29. Mai 2016

Der Schatz von Köniz

Über 60'000 Objekte aus Schweizer Schulstuben ruhen in König bei Bern unter der Erde. Sie zeugen vom Wesen und vom Wandel der Volksschule in den vergangenen zwei Jahrhunderten.
Kurt Hofer sieht sich Schulwandbilder an, Bild: Goran Basic
Der Schatz von Köniz, NZZ, 28.5. von Urs Hafner
Es ist kalt und still, es riecht nach Moder und Staub. Kalt ist auch das Licht, das von den Neonröhren fällt. Die Finger werden klamm, der Kugelschreiber gibt den Geist auf. Kurt Hofer reicht dem Journalisten einen Bleistift, den er aus einem Karton hervorgekramt hat. Dann streicht er mit der Hand zärtlich über den Deckel des Harmoniums, öffnet ihn, setzt sich auf den Hocker und spielt ein paar Akkorde, während seine Füsse die Pedale treten. Die stattliche Gestalt wiegt sich leicht im Takt der Töne. Der Journalist wird ganz andächtig.

Kurt Hofer, pensionierter Lehrer mit weissem Bart, Panamahut und sanfter Stimme, ist der Herr des unterirdischen Labyrinths, in welchem leider nicht fotografiert werden darf und das auch nicht besucht werden kann. Seit bald fünfzig Jahren sammelt er leidenschaftlich alle möglichen Gegenstände, die irgendwie mit der Schule zu tun haben. Wenn er nun durch die vielen Räume geht, in denen die weit über 60 000 Objekte ruhen – die etwa 40 000 Diapositive nicht mitgerechnet –, nimmt er mit immer neuer Freude dieses Gesangbuch und jenen Bastelsatz zur Hand. Er erklärt die Funktion und Herkunft des Dings, stellt es zurück, ergreift das nächste Heft und noch einen Lehrplan und winkt dann seufzend ab: «Ich darf nicht hineinschauen, sonst kommen wir nie an ein Ende.» Im «Raritätenraum» zeigt er auf eine Schulhaus-Mutteruhr, einen halben Meter hoch, Marke Zenith: «Das gibt es nirgends mehr.» Und schon betritt er den nächsten Raum, zündet das Licht an: «Dieses wunderschöne Schlachtenmodell wäre beinahe weggeworfen worden», er schüttelt den Kopf, «ich konnte es gerade noch retten.»

Das Kellerlabyrinth ist ein Zauberschloss. Wer sich in den endlosen Gängen und Zimmern der unterirdischen Zivilschutzanlage verirrt, zwischen den Bücherreihen und Landschaftsreliefs hängenbleibt, sich im Chaos der Rechenschieber und Poesiealben verliert, der findet seine Kindheit wieder. Er taucht ein in jene endlosen Stunden, als er in der Schulstube mit der Laubsäge einen Segelflieger bastelte, als die Füllfeder stockend dem Diktat der Lehrerin folgte, als die Pausenglocke einfach nicht läuten wollte, obschon der Blick schon wieder von der Schiefertafel zum Fenster geschweift war, das nach draussen in die Sonne lockte.

Wir stehen vor den vier mächtigen Truhen mit den Schulwandbildern: einem der grössten Schätze der Sammlung. «Wir besitzen alle 252 Exemplare», stellt Kurt Hofer stolz fest. Ab den 1930er Jahren bis fast zum Ende des letzten Jahrhunderts gestalteten Schweizer Künstlerinnen und Künstler im Auftrag des Bundes grossformatige Bilder meist patriotischen Inhalts, die in vielen Schulstuben aushingen. Was auch immer die didaktischen Absichten waren: Primär stillten die Bilder den visuellen Hunger der Kinder und stimulierten deren Phantasien weiter, die sich nicht nur an Wiesen draussen, sondern auch an den blonden Zöpfen in der vorderen Reihe entzündet hatten. Die Augen wanderten in die Hütte der Pfahlbauerfamilie mit der auffallend hübschen Säuglingsmutter, von dort zur grossen Tür hinaus zum blauen See hinunter und weiter zu den Bergen dahinter. «Die Frau trägt die Züge der Gattin des Malers», weiss Kurt Hofer. Was damals, mitten im Kalten Krieg, keinen kümmerte, weder den allwissenden Lehrer mit dem Kreidestaub auf der Hose noch die schüchternen Schüler mit ihren Sehnsüchten: Die Pfahlbauerfamilie war eine ahistorische Projektion. Sie hatte wenig mit der urgeschichtlichen Vergangenheit, aber viel mit den kleinbürgerlichen Normen der Gegenwart zu tun. Die Pfahlbauerin, aber auch Ritter und Helvetier sollten den Kindern beibringen, wie sich ein rechter Mann und eine brave Frau aufzuführen hatten. Erst mit der zeitlichen Distanz und unter der veränderten politischen Konjunktur merkt man, worum es damals wirklich ging im Schulunterricht.

Wer kennt das Rössli Hü nicht?

