Der Wahn, dass jedes Kind einem Idealbild entsprechen müsse, führe zu einer starken Zunahme der schulischen Massnahmen, sagt Integrationsexperte Gérard Bless. Besser wäre es, die Lerninhalte zu entschlacken und sich auf das Wesentliche zu besinnen.
"Immer mehr Kinder werden pathologisiert", NZZaS, 20.3. von René Donzé
NZZ am Sonntag: Die Klagen über die
Integration häufen sich. Was läuft falsch?
Gérard Bless: Es stimmt, dass die Integration von vielen
nicht gerade mit Freuden aufgenommen wird. Das hat viele Gründe. Zum einen will
man die bisherige bequeme Praxis der Aussonderung nicht einfach so aufgeben.
Wenn die Schule das schwierige Kind an eine externe Fachinstanz abgibt, kann
sie sich vor grösseren Herausforderungen bewahren. Zum anderen liegt es auch an
den Ängsten der Lehrpersonen, ihren Aufgaben nicht gewachsen zu sein.
Sind diese Ängste denn
übertrieben?
Übertrieben? Wenn jemand
Angst hat, ist es nie übertrieben. Wenn aber Lehrpersonen ihre Probleme immer
an eine andere Instanz delegieren, so verlieren sie mit der Zeit auch die
Kompetenzen, mit diesen pädagogischen Herausforderungen umzugehen. Ich bin jedoch
überzeugt, dass die Lehrpersonen über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen.
Aber ich habe das Gefühl, die Kritik der Lehrer habe manchmal auch strategische
Gründe. Ich will jetzt niemandem auf die Füsse treten, aber relativ häufig geht
es darum, mehr Mittel für die Schule zu erhalten.
Mit Recht, schliesslich
nimmt die Zahl der schwierigen Kinder in den Schulen zu.
Ich finde, die Schweizer
Schulen sind bereits gut dotiert. Die Regelschulen werden von zusätzlichem
Fachpersonal unterstützt. Mehr als die bisherigen für die Integration zur
Verfügung gestellten Mittel bringen nicht viel und können unter Umständen sogar
kontraproduktiv sein. Wenn man zu viel investiert, kommt es unter dem Decknamen
der Integration wieder vermehrt zur Separation. Die Kinder werden dann sehr
häufig aus der Klasse genommen und separat betreut.
Was ist denn eigentlich so
gut, wenn die Kinder in der Regelklasse geschult werden?
Ich betrachte das als
wichtige Massnahme mit dem Ziel, dass alle am gesellschaftlichen Leben
teilhaben können. Die Kinder profitieren nicht nur von der Unterstützung durch
das pädagogische Personal, sondern zusätzlich von der Stimulation durch ihre
Mitschüler. Und am Schluss der obligatorischen Schulzeit haben die integrierten
Schüler besseren Zugang zur Berufsausbildung.
Lernen integrierte Schüler
mehr als ihre separierten Altersgenossen?
Die Lernfortschritte
fallen unterschiedlich aus. Am deutlichsten sind sie bei Kindern mit
Lernbehinderungen festzustellen. Trotzdem können die Schwierigkeiten nicht
einfach beseitigt werden. Bei geistig Behinderten gibt es gewisse Vorteile in
der Sprache, nicht aber in der Mathematik. Es ist nicht dieses Plus an
Lernfortschritten, das für die Zukunft dieser Schülerinnen und Schüler von
Bedeutung ist. Vielmehr geht es darum, dass sie nicht aus ihrer Lebensumwelt
entwurzelt werden. Im Gegensatz zu vielen Nichtbehinderten liegt die
Perspektive von Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Regel in
ihrer Wohngegend. Darum ist es für sie von besonders grosser Bedeutung, dass
sie dort geschult werden, wo sie wohnen und später auch leben und arbeiten
werden.
Sie haben aber in Ihren
Studien auch festgestellt, dass das Selbstwertgefühl des integrierten Kindes
leidet, weil es den ständigen Vergleich zu den anderen hat.
