21. August 2016

Einsprachen, Beschwerden und Rekurse nehmen zu

Beschwerden gegen Schulentscheide nehmen zu, jetzt ergreifen Kantone Massnahmen gegen die Einsprachenflut.
Noten, Ferien, Strafen - Eltern klagen gegen alles, Sonntagszeitung, 21.8. von Nadja Pastega und Alexandre Häderli


Der Gymnasiast an einer Berner Mittelschule hatte Grosses vor: Er wollte für seine Maturarbeit die Entwicklung von Pflanzen dokumentieren und züchtete dafür eigene Exemplare. Doch die zarten Keime starben ab. Der Schüler verfasste die Maturarbeit trotzdem – mit Dichtung statt Wahrheit. «Es war offensichtlich, dass alles erfunden war», sagt der Schulleiter, «wir haben die Arbeit zurückgewiesen, und der Vater hatte tatsächlich den Nerv, Einsprache einzulegen.» Die Rekursbehörde schmetterte die dreiste Beschwerde ab.

Reklamieren, drohen, klagen – im Dienst ihrer Kinder haben die Eltern in den letzten Jahren massiv aufgerüstet. Manchen ist jedes Mittel recht. Da wird behauptet, die Tochter sei hochbegabt und gehöre an eine Privatschule für IQTurbos, zahlen soll die Gemeinde, Fahrspesen zur Schule inklusive. Dafür zogen Eltern im Kanton St. Gallen bis vor Gericht. Ein Vater aus einer Berner Gemeinde schritt gar frohgemut zur Bestechung: Er rief die Schulleitung an, verwies auf seine öffentlichen Verdienste für das Gemeinwohl, dafür solle man nun bitte schön die Noten generös runden und den Filius ins Gymnasium hieven. Eine Mutter aus Zürich schrieb auf die korrigierte Mathe-Prüfung ihres Sohnes, «das kann man auch anders beurteilen», berechnete die Note neu und schickte das Werk an den Lehrer. ­
Die Schulen mussten in den letzten zehn Jahren lernen, dass Eltern heute gegen alles klagen: gegen Klassenzuteilungen, disziplinarische Massnahmen und – der Klassiker – für bessere Noten. Nur über eines wird nie geklagt: das eigene Kind. Die meisten Eltern, sagt Lehrerpräsident Beat Zemp, «unterstützen die Schule», doch es gebe eben auch Nörgel-Eltern. «Sie beanspruchen sehr viel Zeit.»

Akademiker-Eltern sind besonders beschwerdefreudig
Jetzt zeigt eine Umfrage der SonntagsZeitung in den Kantonen erstmals, dass es längst nicht mehr um Einzelfälle geht. Die Minderheit der Unzufriedenen bereitet den Schulen zunehmend Ärger: So haben die Einsprachen und Beschwerden in den vergangenen Jahren in mehreren Kantonen spürbar zugenommen. Im Kanton Bern stieg die Zahl der Rekurse innert drei Jahren um 15 Prozent, von 154 auf 177. Im Kanton Waadt war 2014 ein Rekordjahr: 257 Rekurse mussten dort abgearbeitet werden, zehn Jahre zuvor waren es noch 138. Auch in den Kantonen Freiburg, Genf und Wallis zeigt der Trend in den letzten Jahren nach oben.

Der Rechtsdienst das Kantons Aargau sagt: «Eltern argumentieren vermehrt juristisch und verlangen detaillierte rechtliche Auskünfte.» Pro Jahr muss der Aargau zwischen 80 und 130 Rekurse bearbeiten. In den Kantonen Zürich und St. Gallen liegen die Rekurse im dreistelligen Bereich.

Dabei zeigen die Hunderte von Rekursen, die bei den Kantonen landen, nur die Spitze des Eisbergs. Die meisten Beschwerden fangen Lehrer und Schulleiter in langen Gesprächen mit klagefreudigen Eltern ab. Wie viele das sind, wird statistisch nicht erhoben, aber gerade diese Anrufe und Mails belasten zunehmend den Schulbetrieb. «Das verschlingt viel Zeit und Energie», sagt Gregory Durand, Präsident des Lehrerverbands im Kanton Waadt.
Die Auseinandersetzungen mit überkritischen Eltern binden auch Personal. Das geht letztlich auf Kosten aller Schüler und Eltern. Die notorischen Kritiker sind Sand im Getriebe der Schulen. Dies vor allem, weil die grosse Mehrheit der Einsprachen chancenlos ist. Im Kanton Waadt waren 2014 nur gerade drei Prozent der Rekurse erfolgreich.

Wie die Einspracheflut heute auf den Schulbetrieb durchschlägt, weiss Urs Guggisberg, Schulleiter am Oberstufenzentrum Orpund im Kanton Bern. Er gehört zu jenen, die sich laufend mit unzufriedenen Müttern und Vätern herumschlagen müssen. «Wir haben mehr Rekurse», sagt Guggisberg, «vor allem aufsichtsrechtliche Anzeigen gegen die Unterrichtsführung haben zugenommen.» Auf dem Justizweg werde versucht, Einfluss zu nehmen auf den Inhalt des Unterrichts oder darauf, wie ein Lehrer eine Prüfung macht, sagt der Berner Schulleiter. «Es gibt Eltern, die kommen von Anfang an mit einem Anwalt.»
Vor allem Akademiker-Eltern seien «beschwerdefreudig», sagt Guggisberg. «Sie wollen, dass ihr Kind eine intellektuelle Laufbahn macht, und versuchen, das mit rechtlichen Mitteln zu erzwingen.» Es sei deswegen an seiner Schule auch schon zu «Abwanderungen in Privatschulen» gekommen.

