29. August 2016

Zemp kämpft für Lehrplan 21

Lehrerpräsident Beat Zemp kontert Kritik am Lehrplan 21. Enthusiastisch setzt er sich für dessen Orientierung an Kompetenzen ein. Die Schule habe sich stets gewandelt.

"Mir tun die Thurgauer Schüler leid", Bild: Andreas Blatter
"Der Lehrplan 21 ist kein Hirngespinst von Bildungsbürokraten", Berner Zeitung, 29.8. von Brigitte Walser und Christoph Aebischer
Das Schuljahr hat begonnen. Beat Zemp, wie haben Sie als Gymnasiallehrer jeweils den Start mit neuen Schülern erlebt?
Beat Zemp: Der erste Kontakt ist entscheidend. Ich habe 35 Jahre lang unterrichtet, und bis zum Schluss betrat ich das Schulzimmer mit Herzklopfen, wenn ich eine neue Klasse das erste Mal unterrichtete. Mir war bewusst, wie genau meine Bemerkungen oder die Körpersprache wahr­genommen werden. Man spricht von pädagogisch fruchtbaren Momenten: Die erste Stunde ist ein solcher Moment.

Wie gingen Sie vor?
Ich überliess nichts dem Zufall. Ich plante, was ich wann wie sagen würde. Ich versuchte zudem, mir die Namen der Schüler möglichst schnell einzuprägen.

Gaben Sie den Tarif durch?
Klare Anweisungen erschienen mir wichtig. Dazu gehörte auch, die Hausaufgaben genau zu kon­trollieren. Ich wollte immer ­verlässlich sein und Leistungen einfordern. Ich sah mich als Trainer, der die Schülerinnen und Schüler zur Matur bringt, wenn sie bereit sind, ihren Beitrag auch zu leisten.

Wie schnell gewöhnen sich Lehrer und Eltern aneinander?
Das kommt auf die Schulstufe an. In der Primarschule ist der Kontakt natürlich intensiver. Auf Gymnasialstufe reicht in der Regel ein Elternabend zu Beginn. Schliesslich wird man im Gym­nasium volljährig und kann Entschuldigungen selber unterschreiben oder den Lehrpersonen verbieten, mit den Eltern Informationen auszutauschen.

Nehmen Konflikte zwischen Eltern und Lehrern zu?
Die Zahl der Rekurse hat zugenommen. Der Kanton Freiburg will daher die Rekursmöglichkeiten einschränken. Grundsätzlich finde ich das Einspracherecht aber richtig. Es ist ein Gegenmittel zur Macht, die das Bildungssystem über die Schulkarriere eines Kindes hat.

Sie finden den Anstieg der Rekurse also nicht schlimm?
So meine ich das nicht. Fast alle Notenrekurse werden abgelehnt und sind unnötig. Ich finde es aber richtig, wenn Eltern kritisch hinschauen und mitverfolgen, was in der Schule passiert. Der weitaus grösste Teil der Eltern ist in diesem Sinne konstruktiv kritisch. Mühsam wird es mit überkritischen Eltern, die gleich beim ersten Gespräch mit dem Anwalt drohen oder Einspruch erheben, wenn sie mit einzelnen Bewertungen nicht einverstanden sind.

Für Eltern ist es nicht immer einfach, das richtige Mass an Einmischung zu finden.
Ich würde eher von Zusammenarbeit sprechen. Wir erarbeiten zurzeit ein Positionspapier, in welchem wir die Zuständigkeiten und Kooperationsbereiche von Schule und Elternhaus definieren. Klar in die Zuständigkeit der Schule gehören zum Beispiel die Unterrichtsführung, die Bewertung oder die Klassenzuteilung.

Haben Sie kein Verständnis, wenn Eltern bei der Klassenzuteilung mitreden möchten?
Schon, aber bei all den unterschiedlichen Elterninteressen kämen wir dann nie zu einem Ergebnis. Es gibt Gründe für einen Klassenwechsel, etwa wenn sich das Kind in einer Klasse nicht wohlfühlt, weil es gemobbt wird oder das Verhältnis zur Lehrperson nachhaltig gestört ist. Aber grundsätzlich ist ein solcher Entscheid Sache der Schule.

