Mit der westlichen Lernbereitschaft ist es nicht weit her: fernöstliche Lektionen für überzeugte Eurozentriker.
Alle wissen, was sie der Familie und der Gemeinschaft schulden, Bild: Toru Hanai
Ansprüche? Pflichten! NZZ, 24.9. von Urs Schoettli
|
Jeder westliche Regierungschef auf China-Reise fühlt sich verpflichtet,
bei den Gastgebern den Respekt gegenüber Menschenrechten anzumahnen
– zur Befriedigung seines eigenen Publikums zu Hause. Nach der gerne
medienwirksam geäusserten Kritik geht man dann aber jeweils rasch zum Business
über, zu lukrativ sind die Absatzmärkte im Reich der Mitte. Sinnvoll wäre es
für die auftrumpfenden Besucher freilich, nach getaner Arbeit einen Abstecher
in Pekings Konfuzius-Tempel zu machen und dort fern des Alltagsgetriebes in
Ruhe über die Lehren zu reflektieren, die der Westen zum eigenen Nutzen aus der
grossen chinesischen Kultur ziehen könnte.
Der grosse Weise Konfuzius hat im
Staats- und Gesellschaftsverständnis nicht nur der Chinesen, sondern auch der
Vietnamesen, Koreaner und Japaner tiefe Spuren hinterlassen. Zwei Werte ragen
dabei heraus: Harmonie und Pflicht. Sie bilden den Kitt eines
Gesellschaftsvertrags, der in all diesen Nationen spielt, in Japan aber
zweifellos seine radikalste Ausprägung erfahren hat. Wir kennen aus der
Geschichte die verheerenden Umstände, welche Konfuzius dazu veranlassten,
diesen beiden Werten ein besonderes Gewicht beizumessen. Sein Leben (551–479 v.
Chr.) fiel in eine Zeit der unablässigen Machtkämpfe und bürgerkriegsähnlichen
Wirren, wie sie 1500 Jahre später auch Japan heimsuchen sollten.
No free lunch
«Pflicht» ist ein Begriff, der in Mitteleuropa längst den Klang des
Altertümlichen hat – «Anspruch» bzw. «Anrecht» sind höher im Kurs. Die
asiatischen Medien haben im Frühling darum auch ausführlich über die
helvetische Abstimmung zum Menschenrecht auf ein Grundeinkommen berichtet. In
manchen Meinungsäusserungen schwang die Frage mit, wie es denn sein könne, dass
ein Anspruch ohne jede Gegenleistung gewährt werden soll. Mit entsprechender
Befriedigung wurde der bemerkenswert rationale Entscheid an der Urne konstatiert.
Damit wären wir beim Grundverständnis des ostasiatischen Gesellschaftsvertrags
angelangt: Es gibt keine Anrechte gegenüber anonymen Dritten, sondern bloss
wechselseitige Pflichten – in der Familie und im Staat.
Bereits früh, bei der Einschulung, werden japanischen Kindern drei
Verhaltensregeln eingeimpft, Achtsamkeit, Beflissenheit und Empathie, die über
das ganze Leben hinweg befolgt werden. Dies hat weitreichende Konsequenzen für
die gesamte Volkswirtschaft. Niemand, der Japan besucht hat, wird bestreiten
können, dass bezüglich Dienstleistungskultur das Land der aufgehenden Sonne
Weltspitze ist – die Schweiz, die sich viel darauf zugutehält, kann nicht im
Entferntesten mit ihm konkurrieren. Die meisten Versuche, dieselben Standards
in den Westen zu transferieren, scheitern. Der Hauptgrund dafür liegt in der
Beschaffenheit des gesellschaftlichen Umfelds. Wer über den Rückgang der
Zivilisiertheit im zwischenmenschlichen Umgang – dies maximal nüchtern
konstatiert – in unseren Breitengraden lamentiert, kommt nicht darum herum, das
Fehlen eines funktionierenden Gesellschaftsvertrags als bitteres Defizit zur
Kenntnis zu nehmen.
Das Ende des Kalten Kriegs und der Anbruch des asiatischen Zeitalters
sind zwei Zäsuren, deren Tragweite von prägenden eurozentristischen
Intellektuellen wie etwa Eric Hobsbawm oder Jacques Attali unterschätzt oder
verkannt wurde. Es ist bemerkenswert, wie der Niedergang von Europas Einfluss
in der Welt mit dem nicht nur wirtschaftlichen und militärischen, sondern auch
dem kulturellen Wiederaufstieg Asiens einhergeht. Von den in der eigenen
Reformunfähigkeit schmorenden Europäern wurde denn auch kaum zur Kenntnis
genommen, dass Ende 2015 der letzte Pfeiler der Nachkriegsordnung – die
Monopolstellung der Bretton-Woods-Institutionen – geschleift worden ist. Primär
auf Betreiben Chinas ist mit der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB)
ein neues Instrument geschaffen worden, das bei den im Gang befindlichen
säkularen weltwirtschaftlichen Gewichtsverschiebungen eine wichtige Rolle
spielen wird.
Die Macht wächst
Bei der Beurteilung des chinesischen Wirtschaftswunders ist in
westlichen Medien der Befund, wonach die Chinesen mit Lohndrückerei, Dumping
und Kopiererei einen Massendiebstahl an westlichen Jobs begingen, jeweils rasch
zur Stelle. Doch greifen solche auf das Lamento von der «gelben Gefahr»
abgleitenden Analysen zu kurz. Dies beweist die im Gang befindliche Modernisierung
und Höherstufung der festlandchinesischen Volkswirtschaft ebenso wie der
Aufstieg der ostasiatischen Tigerstaaten. Hunderte Millionen von Asiaten (und
ihre Kinder) können ihre Ambitionen ausleben und entfalten dadurch eine
ökonomische Macht, die zu wirken beginnt. Peking nutzt diese Power für seine
merkantilistische Politik. Die Volksrepublik verfolgt, wie von der Parteispitze
vorgegeben, ganz offen die Absicht, bei weltbekannten Brands und
Hochtechnologie an die Weltspitze vorzudringen, und sie wird dieses Vorhaben
auch mit Übernahmen von westlichen Firmen zu realisieren suchen.