Die Volksschule ist vieles: ein kindlicher Traum-Ort, eine republikanische Erziehungsanstalt, ein ideologischer Staatsapparat. Die Schülerinnen und Schüler sollen nicht nur lesen, schreiben und rechnen lernen – und mündig werden und soziale Kompetenzen erwerben –, sie sollen sich auch mit den Idealen ihrer Nation identifizieren: mit der politischen Freiheit, der rechtlichen Gleichheit, eventuell auch, je nach Lehrkraft, mit der Solidarität. Und natürlich sollen sie der Autorität gehorchen.

Im besten Fall realisiert die Chefarzttochter, dass in ihrer Stadt auch Kinder aus Albanien leben, die an Weihnachten nicht nach New York fliegen, mit denen man sich aber dennoch bestens unterhalten und anfreunden kann. Und vielleicht wächst im Sohn des Lastwagenchauffeurs der Wunsch, an die Universität zu gehen. Kurt Hofer fallen zwei Atlanten von 1960 in die Hände. Plötzlich ärgert er sich: «Das dicke Buch war für die gescheiten Sekundarschüler bestimmt, das dünne für die dummen Realschüler: ein Skandal. Ist die Welt nicht für alle gleich gross?» Noch während der verdutzte Journalist die beiden Exemplare vergleicht, steht Kurt Hofer schon im nächsten Raum, im Zimmer der Naturwissenschaften, dessen Regale mit Reagenzgläsern und Bunsenbrennern gefüllt sind. Dann folgen die Sammlungen der Hefte des Schweizerischen Jugendschriftenwerks und die Pestalozzi-Kalender, «fast alles komplett». Kurt Hofer zieht liebevoll ein hölzernes Pferdchen aus einer Kartonschachtel: «Das Rössli Hü – wie bitte, Sie kennen es nicht? Wie habe ich seine Geschichten geliebt!» Die riesige Sammlung, die in Köniz bei Bern steht, bietet eine unendliche Fülle an Material, anhand dessen man erforschen könnte, wie in der Schweizer Volksschule des 19. und des 20. Jahrhunderts welches Wissen vermittelt wurde und werden sollte.

Welch ein Schatz! Welche Weltbilder und Ordnungsvorstellungen hätten die Kinder verinnerlichen sollen, was und wie wurde gefördert und bestraft, was kam in den pädagogischen Blick – und was nicht? Nur was die Schülerinnen und Schüler dachten und empfanden, ist kaum mehr zu rekonstruieren.

Wenn der Satz stimmt, dass das Medium die Botschaft sei, wirft nur schon der Wandel der didaktischen Mittel Fragen auf: Wie bedingten sie jeweils die Wissensvermittlung? Sie sind hier alle vertreten: die schwere Schiefertafel, der Hellraumprojektor, die Moltonwand, der Caran-d'Ache-Griffel «Heidi», die Gänse- und die Füllfeder, der Tintenkiller, die bunten Cuisenaire-Stäbli, der Abakus, der Computer, der Bambusstab. Auch die Schulpulte mit integrierter Bank, welche die Schüler zur korrekten Sitz- und Schreibhaltung zwangen, sind vertreten. Und die vollständigen Lehrmittelbibliotheken zweier Primarlehrer. Die Materialien für den Handarbeitsunterricht für Mädchen. Ein Schulrodel von 1861. Ein detailliertes Modell der Schöllenenschlucht mit stiebendem Steg. Der mit Kuhfell bespannte Schultornister. Der von einer Lehrerin selbstgebastelte Lesekasten.

Ab und an finden einige Objekte den Weg ans Licht. Das Schloss Köniz, das über dem Dorf thront, beherbergt das Schulmuseum Bern, neben jenem im thurgauischen Amriswil das einzige seiner Art in der Schweiz. Das Schulmuseum ist aus der Hoferschen Sammlung hervorgegangen und greift für seine Ausstellungen immer wieder auf diese zurück; zurzeit thematisiert es den Schreibunterricht, «von der Feder zum Touchscreen». Der Stolz des Museums ist das historisierende Schulzimmer, das Albert Ankers Bildern nachempfunden ist. Mit einer schwarzen Zipfelmütze auf dem Kopf reinszeniert Kurt Hofer hier mit Besuchern Schulstunden, wie sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts hätten stattfinden können.

Der Zufall führt Regie

Eine Freiwilligenequipe des Schulmuseums arbeitet nun tapfer an der Sichtung, Selektion und Inventarisierung des versammelten Materials. Daran führt kein Weg vorbei, wenn es denn für die Zukunft gerettet werden soll. Nur in der Ordnung des Wissens wird sichtbar, wie dieses einst hätte die Welt ordnen sollen. Noch aber ist das Chaos nicht bezwungen, noch führt der Zufall Regie. Kurt Hofer zeigt auf einen Prachtglobus aus dem Emmental, der in einer Ecke steht. Er trägt die Namen von Ländern und Städten, aber auch die unsichtbaren Spuren der Schülerfinger, die übers Meer fuhren. Lange bevor Touchscreens erfunden wurden.












2 Kommentare:

  1. Der obige link führt zum Schulmuseum Amriswil TG.

    Der link für das Schulmuseum Bern ist hier:
    http://www.schulmuseumbern.ch/

    Beide Museen haben normalerweise am Mittwoch- und Sonntagnachmittag geöffnet. Bern nicht während Schulferien, dafür auch am Samstagnachmittag.

    AntwortenLöschen