Viele kantonale Initiativen im Zusammenhang
mit dem Lehrplan 21 (LP 21) wenden sich gegen den Bildungsabbau in den schulischen
Grundlagen. Die Volksinitiative «Ja zu einer guten Thurgauer Volksschule»
fordert daher z.B., «die elementaren Ziele Lesen, Schreiben, Rechnen und eine
positive Arbeitshaltung» zu sichern. Die Bildungsadministrationen behaupten
hingegen, dass auch der LP 21 dies anstrebe. Ein Blick in den LP 21 erhellt,
was künftig im Bereich Rechnen zu erwarten ist.
Wichtiges arithmetisches Grundwissen bleibt auf der Strecke, EDU-Standpunkt Juli/August 2016 von Lutz Wittenberg
Der LP 21 legt im Mathematikunterricht viel
Wert darauf, dass die Schüler eigene Rechenstrategien finden und überhaupt
einen kreativen Umgang mit der Welt der Zahlen erwerben. Die Schüler «lassen
sich auf offene Aufgaben ein, erforschen Beziehungen, formulieren Vermutungen
und suchen Lösungsalternativen», heisst es z. B. in einer typischen
Kompetenzumschreibung. Dahinter steht die modische Grundauffassung, dass die
geistigen Entwicklungsmöglichkeiten der Schüler eingeschränkt würden, wenn die
Lehrperson einen für alle sinnvollen und sicheren Weg erarbeitet, erklärt oder
zeigt. Vielmehr sollte möglichst jeder eigene Wege finden – und das dauert z.T.
sehr lang und ist für viele Schüler nicht erfolgversprechend.
Kaum fundiertes Wissen ...
Gleichzeitig werden fachliche Ziele vermehrt
nach hinten verschoben oder ganz aufgegeben. Während bis vor kurzem noch klar
war, dass das Verstehen und Auswendiglernen des Einmaleins in der zweiten
Primarschulklasse stattfindet, ist für diesen Zeitpunkt im LP 21 nur noch ein
kleiner Rest geblieben: Die Schüler «kennen Produkte aus dem kleinen Einmaleins
mit den Faktoren 2, 5 und 10.»
Wesentlich später – zu unterrichten bis Ende
vierte Klasse, von allen Schülern verbindlich zu beherrschen erst Ende der
sechsten Klasse – heisst es dann, die Schüler «kennen die Produkte des kleinen
Einmaleins.» Ab der fünften und spätestens ab der sechsten Klasse, sollen die
Schüler aber schon «Grundoperationen mit dem Rechner ausführen» – lebhaft kann
man sich vorstellen, dass nicht nur die Sicherung des Einmaleins weiter leidet.
... aber schwammige Kompetenzen
Ausserdem sollen die Schüler in der
Mittelstufe «schriftlich addieren und subtrahieren» können, aber schriftliche
Multiplikationen und Divisionen werden gar nicht mehr erwähnt! Auch in der
Oberstufe wird auf bedeutsame Bildungsinhalte verzichtet. Die Schüler «können
Prozentrechnungen mit dem Rechner ausführen», müssen sie aber weder schriftlich
noch im Kopf beherrschen. Dazu kommt, dass im Bereich Rechnen auf verbindliche
Ziele in der Oberstufe sogar ganz verzichtet wird. «Bei wenigen
Kompetenzaufbauten sind keine Grundansprüche gesetzt worden. Bei diesen
Aufbauten wird nicht vorausgesetzt, dass die Schülerinnen und Schüler im
betreffenden Zyklus eine bestimmte Kompetenzstufe erreichen sollen.» Mit
anderen Worten: Ein späterer Lehrmeister kann sich nicht einmal darauf
verlassen, dass sein Lehrling Prozentrechnungen auf dem Taschenrechner
ausführen kann.
Verzerrte Benotung ...
Sichere Rechenkenntnisse werden ausserdem
durch die neue Notengebung infrage gestellt. Im LP 21 heisst es: «Formative
Beurteilung berücksichtigt fachliche, personale, soziale und methodische
Kompetenzen.» D. h., dass für die Zeugnisnoten nicht nur eine Rolle spielt, was
ein Schüler kann, sondern es werden auch andere als fachliche Kriterien in die
Benotung einbezogen. Beispielsweise haben nicht nur die sicheren mathematischen
Kenntnisse und Fertigkeiten Einfluss auf die Note in Mathematik, sondern auch,
ob der Schüler motiviert beim Arbeiten war, ob er gut mit Kollegen
zusammengearbeitet und ob er selbständig gelernt hat, oder doch immer wieder
vom Lehrer wissen wollte, wie eine Aufgabe anzugehen ist.
Konkret kann das bedeuten, dass ein Schüler,
der unfähig ist, eine Rechenaufgabe korrekt auszurechnen, trotzdem eine genügende Note erhält, nur weil er einen zwar
falschen, aber speziell kreativen Rechenweg gesucht hat, sehr motiviert beim
Erforschen seiner Rechenstrategie gewesen ist und diese Strategie seinen
Mitschülern auch noch sehr kommunikativ mitteilen konnte. Umgekehrt ist auch
ein mathematisch geübter Schüler denkbar, der trotz richtiger Ergebnisse keine
gute Note erhält, nur weil er keine besondere Kreativität und
Kommunikationskompetenz gezeigt hat.
... und falsche Ansätze
Von Befürwortern des LP 21 wird immer wieder
darauf hingewiesen, dass die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer
gestärkt werden. Welchen wirklichen Stellenwert gesicherte Rechenkenntnisse
dann tatsächlich haben, ergibt sich auch aus den neuen Stundentafeln. Z. B. im
Thurgau soll die Gesamtstundenzahl in Mathematik neu um eine weitere Lektion
reduziert werden. Zusammenfassend ist somit ein weiterer Abbau der
Rechenfähigkeiten zu befürchten.
Dr. phil. Lutz Wittenberg,
Erziehungswissenschaftler und Berufsschullehrer
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