1. Juni 2016

Notenstreit als Nebenkriegsschauplatz

Das vom Erziehungsrat des Kantons St. Gallen zur Konsultation vorgelegte Beurteilungskonzept «Fördern oder Fordern» polarisiert in der Öffentlichkeit. Wenig erfreulich ist dabei, dass meistens nur über die Notenskala 6–1 oder 6–3 debattiert wird und alle weiteren Massnahmen, welche im Beurteilungskonzept vorgeschlagen sind, kaum oder gar nicht angesprochen werden. Viele von ihnen sind positiv zu werten, auch wenn sie für gute Lehrpersonen über weite Teile selbstverständlich sind.
Kontroverse um die Notenskala, St. Galler Tagblatt, 31.5. von Rolf Dubs


Auch in der Wissenschaft diskutiert

Seit über vierzig Jahren werden die Fragen der Notengebung und der Notenskalen auch in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Stark mehrheitlich vertreten die Forschenden die Auffassung, dass sowohl periodische Noten in Zeugnissen als auch Noten in einzelnen Klausuren pädagogisch wertvoll sind. Ob sie aber längerfristig zu besseren Lernleistungen beitragen, ist immer noch ungeklärt. Doch gibt es Einzelerkenntnisse, welche eher für Noten sprechen. So ist die konstruktivistische Pädagogik mit ihrer Idee der Selbstevaluation durch die Lernenden anstelle von Noten gescheitert. Auch bestätigen viele Untersuchungen, dass benotete Klausuren die extrinsische Motivation zum Lernen erhöhen und die Lernhaltung verstärken. Schliesslich zeigen viele Schülerbefragungen, dass die Lernenden selbst etwa ab der dritten Klasse zur Einschätzung ihres eigenen Könnens Noten wünschen und diese gegenüber Wortbeurteilungen vorziehen.

Wissenschaftlich unbeantwortet bleibt hingegen trotz vieler Studien die Problematik der Notenskalen und der Notenverteilung innerhalb einer Klasse. Sicher ist nur, dass eine zu differenzierte Skala (z. B. 6–1 mit Viertelnoten) zu weniger gültigen Ergebnissen führt als einfache Skalen. Die Breite der Skala bleibt aber aus wissenschaftlicher Sicht immer eine subjektiv durch die Schulbehörden festzulegende Aufgabe. Deshalb lässt sich die jetzt diskutierte Problematik 6–1 bzw. 6–3 wissenschaftlich nicht lösen, sondern nur argumentativ vertreten.

Eine brauchbare Tradition

Ich bin für eine Skala 6–1. Erstens sollte für Zeugnisse und die tägliche Benotung von Klausuren die gleiche Skala gelten. Ich erwarte bei völlig ungenügenden Prüfungsarbeiten und – wenn auch etwas weniger – in Zeugnissen mehr ermahnende Wirkungen, eine grössere Herausforderung und längerfristig eine bessere Motivation, wenn die Noten 1 und 2 erteilt werden. Zweitens besteht, wenn nur noch eine ungenügende Note vergeben werden kann, die Gefahr, dass infolge ihres wenig differenzierten Gewichts weniger klare Aussagen entstehen, was längerfristig zu einer Abwertung der Aussagekraft der Noten führen kann. Und drittens sollte eine Tradition, die seit langem brauchbar ist, nicht durch eine «Reform» ohne überzeugende Rechtfertigung verändert werden. Solche «Reformen» belasten die Lehrkräfte und schaffen während längerer Zeit unnötige Verunsicherungen in der Lehrerschaft und bei den Eltern, bis sie mit dem Neuen wirklich vertraut sind. 

Zusätzliche Belastungen für die Lehrerschaft bringt das Beurteilungskonzept mit der Verknüpfung von Noten und Kompetenzen ohnehin. Dies weil die Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 zu wenig praxisorientiert ausgestaltet ist und daher noch viel Arbeit für jede Lehrperson bringt, wenn sie weisungsgemäss kompetenzorientiert benoten und dazu traditionelle Aufgabenstellungen überwinden muss.


Meines Erachtens ist die Streitfrage 6–1 oder 6– ein Nebenkriegsschauplatz, der das ganze Beurteilungskonzept nicht in Frage stellen sollte. Klug wäre es, der Mehrheitsmeinung der Lehrerschaft zu folgen, denn ihre Einstellung ist für die Akzeptanz und das kompetente Anwenden der Notenskala unabdingbar.

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