staat.

Bereits früh, bei der Einschulung, werden japanischen Kindern drei Verhaltensregeln eingeimpft, Achtsamkeit, Beflissenheit und Empathie, die über das ganze Leben hinweg befolgt werden. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die gesamte Volkswirtschaft. Niemand, der Japan besucht hat, wird bestreiten können, dass bezüglich Dienstleistungskultur das Land der aufgehenden Sonne Weltspitze ist – die Schweiz, die sich viel darauf zugutehält, kann nicht im Entferntesten mit ihm konkurrieren. Die meisten Versuche, dieselben Standards in den Westen zu transferieren, scheitern. Der Hauptgrund dafür liegt in der Beschaffenheit des gesellschaftlichen Umfelds. Wer über den Rückgang der Zivilisiertheit im zwischenmenschlichen Umgang – dies maximal nüchtern konstatiert – in unseren Breitengraden lamentiert, kommt nicht darum herum, das Fehlen eines funktionierenden Gesellschaftsvertrags als bitteres Defizit zur Kenntnis zu nehmen.

Das Ende des Kalten Kriegs und der Anbruch des asiatischen Zeitalters sind zwei Zäsuren, deren Tragweite von prägenden eurozentristischen Intellektuellen wie etwa Eric Hobsbawm oder Jacques Attali unterschätzt oder verkannt wurde. Es ist bemerkenswert, wie der Niedergang von Europas Einfluss in der Welt mit dem nicht nur wirtschaftlichen und militärischen, sondern auch dem kulturellen Wiederaufstieg Asiens einhergeht. Von den in der eigenen Reformunfähigkeit schmorenden Europäern wurde denn auch kaum zur Kenntnis genommen, dass Ende 2015 der letzte Pfeiler der Nachkriegsordnung – die Monopolstellung der Bretton-Woods-Institutionen – geschleift worden ist. Primär auf Betreiben Chinas ist mit der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) ein neues Instrument geschaffen worden, das bei den im Gang befindlichen säkularen weltwirtschaftlichen Gewichtsverschiebungen eine wichtige Rolle spielen wird.

Die Macht wächst
Bei der Beurteilung des chinesischen Wirtschaftswunders ist in westlichen Medien der Befund, wonach die Chinesen mit Lohndrückerei, Dumping und Kopiererei einen Massendiebstahl an westlichen Jobs begingen, jeweils rasch zur Stelle. Doch greifen solche auf das Lamento von der «gelben Gefahr» abgleitenden Analysen zu kurz. Dies beweist die im Gang befindliche Modernisierung und Höherstufung der festlandchinesischen Volkswirtschaft ebenso wie der Aufstieg der ostasiatischen Tigerstaaten. Hunderte Millionen von Asiaten (und ihre Kinder) können ihre Ambitionen ausleben und entfalten dadurch eine ökonomische Macht, die zu wirken beginnt. Peking nutzt diese Power für seine merkantilistische Politik. Die Volksrepublik verfolgt, wie von der Parteispitze vorgegeben, ganz offen die Absicht, bei weltbekannten Brands und Hochtechnologie an die Weltspitze vorzudringen, und sie wird dieses Vorhaben auch mit Übernahmen von westlichen Firmen zu realisieren suchen.

Der bemerkenswerte Aufstieg der konfuzianisch geprägten Gesellschaften an die Spitze der Weltwirtschaft hat nicht nur ökonomische und technologische Gründe, sondern ist in hohem Masse das Resultat einer distinkten Wertehaltung. Durch die Globalisierung der vergangenen drei Jahrzehnte sind Märkte geschaffen worden, auf denen sich grundverschiedene Werte gegenüberstehen. Während des Kalten Kriegs verlief die Globalisierung im Wesentlichen in den von den westlichen Industrienationen vorgegebenen Bahnen. Dies bedeutete, dass auf dem Heimmarkt oder auf Drittmärkten Schweizer Unternehmen vor allem mit anderen westlichen Firmen im Wettbewerb standen. Während es zwar markante nationale Unterschiede gab, so galten doch gemeinsame Wertvorstellungen und Traditionen, die sich in so wichtigen Rahmenbedingungen wie Wettbewerbs-, Konjunktur- und Sozialpolitik stark glichen.