Der bemerkenswerte Aufstieg der konfuzianisch geprägten Gesellschaften
an die Spitze der Weltwirtschaft hat nicht nur ökonomische und technologische
Gründe, sondern ist in hohem Masse das Resultat einer distinkten Wertehaltung.
Durch die Globalisierung der vergangenen drei Jahrzehnte sind Märkte geschaffen
worden, auf denen sich grundverschiedene Werte gegenüberstehen. Während des
Kalten Kriegs verlief die Globalisierung im Wesentlichen in den von den
westlichen Industrienationen vorgegebenen Bahnen. Dies bedeutete, dass auf dem
Heimmarkt oder auf Drittmärkten Schweizer Unternehmen vor allem mit anderen
westlichen Firmen im Wettbewerb standen. Während es zwar markante nationale Unterschiede
gab, so galten doch gemeinsame Wertvorstellungen und Traditionen, die sich in
so wichtigen Rahmenbedingungen wie Wettbewerbs-, Konjunktur- und Sozialpolitik
stark glichen.
Dies alles hat sich vor allem mit der Rückkehr Chinas in die Weltwirtschaft
drastisch verändert. Dabei geht es in erster Linie auch um einen
Paradigmenwechsel bei den für die Gesellschaft relevanten Werten. Im
Vordergrund steht für uns die in den westlichen Industriegesellschaften gängige
Anspruchs- und Anrechtsmentalität. Viele mögen Zuversicht daraus schöpfen, dass
diese Mentalität eine übliche Konsequenz des allgemeinen Wohlstands sei und
dass die Asiaten, sobald sie nur einen vergleichbaren Lebensstandard hätten,
dieselben Präferenzen entwickeln würden. Die Realität straft dieses typisch
westliche Denkmuster jedoch Lügen. Japan, Taiwan, Hongkong, Singapur und Südkorea
haben sich längst ein den westlichen Industrienationen zumindest ebenbürtiges,
wenn nicht gar überlegenes Wohlstandsniveau erarbeitet. Und sie taten dies,
ohne über substanzielle Rohstoffvorkommen oder grossflächiges Agrarland zu
verfügen.
Natürlich trifft man auch in Singapur, Taipeh oder Osaka auf Menschen,
welche die angeblich «guten alten Zeiten» preisen und sich beklagen, dass die
heutige Jugend nicht mehr die Tugenden der Altvorderen lebe. Alles ist indessen
eine Frage der Verhältnismässigkeit und der Vergleichsbasis. Auch heute halten
viele junge Japaner an der Tradition fest, dass man nicht die ganzen Ferien
beansprucht, sondern einen guten Teil davon entschädigungslos an die Firma
zurückgibt.
Ferien machen, um zu arbeiten
Eine junge Primarschullehrerin aus Yokosuka unweit von Tokio erwähnt im
persönlichen Gespräch, dass sie seit Jahren nicht mehr in der nahen Hauptstadt
gewesen sei. Auf den Hinweis, dass sie im Sommer während der sechs Wochen
Ferien doch Zeit haben sollte, erklärt sie, dass sie die ersten zwei Wochen in
der Schule präsent zu sein habe, da die Schüler Sonderunterricht nehmen könnten
und die meisten von diesem Angebot Gebrauch machten. Die darauffolgenden zwei
Wochen Ferien verbringt sie mit Fortbildungskursen, und die letzten zwei Wochen
gehen für die Verarbeitung der für die Ferien verschriebenen Pflichtlektüre
drauf. Auf die Frage, ob dies nicht Dauerstress bedeute, meint sie mit
Erstaunen, sie sei stolz darauf, Lehrerin zu sein.
Die Gegenseitigkeit der eingegangenen Verpflichtungen steht einer
Anspruchsmentalität diametral entgegen. Dies gilt für die Pflichten innerhalb
des Familienverbands, wo die Eltern dafür zu sorgen haben, dass die Kinder die
beste Erziehung und einen guten Start ins Leben erhalten. Im Gegenzug haben die
Kinder sich durch gute Leistung der Eltern würdig zu erweisen und ihnen bei
Krankheit und im Alter zur Seite zu stehen. Dies gilt auch gegenüber der
weiteren Gemeinschaft, sichtbar in den hohen Erwartungen bezüglich Disziplin
und Eigenverantwortung. Man denke an die öffentliche Sauberkeit und Sicherheit
in den japanischen und südkoreanischen Städten. Auch könnte man hier Singapurs
Praxis bei staatlichen Studienbeihilfen anführen. Talentierte Singapurer werden
mit substanziellen Stipendien versehen und an die besten Universitäten der Welt
geschickt. Wer sich nach dem Studium für eine Anzahl Jahre zum Staatsdienst
verpflichtet, muss nichts zurückzahlen. Der Stadtstaat profitiert in zweifacher
Weise, seine Jugend mischt bei den Weltbesten mit, und seine Verwaltung erhält
hochqualifizierte Mitarbeiter. Auch hier gilt der Primat der Pflicht gegenüber
den Ansprüchen.
Und wäre es in Europa nach Jahren der wohlverdienten Bequemlichkeit
nicht an der Zeit, über diesen Primat, der zugleich ein Leistungsprimat ist,
vertieft nachzudenken?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen