ADHS sollte man zuerst mit einer Verhaltenstherapie angehen - und
nicht mit Psychostimulanzien.
In der Schweiz gibt es keine anerkannten Leitlinien zur Behandlung von ADHS, Bild: Robin Tremblay
Ritalin als letzte Option, NZZaS, 13.3. von Theres Lüthi
Die
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ist die am häufigsten
diagnostizierte Verhaltensstörung im Kindes- und Jugendalter. Behandelt wird
sie üblicherweise mit Psychostimulanzien wie Ritalin, mit Verhaltenstherapien
oder mit einer Kombination beider. Doch welche Therapie und in welcher
Reihenfolge sie den grössten Nutzen bringt, ist bisher nicht untersucht worden.
Jetzt zeigt eine Studie aus den USA, dass Kinder, die zuerst eine
Verhaltenstherapie erhalten, grössere Fortschritte machen als solche, die
zunächst mit Medikamenten behandelt werden. Diese Therapieabfolge führt auch zu
Kosteneinsparungen, wie die Autoren in einer zweiten Arbeit darlegen («Journal
of Clinical Child & Adolescent Psychology»).
An der Studie nahmen 150
Kinder mit ADHS im Alter zwischen 5 und 12 Jahren teil. Die Hälfte der Kinder
wurde zu Beginn des Schuljahrs auf eine niedrige Dosis Ritalin gesetzt, die
andere erhielt keine Medikation. Stattdessen wurden ihre Eltern darin geschult,
auf das Verhalten der Kinder adäquat zu reagieren. Zu Hause wurden Regeln
aufgestellt, etwa ein aufgeräumtes Zimmer zu haben oder nett zu den Geschwistern
zu sein. Die Eltern sollten zudem die Kinder loben, wenn sie etwas gut gemacht
hatten, aber auch störendes Verhalten ignorieren. Ferner setzten sie auf ein
Belohnungssystem für das tägliche Zeugnis, das die Lehrer ihnen zukommen
liessen. «Für eine gute Woche, wenn etwa an vier von fünf Tagen die schulischen
Ziele erreicht wurden, gab es zusätzliche Fernsehzeit, ein Lieblingsdessert
oder am Wochenende auch einmal einen Kinobesuch», so William E. Pelham Jr. von
der Florida International University.
Nach acht Wochen erhielten
jene Kinder, bei denen keine Besserung eingetreten war, nach dem Zufallsprinzip
einen «Booster»: Entweder wurde die bestehende Behandlung verstärkt, oder sie
wechselten zur anderen Therapie. Am Ende des Schuljahrs zeigte sich, dass die Kinder,
die mit der Verhaltenstherapie begonnen hatten - und von denen zwei Drittel
einen Booster benötigten -, am besten abschnitten: Sie verursachten weniger
Probleme im Schulzimmer und funktionierten insgesamt besser.
Am schlechtesten erging es
jenen Kindern, die zuerst auf Medikamente gesetzt worden waren und dann zur
Verhaltenstherapie wechselten. «Werden Kinder zuerst erfolglos mit Arzneien
behandelt, dann kann auch eine Verhaltenstherapie wenig bewirken», sagt Pelham.
«Ärzte sollten sich dessen bewusst sein: Kinder, die mit Medikamenten behandelt
wurden, einfach zum Psychologen zu schicken, wird nicht zum gewünschten Erfolg
führen.» Das liegt laut Pelham daran, dass Eltern nach einer missglückten
medikamentösen Therapie die Verhaltensempfehlungen weniger konsequent
durchziehen, als wenn sie die Schulung ganz am Anfang durchlaufen.
«Diese Studie wird
möglicherweise zu einem Wandel in der Behandlungspraxis führen», sagt Oskar
Jenni, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich. In
den USA, wo mittlerweile 10 Prozent der Kinder die Diagnose ADHS erhalten,
gehören Stimulanzien zu den Mitteln der ersten Wahl. Verhaltenstherapien haben
dort eine untergeordnete Bedeutung.
Jenni hält ein
schrittweises Vorgehen für sinnvoll. Denn es gebe keinen Test, der zuverlässig
für die Diagnose ADHS eingesetzt werden könne - die Diagnose beruhe vielmehr
auf einer subjektiven Einschätzung des Verhaltens durch Eltern, Lehrer und
Ärzte. «Dies wiederum bedeutet, dass die Therapieschwelle wesentlich von den
Erwartungen des Umfelds und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängt»,
sagt Jenni. Es sei deshalb sinnvoll, in einem ersten Schritt das Umfeld des
Kindes bestmöglich an die individuellen Eigenheiten und Bedürfnisse eines
Kindes heranzuführen. Damit gemeint sind Anpassungen von Erwartungen an das
Kind oder von schulischen Rahmenbedingungen. In einem zweiten Schritt geht man
auf die Ebene des Kindes, etwa mit einer psychotherapeutischen Behandlung, und
erst in einem dritten Schritt kommen die Arzneien zum Zug.
«Stimulanzien können bei
schwerwiegenden Symptomen und grossem Leidensdruck des Kindes hilfreich sein»,
sagt Jenni. Die Datenlage zu ihrer Wirksamkeit ist aber trotz jahrzehntelangem
Einsatz dürftig. Dies zeigte vor kurzem eine Publikation der Cochrane-Gruppe,
welche die Erfahrungen von über 12 000 Kindern und Jugendlichen analysierte und
fand, dass der Nutzen gering ausfällt. Gleichzeitig können die Medikamente die
Lebensqualität beeinträchtigen, indem sie Nebenwirkungen wie Schlafprobleme,
Appetitverlust und leichte Wachstumsverzögerungen verursachen.
In der Schweiz gibt es
keine allgemein anerkannten Leitlinien zur Behandlung von ADHS. Mehr noch, es
existieren weder gesicherte Daten zur Häufigkeit des Krankheitsbildes noch zur
Therapiepraxis. Aufgrund der Zahlen der Krankenkassen geht man davon aus, dass
etwa 5 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz eine Diagnose ADHS
haben und die Hälfte Medikamente erhält. Eine Studie an der Universität
Freiburg soll nun mehr Licht in Diagnose- und Behandlungspraxis werfen.
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