Das Fremdsprachenkonzept der Schweizerischen
Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), gekoppelt an eine neue
Didaktik, ist ein Lehrstück darüber, wie heute in der Schweiz durch ein höchst
fragwürdiges Zusammenspiel von Erziehungsdirektoren, Verwaltung und
Wissenschaft Bildungspolitik gemacht wird, welche Folgen das für die politische
Kultur in diesem Land und den Unterricht an den Schulen hat und wie
leichtfertig enorme Summen in zweifelhafte Projekte investiert werden.
Teure neue Lehrmittel aus Schweizer Produktion. Bild: Roger Fereday |
Wie aus Reformitis Big Business wird, Basler Zeitung, 2.6. von Urs Kalberer, Philipp Loretz, Alain Pichard, Felix Schmutz und Roland Stark
1. Wir müssen etwas tun!
Obwohl die Fremdsprachen gar nicht Teil des
Pisa-Tests waren, wurden auch sie durch den inszenierten «Pisa-Schock» im Jahr
2000 erfasst. Erschüttert vom angeblichen Beleg für das Ungenügen des hiesigen
Schulsystems sah man über die Grenzen hinaus und stellte fest, dass in
Nachbarländern die Schulkinder viel früher mit Fremdsprachen begannen. Dankbar
griff die Politik nach diesem Strohhalm, der eine Option bot, rasch als
tatkräftig Handelnde wahrgenommen zu werden.
Überhastet erfolgte 2004
die Verabschiedung des neuen EDK-Sprachenkonzepts, demgemäss die erste
Fremdsprache im dritten und die zweite im fünften Schuljahr einzusetzen habe
sowie eine davon eine Landessprache sein müsse. Diese Lösung war ein rein
politischer Kompromiss zwischen den Kantonen, die sich nicht einigen konnten,
ob zuerst Französisch oder Englisch gelehrt werden sollte. Um die Romandie zu
besänftigen, hatte man das in Zürich und anderswo favorisierte Primat des
Englischen mit der Pille der Festlegung der zweiten Fremdsprache auf der Primarstufe
versüsst. Pädagogische Gesichtspunkte hatten der Staatsräson zu weichen.
2. Selektive Wahrnehmung
und unseriöses Vorgehen
Im Unterschied zur Staffelung von Französisch
und Englisch wurde die viel wichtigere Frage nach der Sinnhaftigkeit des
Entscheides medial kaum diskutiert, obwohl das Konzept wissenschaftlich
bestenfalls dünn abgestützt war. Umfangreiche Studien besagten, dass
Frühstarter keine nennenswerten Fortschritte erzielten. Solche Befunde jedoch
wurden mithilfe willfähriger Wissenschaftler zugunsten missverstandener
Erkenntnisse der Hirnforschung konsequent ausgeblendet. So war etwa die Rede
von Lernfenstern, die nur jüngeren Kindern offen stünden und später nicht mehr
genutzt werden könnten.
Grosszügig verdrängt wurde
selbst Elementares: so die Schwierigkeit, dass in der Deutschschweiz
Aufwachsende zuerst Standarddeutsch als fremde Variante der Erstsprache lernen
müssen und Französisch und Englisch somit den Platz von Sprache 3 und 4
einnehmen. Unbeachtet blieb auch, dass das Erlernen einer zusätzlichen Sprache
im familiären Umfeld en passant etwas ganz anderes ist als die künstliche
Situation des Schulunterrichts. Selbst das Fehlen einer international
anerkannten Didaktik für das frühe Fremdsprachenlernen beunruhigte die
Promotoren nicht. Die überwiegend positive Stimmung in Bevölkerung und Medien
kam ihnen dabei gelegen.
Um die berechtigten
Einwände betreffend die fehlende wissenschaftliche Legitimation zu
«entkräften», bestellte die Zürcher Erziehungsdirektion 2002 ein Gutachten an
der Pädagogischen Hochschule Zürich. Unglaublich, aber wahr: Der Urheber der
Expertise war an Frühfremdprojekten und der Entwicklung der entsprechenden
Lehrmittel persönlich massgeblich beteiligt. Von einem unabhängigen Gutachten
konnte nicht die Rede sein.
3. Eine
pseudowissenschaftliche Didaktik
Ursprünglich hätte die erste Fremdsprache
immersiv unterrichtet werden sollen, das heisst gewisse Fächer wären
ausschliesslich in der Zielsprache erteilt worden. Um effizient sein zu können,
müsste das einen ansehnlichen Anteil der Gesamtunterrichtszeit umfassen,
erteilt von muttersprachigen Lehrpersonen.
Die Realität sieht anders
aus: Die Frühfremdsprache wird isoliert mit minimaler Stundendotation erteilt,
was nicht intensiv genug sein kann und den andern Fächern Unterrichtszeit
wegnimmt. Die gesamthafte Lektionenzahl für die Fremdsprache während neun
Jahren Volksschule wurde gleich belassen, was eine Verminderung pro Schuljahr
bedeutet und die Übungszeit in der Sekundarschule massiv reduziert. Ferner
werden dafür Lehrpersonen eingesetzt, deren Eignung für den
Fremdsprachenunterricht hochgradig divergiert.