Andere reichten Rekurse gegen die Klassenzuteilung ein. «Da sagen die Eltern dann, ihr Kind könne unmöglich mit diesem Lehrer zusammenarbeiten, das gefährde seine akademische Laufbahn.»

Auch Leonhard Cadetg, Rektor das Gymnasiums Biel-Seeland mit 1000 Schülern, kennt die Beschwerden der Eltern. «Wir sind stark mit Rekursen belastet, sie haben auch bei uns zugenommen», sagt Cadetg. Gut an einem Rekurs sei, dass man sich selber kontrollieren müsse – die Kehrseite: Es ist zeitraubend. Die Einsprachen fangen schon bei den Aufnahmeprüfungen an, sagt Cadetg, später gebe es Rekurse wegen Noten oder Disziplinarmassnahmen. «Es gibt Eltern, die alles tun, damit ihr Kind eine halbe Note mehr bekommt und an der Schule bleiben kann.»

Dass die Rekurse zunehmen, liegt auch daran, dass Eltern heute oȑ besser ausgebildet sind. Einige zögern nicht, sich durch Schulgesetze und Reglemente zu kämpfen – in der Hoffnung, auf dem Rechtsweg einen Vorteil für ihre Kind herauszuholen. Deshalb wiederum mussten die Schulen aufrüsten. An der Schule von Rektor Cadetg etwa gibt es Crash-Kurse in Jurisprudenz: «Wir schulen neue Schulleitungsmitglieder in rechtlichen Fragen, damit sie über grundlegende Kenntnisse verfügen.»

Viele Schulleiter haben begonnen, sich formal abzusichern und Akten zu führen wie ein Staatsanwalt. «Für jede Situation legen wir ein regelrechtes Dossier an, in dem alles für einen möglichen Rekurs zusammengetragen wird», sagt Christian Berdoz, Präsident von Claceso, der Vereinigung der Westschweizer Schulleiter.

Da werden Gesprächsprotokolle angefertigt von Besprechungen mit der Klasse oder von Sitzungen mit der Schulleitung. Die Korrespondenz mit den Eltern wird sorgfältig klassiert. So kommen zum Teil beachtliche Aktenberge zusammen. «Das wurde zu einer beträchtlichen Zusatzbelastung in unserem Beruf», sagt Berdoz.

Auch die Elternverbände ärgern sich über viele Einsprachen
Die Situation ist derart ausgeufert, dass die Kantone jetzt zu drastischen Mitteln greifen. Im Kanton Freiburg werden 95 Prozent der Rekurse abgewiesen, dennoch muss die Verwaltung jeden einzelnen bearbeiten. Jetzt zieht der Kanton die Notbremse. Er hat seit dem 1. August ein neues Reglement zum Schulgesetz in Kraȑ gesetzt, das Rekurse gegen eine ganze Reihe von Entscheidungen schlicht nicht mehr zulässt.

«Die Eltern können neu keine Entscheide mehr anfechten, die den Status des Schülers nicht beeinflussen», sagt Marianne Meyer von der Freiburger Bildungsdirektion. Konkret: Nicht mehr erlaubt sind Rekurse gegen die Zuweisung in eine Klasse, gegen einen Klassenwechsel innerhalb einer Schule, gegen erzieherische Massnahmen oder gegen die Ablehnung von Urlaubsgesuchen. Auch Noten können nicht mehr angefochten werden, ausser sie sind entscheidend für die Promotion oder einen Schullaufbahnentscheid.

Christian Berdoz, Präsident des Schulleiterverbandes, unterstützt das neue Reglement. Damit werde nun endlich Klarheit geschaffen. Auch die Vereinigung der Freiburger Elternverbände applaudiert. Das neue Reglement sei ohne Diskussion auf Akzeptanz gestossen, sagt Eltern-Präsident Jean-Frédéric Python. «Das dürfte damit zu tun haben, dass nur eine Minderheit von Eltern die rechtlichen Möglichkeiten missbraucht.» Viele stellten zum Beispiel Gesuche für verlängerte Ferien, nur um günstigere Flugtickets buchen zu können. Es komme immer wieder vor, dass Eltern nach einer Ablehnung der Ferienverlängerung den Fall gleich an den Kanton weiterziehen, dort Rekurs einlegen und einfach in die Ferien verreisen, ohne den Entscheid abzuwarten.


Einen anderen Weg geht der Kanton Neuenburg. Er verlangt für jeden Rekurs eine Vorschusszahlung von 660 Franken. Die Eltern bekommen das Geld nur dann zurück, wenn sie recht erhalten. Die Folge: Seit diese Massnahme eingeführt wurde, konnte der Anstieg der Rekurse gestoppt werden.

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