Umgekehrt mischen sich Schulen in die Zuständigkeit der Eltern ein, etwa mit Anweisungen, Kinder rechtzeitig ins Bett zu schicken, oder mit Znüni­vorschriften bis hin zum Nussverbot.
Es gibt eben auch Elternpflichten. Sie sprechen das Beispiel an, bei dem eine Schulleitung ein Nussverbot aussprach. Sie tat das, weil zwei Kinder unter einer ex­trem starken Nussallergie leiden, die lebensgefährlich werden kann. In einem solchen Fall verstehe ich, dass die Schulleitung ein Verbot aussprach. Sie muss ihre Pflicht der Obhut auf dem Schulareal erfüllen.

Derzeit wird leidenschaftlich über Lerninhalte diskutiert. Ist das gut so?
Ich bin seit 26 Jahren Präsident des Schweizer Lehrerverbands. Früher fanden Schulreformdiskussionen auf nationaler Ebene im Wesentlichen innerhalb der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) und des Schweizer Lehrervereins statt. Heute ist der Kreis viel grösser. Stiftungen und Unternehmen reden mit; und natürlich die Parteien – von der SP bis zur SVP.

Die SVP verstärkt seit etwa zehn Jahren. Vielleicht tut sie dies als Gegengewicht, weil Lehrer als links gelten?
Der allergrösste Teil der Lehrpersonen ist apolitisch und weder in einer Partei noch in einer po­litischen Funktion tätig. Ich bedaure das.

Im Kreuzfeuer der Politik steht der Lehrplan 21. Wird er sich durchsetzen?
Davon bin ich überzeugt. Der Lehrplan 21 ist nicht ein Hirngespinst von Bildungsbürokraten. Er wurde auch von über 100 aktiven Lehrpersonen miterarbeitet und entspricht neusten Standards. Als Lehrer habe ich zwei grosse Lehrplanrevisionen erlebt. Zu Beginn stand im Lehrplan Mathematik fürs Gymnasium zum Beispiel: «1. Klasse: quadratische Gleichung. Satz von Vieta. Lösungsformel. Anwendungen.» In den 70er-Jahren kam dann die Forderung, man müsse Lehrpläne zielorientiert verfassen und formulieren, welche Lernziele Schüler erreichen müssen. Also schrieben wir Richtziele, Leitziele, Stunden­ziele usw. Würde man all die Zielformulierungen von damals zusammenzählen, wäre die Summe wohl grösser als jene der Kompetenzen, welche die Schüler gemäss dem Lehrplan 21 erwerben sollen.

Dass der neue Lehrplan den Erwerb von Kompetenzen ins Zen­trum stellt, ist vielen ein Dorn im Auge. Das Schulwissen gerate ins Abseits.
Das ist Unsinn. Das Entscheidende ist schliesslich nicht, ob der Schüler den Satz des Pythagoras auswendig aufsagen kann. Entscheidend ist, ob er die Formel anwenden und in konkreten Si­tuationen umsetzen kann.

Kritiker prophezeiten bereits das Ende der Volksschule.
Ach, das wurde schon bei der letzten Lehrplanreform heraufbeschworen. Die Schule vermittelt schon heute nicht nur Wissen, sondern auch Kompetenzen.

Was passiert mit Schülern, wenn sie nach dem Lehrplan 21 unterrichtet werden?
Das Auswendiglernen von Einzelfakten wird weniger wichtig. Als Schüler habe ich zum Beispiel noch lange Listen von Flüssen und Schlachtdaten auswendig ­gelernt. Heute können Sie dank dem Internet und Smartphones mit wenigen Klicks alles nachschauen. Sie müssen aber eine «Karte» aller Bereiche im Geist vor sich haben, um Ereignisse räumlich und zeitlich einordnen zu können.

Bildung ist mehr, als Mittel in die Finger zu bekommen, mit denen
sich das Leben bewältigen lässt.
Ja. Bildung ist aber auch die Fähigkeit, Dinge richtig einordnen zu können und sich Wissen zu beschaffen, um Probleme zu lösen. Bildung bedeutet nicht, zu wissen, wann die Schlacht von Issos stattgefunden hat. Aber wenn Sie wissen, worum es bei der Französischen Revolution ging, hilft das auch beim Verständnis der Arabischen Revolution.

Was treibt denn die unterschiedlichen Kritikergruppen an?
Es geht oft um partielle Anliegen. Die einen sind gegen die Sexualpädagogik, die anderen gegen zwei Frühfremdsprachen, andere wollen nicht, dass man schon in der Primarschule einfache ­Computerprogramme schreiben lernt. Solche Diskussionen sind normal. Auf jeden Fall war es ­wieder mal an der Zeit, den alten Lehrplan zu entstauben und von Überholtem zu befreien, etwa vom stundenlangen Schönschreiben mit der «Schnüerlischrift». Heute weiss man, dass man mit der Basisschrift einfacher und schneller schreiben lernt.

Sorgfalt, Pflichtbewusstsein sei wichtig, sagen Berufsbildner.
Sorgfalt kann man auch beim Schreiben eines Computerprogramms lernen.

Weiterführende Schulen, aber auch Berufsbildner kritisieren, die Volksschule bereite die Kinder nicht mehr genügend für die Zeit danach aus. Gibt es Verbesserungspotenzial?
Mit dem Lehrplan 21 wird die Berufswahlbegleitung professionalisiert. Das ist nötig. Die Berufswahl ist ein innerer Prozess, der über drei bis vier Jahre führt. ­Dabei gilt es herauszufinden, welche Stärken und Schwächen ein Schüler hat. Individuelle Standortbestimmungen gehören dazu. Hilfreich sind zum Beispiel die neuen Berufsprofile, die der Gewerbeverband und die EDK entwickelt haben.

Einige Lehrbetriebe werben sehr aktiv an den Schulen um die Besten der Jahrgänge. Ist das richtig?
Nein, das finde ich falsch. Früher gab es die Abmachung, dass niemand vor der neunten Klasse einen Lehrvertrag erhält. Besser wäre sogar nicht vor dem 1. November in der neunten Klasse. Auf jeden Fall nicht schon in der achten Klasse. Denn die Motivation für jene, die den Lehrvertrag schon im Sack haben und nun noch ein Jahr die Schulbank drücken müssen, ist dann dahin.

Eltern haben aber auch Interesse daran, wenn ihre Kinder schon früh eine Anschlusslösung haben.
Da bin ich mir nicht sicher. Wenn sie den negativen Einfluss auf die Schulmotivation einbeziehen würden, kämen sie zu einer anderen Meinung.

Es gibt zu wenig Ingenieure, aber viele Geisteswissenschaftler. Sollte die Schule stärker steuern?
Nein. Berufswahlbegleitung ist ein wenig vergleichbar mit der Hebammenkunst: Man muss spüren, was in einem Menschen angelegt ist und wie man diese Fähigkeiten zum Leben erwecken kann. Lehrpersonen sind Talentförderer und sollen ihr ­Augenmerk auf die Stärken eines Jugendlichen richten und ihn nicht mit Aussagen darüber beeinflussen, in welchen Bereichen die Jobaussichten gerade gut oder schlecht sind.

Handkehrum gibt es durchaus auch eine indirekte Lenkung. Im Kanton Thurgau kam man zum Schluss, dass die Primarstufe mittlerweile zu sprachlastig ist.
Mit der beabsichtigten Verlegung des Französischunterrichts von der Primarstufe auf die Oberstufe verlagert sich das Problem nur: Künftig müsste man 14 Jahreslektionen Französisch in nur drei Jahren unterbringen. Das ist keine kluge Lösung. Bundesrat Alain Berset hat im Juli seine Vorschläge zur Förderung der Landessprachen in die Vernehmlassung geschickt. Darin ist vorgesehen, dass der Unterricht in der zweiten Landessprache in der Primarschule beginnt und für alle bis zum Ende der Volksschule dauert. Wir sollten als sprachliche Mehrheit unseren Compatriotes auf der anderen Seite des «Rideau de Rösti» Verständnis entgegenbringen und den Frühfranzösischunterricht nicht streichen. Sie muten ihren Schülern auch zu, ab der dritten Klasse Deutsch zu lernen.

