Beschwerden
gegen Schulentscheide nehmen zu, jetzt ergreifen Kantone Massnahmen gegen die
Einsprachenflut.
Noten, Ferien, Strafen - Eltern klagen gegen alles, Sonntagszeitung, 21.8. von Nadja Pastega und Alexandre Häderli
Der
Gymnasiast an einer Berner Mittelschule hatte Grosses vor: Er wollte für seine
Maturarbeit die Entwicklung von Pflanzen dokumentieren und züchtete dafür
eigene Exemplare. Doch die zarten Keime starben ab. Der Schüler verfasste die
Maturarbeit trotzdem – mit Dichtung statt Wahrheit. «Es war offensichtlich,
dass alles erfunden war», sagt der Schulleiter, «wir haben die Arbeit zurückgewiesen,
und der Vater hatte tatsächlich den Nerv, Einsprache einzulegen.» Die
Rekursbehörde schmetterte die dreiste Beschwerde ab.
Reklamieren,
drohen, klagen – im Dienst ihrer Kinder haben die Eltern in den letzten Jahren
massiv aufgerüstet. Manchen ist jedes Mittel recht. Da wird behauptet, die
Tochter sei hochbegabt und gehöre an eine Privatschule für IQTurbos, zahlen
soll die Gemeinde, Fahrspesen zur Schule inklusive. Dafür zogen Eltern im
Kanton St. Gallen bis vor Gericht. Ein Vater aus einer Berner Gemeinde schritt
gar frohgemut zur Bestechung: Er rief die Schulleitung an, verwies auf seine
öffentlichen Verdienste für das Gemeinwohl, dafür solle man nun bitte schön die
Noten generös runden und den Filius ins Gymnasium hieven. Eine Mutter aus
Zürich schrieb auf die korrigierte Mathe-Prüfung ihres Sohnes, «das kann man
auch anders beurteilen», berechnete die Note neu und schickte das Werk an den
Lehrer.
Die
Schulen mussten in den letzten zehn Jahren lernen, dass Eltern heute gegen
alles klagen: gegen Klassenzuteilungen, disziplinarische Massnahmen und – der
Klassiker – für bessere Noten. Nur über eines wird nie geklagt: das eigene
Kind. Die meisten Eltern, sagt Lehrerpräsident Beat Zemp, «unterstützen die
Schule», doch es gebe eben auch Nörgel-Eltern. «Sie beanspruchen sehr viel
Zeit.»
Akademiker-Eltern
sind besonders beschwerdefreudig
Jetzt
zeigt eine Umfrage der SonntagsZeitung in den Kantonen erstmals, dass es längst
nicht mehr um Einzelfälle geht. Die Minderheit der Unzufriedenen bereitet den
Schulen zunehmend Ärger: So haben die Einsprachen und Beschwerden in den
vergangenen Jahren in mehreren Kantonen spürbar zugenommen. Im Kanton Bern
stieg die Zahl der Rekurse innert drei Jahren um 15 Prozent, von 154 auf 177.
Im Kanton Waadt war 2014 ein Rekordjahr: 257 Rekurse mussten dort abgearbeitet
werden, zehn Jahre zuvor waren es noch 138. Auch in den Kantonen Freiburg, Genf
und Wallis zeigt der Trend in den letzten Jahren nach oben.
Der
Rechtsdienst das Kantons Aargau sagt: «Eltern argumentieren vermehrt juristisch
und verlangen detaillierte rechtliche Auskünfte.» Pro Jahr muss der Aargau
zwischen 80 und 130 Rekurse bearbeiten. In den Kantonen Zürich und St. Gallen
liegen die Rekurse im dreistelligen Bereich.
Dabei
zeigen die Hunderte von Rekursen, die bei den Kantonen landen, nur die Spitze
des Eisbergs. Die meisten Beschwerden fangen Lehrer und Schulleiter in langen
Gesprächen mit klagefreudigen Eltern ab. Wie viele das sind, wird statistisch
nicht erhoben, aber gerade diese Anrufe und Mails belasten zunehmend den
Schulbetrieb. «Das verschlingt viel Zeit und Energie», sagt Gregory Durand,
Präsident des Lehrerverbands im Kanton Waadt.
Die
Auseinandersetzungen mit überkritischen Eltern binden auch Personal. Das geht
letztlich auf Kosten aller Schüler und Eltern. Die notorischen Kritiker sind
Sand im Getriebe der Schulen. Dies vor allem, weil die grosse Mehrheit der
Einsprachen chancenlos ist. Im Kanton Waadt waren 2014 nur gerade drei Prozent
der Rekurse erfolgreich.
Wie die
Einspracheflut heute auf den Schulbetrieb durchschlägt, weiss Urs Guggisberg,
Schulleiter am Oberstufenzentrum Orpund im Kanton Bern. Er gehört zu jenen, die
sich laufend mit unzufriedenen Müttern und Vätern herumschlagen müssen. «Wir
haben mehr Rekurse», sagt Guggisberg, «vor allem aufsichtsrechtliche Anzeigen
gegen die Unterrichtsführung haben zugenommen.» Auf dem Justizweg werde
versucht, Einfluss zu nehmen auf den Inhalt des Unterrichts oder darauf, wie
ein Lehrer eine Prüfung macht, sagt der Berner Schulleiter. «Es gibt Eltern,
die kommen von Anfang an mit einem Anwalt.»
