Nützlich soll Bildung sein. Diese zeitgeistige Haltung prägt selbst die
Erwartungen der Schüler an den Unterricht. Wie geht Kunst- und
Theaterunterricht damit um? Kunst und Theater sind doch gerade dann nützlich,
wenn sie Sand ins Getriebe streuen.
Der Umgang mit dem Unerwarteten, NZZ, 11.7. von Walter Bernet
Bildungsstandards, Leistungsvergleiche, Kompetenz-Raster: Die
gegenwärtige Bildungslandschaft steht unter dem Druck, Lerneffekte zu belegen.
Angesichts dieser Orientierung an Effizienz und Effektivität, die auch die
Erwartungen der Schüler an guten Unterricht prägt, droht aus dem Blick zu
geraten, dass Bildungsprozesse nicht kontrolliert werden können. Was wie und
warum bei Schülerinnen und Schülern ankommt, bleibt im Dunkeln. Wie kann man
mit dieser Unbestimmtheit im Kunst- und Theaterunterricht produktiv umgehen?
Auf diese Frage eine Antwort zu geben, war eines der Anliegen eines Projekts,
das Forschende des Institute for Art Education an der Zürcher Hochschule der
Künste (ZHdK) und zehn Lehrkräfte aus den Bereichen Bildnerisches Gestalten,
Musik und Theaterpädagogik zusammengebracht hat. Es trägt den Namen «Kalkül und
Kontingenz».
Die Bedeutung von Kontingenz
In einer Art Schleifenbewegung zwischen Theorie und Praxis untersuchten
die Beteiligten im Unterricht und in Theaterprojekten den produktiven Umgang
mit Situationen, in denen sich Unerwartetes ereignet. Unerwartet eintreten kann
nur dann etwas, wenn Erwartungen und damit (Vor-)Annahmen im Spiel sind. Diesen
Annahmen auf die Spur zu kommen, ist einer der Effekte, die aus dem
Forschungsprozess resultierten. Eine der zentralen Ausgangsfragen war: «Wie
gelingt es, dass in der Begegnung mit Kunst im Unterricht Selbst-, Fremd- und
Weltkonzepte aufgemischt werden?» Wer als Lehrperson oder Schüler die Erfahrung
macht, dass vermeintlich festgefügte schulische Inhalte, aber auch Konzepte von
ihnen selbst und der Welt relativ und kulturell verankert sind, kann ihre
Gültigkeit befragen. In diesem Sinne versuchte das Projekt, den Umgang mit
Kontingenz im Kunst- und Theaterunterricht methodisch zugänglich zu machen und
dessen Wert entgegen den Forderungen nach Verwertbarkeit kenntlich zu machen.
Im Gespräch mit den beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Anne
Gruber und Anna Schürch von der ZHdK sowie Daniela Wettstein, die am MNG
Rämibühl Bildnerisches Gestalten unterrichtet, wird klar, dass das Projekt sehr
nahe bei Fragen der Unterrichtsplanung angesiedelt ist. Es geht um Haltungen, die
den Unterricht öffnen können, indem sie zulassen und produktiv nutzen, was die
Planung nicht vorgesehen hat und was im ersten Moment als störend wahrgenommen
wird. Ihre Arbeit im Forschungsprojekt habe immer wieder zur grundsätzlichen
Frage geführt, was der Kern des Fachs Bildnerisches Gestalten und was Kunst
sei, sagen die drei Beteiligten. Konkret sei es zum Beispiel darum gegangen zu
beobachten, was im Unterricht geschehe, je nachdem, wie eine Aufgabe formuliert
werde. Interessant dabei: Eine Aufgabe, die wie eine strikte Handlungsanweisung
aus der Konzeptkunst formuliert ist, kann bei den Schülern zu sehr
unterschiedlichen Ergebnissen führen. Eine sogenannt offene Aufgabenstellung
ergibt indes oft beliebige Resultate, weil ein Bezugspunkt fehlt.
Anleihen bei der Konzeptkunst
Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis sei man auf die sogenannten Scores –
knappe Handlungsanweisungen – der amerikanischen Konzeptkunst der 1960er Jahre
gestossen, etwa bei Künstlern und Künstlerinnen, die der Fluxus-Bewegung
zugerechnet werden. Eine Grundidee der Scores: Die Abweichung zwischen Text und
Ausführung erzeugt das Kunstwerk – entweder im Kopf oder als Versuch einer
Realisierung. «Draw a straight line and follow it», so lautete etwa eine von
mehreren Handlungsanweisungen des Avantgarde-Musikers La Monte Young in seinem
Werk «Compositions 1960». Was heisst es, wenn ein Komponist im Jahr 1960 nicht
Noten publiziert, sondern Anweisungen? Soll man sich als Musiker die Ausführung
nur vorstellen? Was wäre dann für das Publikum zu hören? Was hielte das
Publikum von einem solchen «Konzert», und ist es überhaupt ein Konzert? Handelt
es sich um Musik? Fragen wie diese machen deutlich: Wiederum geht es um das
Nachdenken über scheinbar Festgefügtes und Selbstverständliches.
Knapp und bestimmt formulierte Anweisungen, das zeigen die historischen
Vorbilder, können bei der Ausführung in Situationen führen, die einen die
eigenen Konzepte und deren Kontingenz bewusst werden lassen. Der Formulierung
von solchen Anweisungen liegt ein Kalkül zugrunde, ein beabsichtigtes Spektrum
an Wirkungen. Ob und was davon eintritt, bleibt offen. Der Effekt aber ist
meist eine Verschiebung der Wahrnehmung. So werden etwa Routinen im Alltag als
solche auffällig.
Diese «kleine methodische Entdeckung» könne jetzt im Kontext Schule
vielfach fruchtbar gemacht werden – insbesondere für das Formulieren von
Aufgaben im Kunst- und Theaterunterricht, sagen die drei Beteiligten.
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