Dies alles hat sich vor allem mit der Rückkehr Chinas in die Weltwirtschaft drastisch verändert. Dabei geht es in erster Linie auch um einen Paradigmenwechsel bei den für die Gesellschaft relevanten Werten. Im Vordergrund steht für uns die in den westlichen Industriegesellschaften gängige Anspruchs- und Anrechtsmentalität. Viele mögen Zuversicht daraus schöpfen, dass diese Mentalität eine übliche Konsequenz des allgemeinen Wohlstands sei und dass die Asiaten, sobald sie nur einen vergleichbaren Lebensstandard hätten, dieselben Präferenzen entwickeln würden. Die Realität straft dieses typisch westliche Denkmuster jedoch Lügen. Japan, Taiwan, Hongkong, Singapur und Südkorea haben sich längst ein den westlichen Industrienationen zumindest ebenbürtiges, wenn nicht gar überlegenes Wohlstandsniveau erarbeitet. Und sie taten dies, ohne über substanzielle Rohstoffvorkommen oder grossflächiges Agrarland zu verfügen.
Natürlich trifft man auch in Singapur, Taipeh oder Osaka auf Menschen, welche die angeblich «guten alten Zeiten» preisen und sich beklagen, dass die heutige Jugend nicht mehr die Tugenden der Altvorderen lebe. Alles ist indessen eine Frage der Verhältnismässigkeit und der Vergleichsbasis. Auch heute halten viele junge Japaner an der Tradition fest, dass man nicht die ganzen Ferien beansprucht, sondern einen guten Teil davon entschädigungslos an die Firma zurückgibt.

Ferien machen, um zu arbeiten
Eine junge Primarschullehrerin aus Yokosuka unweit von Tokio erwähnt im persönlichen Gespräch, dass sie seit Jahren nicht mehr in der nahen Hauptstadt gewesen sei. Auf den Hinweis, dass sie im Sommer während der sechs Wochen Ferien doch Zeit haben sollte, erklärt sie, dass sie die ersten zwei Wochen in der Schule präsent zu sein habe, da die Schüler Sonderunterricht nehmen könnten und die meisten von diesem Angebot Gebrauch machten. Die darauffolgenden zwei Wochen Ferien verbringt sie mit Fortbildungskursen, und die letzten zwei Wochen gehen für die Verarbeitung der für die Ferien verschriebenen Pflichtlektüre drauf. Auf die Frage, ob dies nicht Dauerstress bedeute, meint sie mit Erstaunen, sie sei stolz darauf, Lehrerin zu sein.

Die Gegenseitigkeit der eingegangenen Verpflichtungen steht einer Anspruchsmentalität diametral entgegen. Dies gilt für die Pflichten innerhalb des Familienverbands, wo die Eltern dafür zu sorgen haben, dass die Kinder die beste Erziehung und einen guten Start ins Leben erhalten. Im Gegenzug haben die Kinder sich durch gute Leistung der Eltern würdig zu erweisen und ihnen bei Krankheit und im Alter zur Seite zu stehen. Dies gilt auch gegenüber der weiteren Gemeinschaft, sichtbar in den hohen Erwartungen bezüglich Disziplin und Eigenverantwortung. Man denke an die öffentliche Sauberkeit und Sicherheit in den japanischen und südkoreanischen Städten. Auch könnte man hier Singapurs Praxis bei staatlichen Studienbeihilfen anführen. Talentierte Singapurer werden mit substanziellen Stipendien versehen und an die besten Universitäten der Welt geschickt. Wer sich nach dem Studium für eine Anzahl Jahre zum Staatsdienst verpflichtet, muss nichts zurückzahlen. Der Stadtstaat profitiert in zweifacher Weise, seine Jugend mischt bei den Weltbesten mit, und seine Verwaltung erhält hochqualifizierte Mitarbeiter. Auch hier gilt der Primat der Pflicht gegenüber den Ansprüchen.


Und wäre es in Europa nach Jahren der wohlverdienten Bequemlichkeit nicht an der Zeit, über diesen Primat, der zugleich ein Leistungsprimat ist, vertieft nachzudenken?

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