Vor
allem Akademiker-Eltern seien «beschwerdefreudig», sagt Guggisberg. «Sie
wollen, dass ihr Kind eine intellektuelle Laufbahn macht, und versuchen, das mit
rechtlichen Mitteln zu erzwingen.» Es sei deswegen an seiner Schule auch schon
zu «Abwanderungen in Privatschulen» gekommen.
Andere
reichten Rekurse gegen die Klassenzuteilung ein. «Da sagen die Eltern dann, ihr
Kind könne unmöglich mit diesem Lehrer zusammenarbeiten, das gefährde seine
akademische Laufbahn.»
Auch
Leonhard Cadetg, Rektor das Gymnasiums Biel-Seeland mit 1000 Schülern, kennt
die Beschwerden der Eltern. «Wir sind stark mit Rekursen belastet, sie haben
auch bei uns zugenommen», sagt Cadetg. Gut an einem Rekurs sei, dass man sich
selber kontrollieren müsse – die Kehrseite: Es ist zeitraubend. Die Einsprachen
fangen schon bei den Aufnahmeprüfungen an, sagt Cadetg, später gebe es Rekurse
wegen Noten oder Disziplinarmassnahmen. «Es gibt Eltern, die alles tun, damit
ihr Kind eine halbe Note mehr bekommt und an der Schule bleiben kann.»
Dass
die Rekurse zunehmen, liegt auch daran, dass Eltern heute oȑ besser ausgebildet
sind. Einige zögern nicht, sich durch Schulgesetze und Reglemente zu kämpfen –
in der Hoffnung, auf dem Rechtsweg einen Vorteil für ihre Kind herauszuholen.
Deshalb wiederum mussten die Schulen aufrüsten. An der Schule von Rektor Cadetg
etwa gibt es Crash-Kurse in Jurisprudenz: «Wir schulen neue
Schulleitungsmitglieder in rechtlichen Fragen, damit sie über grundlegende
Kenntnisse verfügen.»
Viele
Schulleiter haben begonnen, sich formal abzusichern und Akten zu führen wie ein
Staatsanwalt. «Für jede Situation legen wir ein regelrechtes Dossier an, in dem
alles für einen möglichen Rekurs zusammengetragen wird», sagt Christian Berdoz,
Präsident von Claceso, der Vereinigung der Westschweizer Schulleiter.
Da
werden Gesprächsprotokolle angefertigt von Besprechungen mit der Klasse oder
von Sitzungen mit der Schulleitung. Die Korrespondenz mit den Eltern wird
sorgfältig klassiert. So kommen zum Teil beachtliche Aktenberge zusammen. «Das
wurde zu einer beträchtlichen Zusatzbelastung in unserem Beruf», sagt Berdoz.
Auch
die Elternverbände ärgern sich über viele Einsprachen
Die
Situation ist derart ausgeufert, dass die Kantone jetzt zu drastischen Mitteln
greifen. Im Kanton Freiburg werden 95 Prozent der Rekurse abgewiesen, dennoch
muss die Verwaltung jeden einzelnen bearbeiten. Jetzt zieht der Kanton die
Notbremse. Er hat seit dem 1. August ein neues Reglement zum Schulgesetz in
Kraȑ gesetzt, das Rekurse gegen eine ganze Reihe von Entscheidungen schlicht
nicht mehr zulässt.
«Die
Eltern können neu keine Entscheide mehr anfechten, die den Status des Schülers
nicht beeinflussen», sagt Marianne Meyer von der Freiburger Bildungsdirektion.
Konkret: Nicht mehr erlaubt sind Rekurse gegen die Zuweisung in eine Klasse,
gegen einen Klassenwechsel innerhalb einer Schule, gegen erzieherische
Massnahmen oder gegen die Ablehnung von Urlaubsgesuchen. Auch Noten können nicht
mehr angefochten werden, ausser sie sind entscheidend für die Promotion oder
einen Schullaufbahnentscheid.
Christian
Berdoz, Präsident des Schulleiterverbandes, unterstützt das neue Reglement.
Damit werde nun endlich Klarheit geschaffen. Auch die Vereinigung der
Freiburger Elternverbände applaudiert. Das neue Reglement sei ohne Diskussion
auf Akzeptanz gestossen, sagt Eltern-Präsident Jean-Frédéric Python. «Das dürfte
damit zu tun haben, dass nur eine Minderheit von Eltern die rechtlichen
Möglichkeiten missbraucht.» Viele stellten zum Beispiel Gesuche für verlängerte
Ferien, nur um günstigere Flugtickets buchen zu können. Es komme immer wieder
vor, dass Eltern nach einer Ablehnung der Ferienverlängerung den Fall gleich an
den Kanton weiterziehen, dort Rekurs einlegen und einfach in die Ferien
verreisen, ohne den Entscheid abzuwarten.
Einen
anderen Weg geht der Kanton Neuenburg. Er verlangt für jeden Rekurs eine
Vorschusszahlung von 660 Franken. Die Eltern bekommen das Geld nur dann zurück,
wenn sie recht erhalten. Die Folge: Seit diese Massnahme eingeführt wurde,
konnte der Anstieg der Rekurse gestoppt werden.
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