Angesichts der
suboptimalen Rahmenbedingungen schoben die Verantwortlichen als neue
Unterrichtsmethode eine Bastelei aus Mehrsprachigkeitsdidaktik und
Konstruktivismus nach. Diese Unterrichtsform wurde nicht empirisch erprobt,
sondern auf Anhieb flächendeckend eingeführt. Ein interkantonaler Feldversuch
mit einer Schülergeneration als Probanden.
4. Augen zu und durch!
Aus Angst vor Gesichtsverlust und befeuert
durch enorme Mittel für Umsetzung und Forschung trieb die Allianz aus Politik,
Verwaltung und Wissenschaft das Konzept unbeirrt voran und offenbarte mitunter
sektiererisches Gebaren: Alles, was bisher war, sei schlecht und müsse entsorgt
werden. Und will die Arznei partout nicht wirken, wechselt man nicht etwa das
Medikament, sondern erhöht die Dosis. Konkret: Evaluationsresultate sind
technisch irgendwie nicht verfügbar. Dann wird so lange am Massstab oder an den
Indikatoren geschraubt, bis schliesslich eine Erfolgsmeldung herausspringt.
Wer die vielfältigen
Mängel des Konzepts trotzdem anzusprechen wagte, geriet häufig unter Druck: Wie
bei der Einführung der integrativen Schule wurden mahnende Stimmen verspottet
oder willkürlich mit einem (rechtskonservativen) politischen Etikett versehen.
EDK-Vertreter schmetterten Einwände mit dem Hinweis ab, Lehrende verschlössen
sich grundsätzlich zuerst immer allen Neuerungen, sie müssten sich erst daran
gewöhnen, Fortbildung würde sie darauf vorbereiten, alles Neue brauche seine
Zeit etc. Dass die Kritik oft von erfahrenen Lehrkräften kam, wurde
geflissentlich übergangen. Lieber spannte man eigens dafür angestellte
Mitarbeiter von Pädagogischen Hochschulen oder Behördenvertreter vor den
Karren, die begeistert, da finanziell davon abhängig, die frohe Botschaft der
neuen Lehre verkündeten, ohne auf Gegenargumente einzugehen. Die Folge:
Praxisferne, Bürokratie, horrende Kosten.
5. Der Tabubruch:
Öffentliche Verleumdung
Durch das Anwachsen der kritischen Datenmenge
(vgl. Berthele/Lambelet und Kübler) in jüngster Vergangenheit und den
gleichzeitigen Mangel an Beweisen für die Wirksamkeit ihres Konzepts scheinen
die Nerven der Befürworter zunehmend blank zu liegen. Anders ist es nicht zu
erklären, dass EDK-Präsident Christoph Eymann die preisgekrönte Arbeit der
Zürcher Linguistin Simone Pfenninger als «unwissenschaftlich» diffamiert
hat – zunächst in einem Beitrag in der Basler Zeitung, wenig später sogar
hochoffiziell in seiner Antwort auf eine Interpellation der Basler GLP-Grossrätin
Katja Christ.
Pfenningers «Vergehen»
besteht allein im Fazit ihrer aktuellsten Studie zum Fremdsprachenerwerb: Frühlerner
sind bezüglich Leistung und Motivation den Spätlernern nicht überlegen. Und
generell gilt: besser spät und intensiv als halbbatzig und über viele Jahre
verteilt. Also das Gegenteil dessen, was die EDK propagiert.
6. Reformspektakel als
Business
Viele Jobs wurden geschaffen: an den
Pädagogischen Hochschulen, in kantonalen Verwaltungen und Kurskadern.
Verordnete Aus- und Fortbildungen verschlingen Unsummen. «Mille feuilles» und
«Clin d’œil» werden als die teuersten (Einweg-)Lehrmittel in die Geschichte
eingehen. Für die Produzenten hat sich das Geschäft gelohnt – und für die
Kantone Bern und Aargau, denen zu je 50 Prozent der «Schulverlag plus» gehört,
der die Lehrmittel vertreibt.
Nach nur einem Jahr
beschloss die Berner Erziehungsdirektion, die Lehrmittel zu überarbeiten, und
sprach dafür erneut einen Kredit. Die Reihe wird mit allerlei Zusatzmaterialien
nachgerüstet: Grammatik, Wortschatz, Zusatzübungen. So wird klammheimlich die
hochgepriesene Lehrmethode in die alte zurückverwandelt – mit noch nie da
gewesenen Kostenfolgen. Gemäss Schätzungen belaufen sich allein die Ausgaben
der sechs Passepartout-Kantone auf insgesamt mehr als 100 Millionen Franken.
Mit den Worten von Markus
Kübler von der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen fordern wir eine
«vorurteilsfreie Zurkenntnisnahme empirischer Befunde als Auslegeordnung sowie
eine offene (…) Diskussion über die Handlungsoptionen (…) und die
Gelingensbedingungen von frühem Fremdsprachenlernen (…)». Die Zeit drängt.
Die Autoren: Urs Kalberer, Sprachdidaktiker und Sekundarlehrer, Kanton
Graubünden
Philipp Loretz, Seewen,
Sekundarlehrer und Mitglied der LVB-Geschäftsleitung, Kanton Baselland
Alain Pichard, Reallehrer,
GLP-Stadtrat in Biel, Kanton Bern
Felix Schmutz, Kanton
Baselland
Roland Stark (SP), Lehrer
und Heilpädagoge, ehemaliger Verfassungsrats- und Grossratspräsident, Kanton
Basel-Stadt.
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