13. März 2016

Wandel in der Behandlungspraxis von ADHS?

ADHS sollte man zuerst mit einer Verhaltenstherapie angehen - und nicht mit Psychostimulanzien. 















In der Schweiz gibt es keine anerkannten Leitlinien zur Behandlung von ADHS, Bild: Robin Tremblay
Ritalin als letzte Option, NZZaS, 13.3. von Theres Lüthi


Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ist die am häufigsten diagnostizierte Verhaltensstörung im Kindes- und Jugendalter. Behandelt wird sie üblicherweise mit Psychostimulanzien wie Ritalin, mit Verhaltenstherapien oder mit einer Kombination beider. Doch welche Therapie und in welcher Reihenfolge sie den grössten Nutzen bringt, ist bisher nicht untersucht worden. Jetzt zeigt eine Studie aus den USA, dass Kinder, die zuerst eine Verhaltenstherapie erhalten, grössere Fortschritte machen als solche, die zunächst mit Medikamenten behandelt werden. Diese Therapieabfolge führt auch zu Kosteneinsparungen, wie die Autoren in einer zweiten Arbeit darlegen («Journal of Clinical Child & Adolescent Psychology»).

An der Studie nahmen 150 Kinder mit ADHS im Alter zwischen 5 und 12 Jahren teil. Die Hälfte der Kinder wurde zu Beginn des Schuljahrs auf eine niedrige Dosis Ritalin gesetzt, die andere erhielt keine Medikation. Stattdessen wurden ihre Eltern darin geschult, auf das Verhalten der Kinder adäquat zu reagieren. Zu Hause wurden Regeln aufgestellt, etwa ein aufgeräumtes Zimmer zu haben oder nett zu den Geschwistern zu sein. Die Eltern sollten zudem die Kinder loben, wenn sie etwas gut gemacht hatten, aber auch störendes Verhalten ignorieren. Ferner setzten sie auf ein Belohnungssystem für das tägliche Zeugnis, das die Lehrer ihnen zukommen liessen. «Für eine gute Woche, wenn etwa an vier von fünf Tagen die schulischen Ziele erreicht wurden, gab es zusätzliche Fernsehzeit, ein Lieblingsdessert oder am Wochenende auch einmal einen Kinobesuch», so William E. Pelham Jr. von der Florida International University.

Nach acht Wochen erhielten jene Kinder, bei denen keine Besserung eingetreten war, nach dem Zufallsprinzip einen «Booster»: Entweder wurde die bestehende Behandlung verstärkt, oder sie wechselten zur anderen Therapie. Am Ende des Schuljahrs zeigte sich, dass die Kinder, die mit der Verhaltenstherapie begonnen hatten - und von denen zwei Drittel einen Booster benötigten -, am besten abschnitten: Sie verursachten weniger Probleme im Schulzimmer und funktionierten insgesamt besser.

Am schlechtesten erging es jenen Kindern, die zuerst auf Medikamente gesetzt worden waren und dann zur Verhaltenstherapie wechselten. «Werden Kinder zuerst erfolglos mit Arzneien behandelt, dann kann auch eine Verhaltenstherapie wenig bewirken», sagt Pelham. «Ärzte sollten sich dessen bewusst sein: Kinder, die mit Medikamenten behandelt wurden, einfach zum Psychologen zu schicken, wird nicht zum gewünschten Erfolg führen.» Das liegt laut Pelham daran, dass Eltern nach einer missglückten medikamentösen Therapie die Verhaltensempfehlungen weniger konsequent durchziehen, als wenn sie die Schulung ganz am Anfang durchlaufen.

«Diese Studie wird möglicherweise zu einem Wandel in der Behandlungspraxis führen», sagt Oskar Jenni, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich. In den USA, wo mittlerweile 10 Prozent der Kinder die Diagnose ADHS erhalten, gehören Stimulanzien zu den Mitteln der ersten Wahl. Verhaltenstherapien haben dort eine untergeordnete Bedeutung.

Jenni hält ein schrittweises Vorgehen für sinnvoll. Denn es gebe keinen Test, der zuverlässig für die Diagnose ADHS eingesetzt werden könne - die Diagnose beruhe vielmehr auf einer subjektiven Einschätzung des Verhaltens durch Eltern, Lehrer und Ärzte. «Dies wiederum bedeutet, dass die Therapieschwelle wesentlich von den Erwartungen des Umfelds und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängt», sagt Jenni. Es sei deshalb sinnvoll, in einem ersten Schritt das Umfeld des Kindes bestmöglich an die individuellen Eigenheiten und Bedürfnisse eines Kindes heranzuführen. Damit gemeint sind Anpassungen von Erwartungen an das Kind oder von schulischen Rahmenbedingungen. In einem zweiten Schritt geht man auf die Ebene des Kindes, etwa mit einer psychotherapeutischen Behandlung, und erst in einem dritten Schritt kommen die Arzneien zum Zug.

«Stimulanzien können bei schwerwiegenden Symptomen und grossem Leidensdruck des Kindes hilfreich sein», sagt Jenni. Die Datenlage zu ihrer Wirksamkeit ist aber trotz jahrzehntelangem Einsatz dürftig. Dies zeigte vor kurzem eine Publikation der Cochrane-Gruppe, welche die Erfahrungen von über 12 000 Kindern und Jugendlichen analysierte und fand, dass der Nutzen gering ausfällt. Gleichzeitig können die Medikamente die Lebensqualität beeinträchtigen, indem sie Nebenwirkungen wie Schlafprobleme, Appetitverlust und leichte Wachstumsverzögerungen verursachen.

In der Schweiz gibt es keine allgemein anerkannten Leitlinien zur Behandlung von ADHS. Mehr noch, es existieren weder gesicherte Daten zur Häufigkeit des Krankheitsbildes noch zur Therapiepraxis. Aufgrund der Zahlen der Krankenkassen geht man davon aus, dass etwa 5 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz eine Diagnose ADHS haben und die Hälfte Medikamente erhält. Eine Studie an der Universität Freiburg soll nun mehr Licht in Diagnose- und Behandlungspraxis werfen.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen