11. Juli 2016

Kunst- und Theaterunterricht als Alternativen zum Vermessen der Bildung

Nützlich soll Bildung sein. Diese zeitgeistige Haltung prägt selbst die Erwartungen der Schüler an den Unterricht. Wie geht Kunst- und Theaterunterricht damit um? Kunst und Theater sind doch gerade dann nützlich, wenn sie Sand ins Getriebe streuen.
Der Umgang mit dem Unerwarteten, NZZ, 11.7. von Walter Bernet


Bildungsstandards, Leistungsvergleiche, Kompetenz-Raster: Die gegenwärtige Bildungslandschaft steht unter dem Druck, Lerneffekte zu belegen. Angesichts dieser Orientierung an Effizienz und Effektivität, die auch die Erwartungen der Schüler an guten Unterricht prägt, droht aus dem Blick zu geraten, dass Bildungsprozesse nicht kontrolliert werden können. Was wie und warum bei Schülerinnen und Schülern ankommt, bleibt im Dunkeln. Wie kann man mit dieser Unbestimmtheit im Kunst- und Theaterunterricht produktiv umgehen? Auf diese Frage eine Antwort zu geben, war eines der Anliegen eines Projekts, das Forschende des Institute for Art Education an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und zehn Lehrkräfte aus den Bereichen Bildnerisches Gestalten, Musik und Theaterpädagogik zusammengebracht hat. Es trägt den Namen «Kalkül und Kontingenz».
Die Bedeutung von Kontingenz
In einer Art Schleifenbewegung zwischen Theorie und Praxis untersuchten die Beteiligten im Unterricht und in Theaterprojekten den produktiven Umgang mit Situationen, in denen sich Unerwartetes ereignet. Unerwartet eintreten kann nur dann etwas, wenn Erwartungen und damit (Vor-)Annahmen im Spiel sind. Diesen Annahmen auf die Spur zu kommen, ist einer der Effekte, die aus dem Forschungsprozess resultierten. Eine der zentralen Ausgangsfragen war: «Wie gelingt es, dass in der Begegnung mit Kunst im Unterricht Selbst-, Fremd- und Weltkonzepte aufgemischt werden?» Wer als Lehrperson oder Schüler die Erfahrung macht, dass vermeintlich festgefügte schulische Inhalte, aber auch Konzepte von ihnen selbst und der Welt relativ und kulturell verankert sind, kann ihre Gültigkeit befragen. In diesem Sinne versuchte das Projekt, den Umgang mit Kontingenz im Kunst- und Theaterunterricht methodisch zugänglich zu machen und dessen Wert entgegen den Forderungen nach Verwertbarkeit kenntlich zu machen.
Im Gespräch mit den beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Anne Gruber und Anna Schürch von der ZHdK sowie Daniela Wettstein, die am MNG Rämibühl Bildnerisches Gestalten unterrichtet, wird klar, dass das Projekt sehr nahe bei Fragen der Unterrichtsplanung angesiedelt ist. Es geht um Haltungen, die den Unterricht öffnen können, indem sie zulassen und produktiv nutzen, was die Planung nicht vorgesehen hat und was im ersten Moment als störend wahrgenommen wird. Ihre Arbeit im Forschungsprojekt habe immer wieder zur grundsätzlichen Frage geführt, was der Kern des Fachs Bildnerisches Gestalten und was Kunst sei, sagen die drei Beteiligten. Konkret sei es zum Beispiel darum gegangen zu beobachten, was im Unterricht geschehe, je nachdem, wie eine Aufgabe formuliert werde. Interessant dabei: Eine Aufgabe, die wie eine strikte Handlungsanweisung aus der Konzeptkunst formuliert ist, kann bei den Schülern zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Eine sogenannt offene Aufgabenstellung ergibt indes oft beliebige Resultate, weil ein Bezugspunkt fehlt.
Anleihen bei der Konzeptkunst
Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis sei man auf die sogenannten Scores – knappe Handlungsanweisungen – der amerikanischen Konzeptkunst der 1960er Jahre gestossen, etwa bei Künstlern und Künstlerinnen, die der Fluxus-Bewegung zugerechnet werden. Eine Grundidee der Scores: Die Abweichung zwischen Text und Ausführung erzeugt das Kunstwerk – entweder im Kopf oder als Versuch einer Realisierung. «Draw a straight line and follow it», so lautete etwa eine von mehreren Handlungsanweisungen des Avantgarde-Musikers La Monte Young in seinem Werk «Compositions 1960». Was heisst es, wenn ein Komponist im Jahr 1960 nicht Noten publiziert, sondern Anweisungen? Soll man sich als Musiker die Ausführung nur vorstellen? Was wäre dann für das Publikum zu hören? Was hielte das Publikum von einem solchen «Konzert», und ist es überhaupt ein Konzert? Handelt es sich um Musik? Fragen wie diese machen deutlich: Wiederum geht es um das Nachdenken über scheinbar Festgefügtes und Selbstverständliches.
Knapp und bestimmt formulierte Anweisungen, das zeigen die historischen Vorbilder, können bei der Ausführung in Situationen führen, die einen die eigenen Konzepte und deren Kontingenz bewusst werden lassen. Der Formulierung von solchen Anweisungen liegt ein Kalkül zugrunde, ein beabsichtigtes Spektrum an Wirkungen. Ob und was davon eintritt, bleibt offen. Der Effekt aber ist meist eine Verschiebung der Wahrnehmung. So werden etwa Routinen im Alltag als solche auffällig.

Diese «kleine methodische Entdeckung» könne jetzt im Kontext Schule vielfach fruchtbar gemacht werden – insbesondere für das Formulieren von Aufgaben im Kunst- und Theaterunterricht, sagen die drei Beteiligten.

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