Die Staatsräson allein darf nicht den Ausschlag geben, oder?
Was heisst hier Staatsräson? Wir haben eine Bundesverfassung! Darin ist festgehalten, dass die Landessprachen zu fördern sind. Abgesehen davon steht im Artikel 62 Absatz 4: Die Ziele der Bildungsstufen sind zu harmonisieren. Und die Primarschule ist nun mal eine Bildungsstufe. Die EDK hat die Bildungsstandards für Französisch am Ende der ­Primarschule bereits im Jahr 2011 fest­gelegt. Wie wollen die Thurgauer diese erreichen, wenn sie auf ­dieser Stufe keine einzige Lektion Französisch mehr unterrichten?

Die Hauptsache ist doch, dass die Thurgauer am Ende der Volksschule genügend Französischkenntnisse haben.
Mir tun die Thurgauer Primarschüler leid, die den Kanton wechseln müssen und denen dann mehrere Jahre Französischunterricht fehlen. Und wer die Kosten dieser Nachschulung bezahlen wird, ist auch noch nicht klar.

Beim Sprachenstreit läuft es darauf hinaus, wer am längeren Hebel sitzt. Ist eine gesamtschweizerische Harmonisierung abgesehen von dieser Macht­frage sinnvoll?
Jahrzehntelang wurde das Bildungswesen wegen des «Kantönligeists» kritisiert. 2006 nahm dann das Stimmvolk mit 85,6 Prozent den Bildungsartikel an, der eine Harmonisierung der kantonalen Schulsysteme in klar definierten Eckwerten verlangt. Diesen Verfassungsauftrag müssen die Kantone nun erfüllen. ­Andernfalls erlässt der Bund die Vorschriften. So steht es in unserer Bundesverfassung.

Der digitale Wandel hat längst auch die Schulen erfasst. Die Gemeinden klagen, die Kosten für die Infrastruktur, etwa Tablets, seien kaum tragbar.
Die Situation ändert sich. In wenigen Jahren werden Tablets zur Grundausstattung gehören, und jeder Schüler wird sein eigenes Gerät mitbringen.

Zahlen müssten es die Eltern?
Ja. So wie früher den Taschenrechner. Schon heute gibt es Tablets für unter 100 Franken. Wieso soll die Schule etwas anschaffen, was daheim sowieso vorhanden ist?

Der Einfluss der privaten Anbieter nimmt zu. Befürchten Sie nicht, dass sie diesen ausnützen?
Es geht natürlich nicht an, dass eine Firma Schüler auf ihrem Produkt schult, um sie so an sich zu binden.

Braucht es Regeln?
Ja. Wir arbeiten an einer Charta zum Thema Sponsoring, Förderung und Finanzierung der öffentlichen Bildung durch private Anbieter. Dort definieren wir Grundsätze, die Unternehmen einhalten müssen, wenn sie sich engagieren wollen: Product Placement, Kundenakquisition und das Sammeln von personenbezogenen Daten liegen nicht drin.

Eine Firma darf keine Caps mehr fürs Klassenlager spenden?
Das soll weiterhin möglich sein. Aber wenn die UBS für 100 Millionen Franken Lehrstühle sponsert und damit Einfluss auf die Forschung nehmen will, dann geht das nicht. Wir haben bei der Vorbereitung der Charta auch ein Beispiel angeschaut, bei dem ein privater Anbieter eine bisher öffentliche Volksschule übernommen hat.

Jetzt befinden wir uns im Reich der Spekulationen.
Ganz so unwahrscheinlich wie es tönt, ist das nicht. Wir mussten im Rahmen internationaler Verhandlungen schon einmal beim Bund und bei der EDK inter­venieren. In einem Grundsatzentscheid zogen diese dann eine klare Linie und definierten, ­welche Bildungsdienstleistungen ­öffentlich und welche privat sind und damit den Regeln von Freihandelsabkommen un­terstellt werden.

Um die Volksschule ging es aber nie?
In Amerika schon. Aber in Europa ist man sich einig, dass die Volksschule eine Aufgabe des Staats ist und die Bildung der nachfolgenden Generation nicht dem Zufall oder dem Elternhaus alleine überlassen werden darf. Wir müssen das Bildungspotenzial aller ausschöpfen. Das generiert Wertschöpfung. So ist unser Land stark und wohlhabend geworden.


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