26. April 2016

Hausaufgaben abschaffen, weil sie die Chancengleichheit missachten

Förderkurse für Kinder aus benachteiligten Familien sind nett gemeint. Viel effektiver aber wäre es, wenn Schülerinnen und Schüler nicht mehr daheim arbeiten müssten.
Schafft die Hausaufgaben ab! Tages Anzeiger, 25.4. von Liliane Minor

«Wie machen das Eltern, die nicht so privilegiert sind?» Diese Frage stellte sich die Primarlehrerin und Erziehungswissenschaftlerin Gabriella Sontheim, als sie ihrer Tochter half, sich für die Gymiprüfung vorzubereiten und die Probezeit zu bestehen. Ja, dachte ich beim Lesen des TA-Artikels «Aufwind für benachteiligte Kinder», das kenne ich bestens. Ich habe mir dieselbe Frage vor der Gymiprüfung und während der Probezeit meiner Kinder oft gestellt.

Gabriella Sontheim hat darauf das Projekt «Fit für die Sek» ins Leben gerufen. Dort bereiten sich Kinder aus benachteiligten Familien auf die Sek vor. Chancengleichheit nennt sich das. Ein löbliches Projekt, wie so viele Förderkurse – aber nicht mehr als ein Pflästerli. Denn machen wir uns nichts vor. Kurse können die Defizite von Jahren zwar teilweise auffangen. Aber: Wenn die Kinder den erhofften Sprung auf ein höheres Schulniveau geschafft haben, wer hilft ihnen dann bei den Aufgaben? Wie sollen Eltern, die schon den Sek-B-Stoff nicht beherrschen, bei Sek-A- oder Gymi-Aufgaben gute Tipps geben?
Und: Ist es wirklich fair, wenn manche Kinder einen Förderkurs erhalten, andere nicht? Wahre Chancengleichheit sieht anders aus, und es gäbe ein einfaches Rezept, sie zu verwirklichen: Schafft die Hausaufgaben ab!
Wenn Elternhilfe über Noten mitentscheidet
Denn seien wir ehrlich. Selbst ein Hochschulabschluss ist keine Garantie dafür, dass man den Kindern in der Schule helfen kann. Nicht nur, weil Wissen vergessen geht. Manche Arbeitsblätter sind ganz einfach unverständlich. Andere Hausaufgaben sind derart anspruchsvoll, dass sie das Zeitbudget der ganzen Familie auf den Kopf stellen. Oft wäre es schneller und nervenschonender, man würde als Eltern die Sache selbst in die Hand nehmen. Noch schlimmer wird es, wenn solche Aufgaben benotet werden, weil das heisst, dass jene am besten abschneiden, bei denen Eltern oder Geschwister am intensivsten mithelfen.
Wir Eltern sind, liebe Lehrer, keine Aufgabenhilfe. So wie ihr zu Recht keine Erziehungshilfe sein wollt. Jeder von uns hat seinen Job. Wir erziehen unsere Kinder (oder versuchen es zumindest). Die Schule vermittelt den Schulstoff (oder versucht es zumindest). Diese Aufgaben hin und her zu delegieren, ist keine gute Idee. Wenn die viel gepriesene Chancengleichheit auch nur ansatzweise ernst genommen wird, so sollten die Eltern beim Schulstoff möglichst wenig mithelfen müssen. Weil das immer ungerecht ist.
Vertiefen ja, aber warum nicht in der Schule?
Klar, Fachleute werden jetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Sie werden sagen, richtig konzipierte Hausaufgaben funktionierten ohne Eltern. Nun, das ist die Theorie. Nicht die Praxis. Oder würden Sie Ihrem Kind antworten: «Das musst du ohne mich können», wenn es Fragen hat?
Die Fachleute werden auch sagen, die individuelle Vertiefungsphase daheim sei wichtig, um den Schulstoff wirklich zu lernen. Das mag richtig sein, wenn es ums Vokabelnbüffeln geht. Aber wenn diese Vertiefungsphase nur Frust bedeutet, weil das Kind eine komplexe Aufgabe gar nicht versteht und niemand da ist, den es fragen kann, dann lernt es nicht nur nichts. Es verliert auch die Freude am Fach.
Deshalb wäre es sinnvoll, die Vertiefungsphase in die Schule zu verlegen. Statt den Kindern jeden Tag eine Stunde Hausaufgaben zu geben, würde besser der Stundenplan um einige Lektionen erweitert. Nicht, um mehr Stoff zu vermitteln, sondern um Aufgaben zu lösen und das Gelernte zu repetieren. Sicher, die Lehrer wären zu mehr Präsenzzeit verpflichtet. Dafür hätten sie weniger Hausaufgaben zu korrigieren, weil sie einen Teil der Fehler schon im Entstehen vermeiden könnten.
«Pimp my homework» durch die Eltern gäbe es nicht mehr. Und auch keinen Nervenkrieg, weil sich Mama und Kind über die Lösung einer Aufgabe in die Haare geraten. Abschreiben käme kaum mehr vor. Vor allem aber würden Lehrer selbst merken, wenn sie kaum verständliche Aufträge erteilt haben. Die Kinder wären nicht davon abhängig, dass die Eltern über genügend Wissen verfügen. Sie hätten ihre Aufgaben nach der Schule erledigt. Das würde mehr zur Chancengleichheit beitragen als jedes teure Förderprojekt.(Tagesanzeiger.ch/Newsnet)


2 Kommentare:

  1. Ich werde den Verdacht nicht los, dass es Frau Minor in erster Linie um zusätzliche Förderlektionen und Betreuungsaufgaben geht. Der Speckgürtel der Volksschule soll also noch anwachsen. Allerdings hat sie Recht, wenn sie auf die Tendenz hinweist, dass durch Hausaufgaben oft die ganze Familie auf Trab gehalten wird. Das darf nicht sein, aber gut gestellte, regelmässige Hausaufgaben haben durchaus ihren Platz und sind auch wichtig fürs Lernen.

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  2. …und dann noch dies zur Ergänzung:

    Chancengleichheit gibt es weder in der Schule noch im Leben!
    Es geht um Chancengerechtigkeit und diese wir nicht nur durch Hausaufgaben erschwert. Es droht heute die geistige Vereinsamung im Grossraumbüro. Diese verhindert Chancengerechtigkeit in ganz grundlegender und vor allem nachhaltiger Weise. Mit Lehrern die kaum noch aktiv unterrichten, weil sie faktisch nicht mehr dürfen wie sie wollen. Pädagogische Moden und Irrtümer haben die Volksschulen leider zunehmend im Griff.

    Wenn Ernst gemacht werden soll mit der Chancengerechtigkeit, gehören ab sofort eigenständige Lehrer vor die Klasse! Konstruktivistische Lehr- und Lernauffassung (Individualisierung) gehört durch die Lehrer ausgehungert. Wenn sie es nicht tun, wer dann?
    Die Bildungsadministration sind und bleiben wohl tiefgläubig, sie müssen ja nicht den Kopf herhalten wenn‘s schief läuft. Die Verantwortlichkeit liegt also zwingend bei den Lehrpersonen. Sie können sich selbstbewusst auf die Methodenfreiheit berufen, die ihnen nach wie vor zugesichert bleibt.
    Jedenfalls wurde die Angst der Lehrer vor dem Verlust an beruflicher Selbständigkeit, wozu auch wesentlich die Methodenfreiheit gehört, von vielen Erziehungsdirektoren mit Empörung ins Reich der Fantasie verwiesen.


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