Ja, die Schüler
vergleichen sich natürlich miteinander. Wenn ich mit Roger Federer Tennis
spielen würde, dann würde mein Selbstwertgefühl als Tennisspieler auch leiden.
Umgekehrt kann man aber sagen, dass die Selbsteinschätzung in den Kleinklassen
künstlich hoch gehalten wird. Sobald die Schüler dann den Schonraum der
Sonderschulung verlassen, spätestens beim Schulaustritt, werden sie von der
Realität eingeholt.
Also sollen sie lieber von
Anfang an frustriert werden?
Wenn Kinder integriert
sind, entwickeln sie ein realistisches Begabungskonzept. Es wird ihnen nichts
vorgespielt, sondern sie erleben die Realität, die sie nach der Schule
erwartet.
Sie argumentieren sehr
stark aus der Sicht der betroffenen Kinder. Was Sie vergessen, ist, dass der
Rest der Klasse zu kurz kommt.
Sowohl unsere eigenen als
auch die internationalen Untersuchungen besagen, dass das so nicht stimmt.
Regelschüler in Klassen mit oder ohne Integration machen die gleichen
Fortschritte. Die Integration bremst die Schüler nicht.
Das glaube ich nicht. Je
mehr Unruhe es gibt, desto weniger Zeit bleibt für den Unterricht. Und Zeit zum
Lernen ist bekanntlich die wichtigste Grösse für den Schulerfolg.
Natürlich stören
verhaltensauffällige Kinder den Unterricht. Das ist schlecht. Wenn Sie aber
Lehrer fragen, dann ist fast die Hälfte der Klasse irgendwie auffällig. Damit
habe ich ein Problem. Vieles ist eine Frage der Einstellung und der Toleranz.
Sicher ist die Situation nicht einfacher geworden. Doch sie ist lange nicht so
katastrophal, wie sie oft dargestellt wird.
Es gibt doch immer mehr
Diagnosen von Verhaltensauffälligkeiten und leichter geistiger Behinderung.
Wird die Menschheit immer dümmer und schwieriger?
Dümmer glaube ich nicht.
Ich denke, das hat viel mit der Beschleunigung des Lebens zu tun, die auch auf
die Kinder durchschlägt. Der Druck steigt, die Anforderungen steigen, die
Eltern sind mehr beruflich involviert, die Freizeitaktivitäten nehmen zu. Dazu
kommt noch die Frage, ob wir nicht einfach stärker sensibilisiert sind als
früher. Und nicht zuletzt spielen auch noch Interessen der Pharmaindustrie
hinein, welche für alles eine Pille verkaufen will.
Das führt dazu, dass heute
in gewissen Zürcher Klassen beinahe jedes Kind noch eine besondere pädagogische
Massnahme erhält. Finden Sie das gut?
Nein. Je mehr
Unterstützungsmöglichkeit eine Lehrperson hat, desto mehr kann sie an eine
Fachperson delegieren. Das ist ein Problem. So kommt es eben wieder zum
Abschieben. Immer mehr Kinder werden pathologisiert.
Warum?
Der Wahn, dass jedes Kind
einem bestimmten Idealbild entsprechen müsse, führt zu immer mehr Massnahmen.
Es ist eine grosse Gefahr, dass man heute den Kindern solche Etiketten
verteilt, um mehr Ressourcen zu holen, das heisst Unterstützung durch Fachleute.
Wird dies übertrieben, so ist dies eine gefährliche Entwicklung.
Was soll man denn machen,
um den Problemen Herr zu werden?
Man muss endlich einmal
akzeptieren, dass die Kinder unterschiedlich sind und diese Unterschiede
pädagogisch letztlich nicht zu beheben sind. Damit hat unsere Gesellschaft
einfach Mühe. Man sieht heute auch keine Jugendlichen mehr mit krummen Zähnen.
Was nicht ins Idealbild passt, muss therapiert werden und dafür braucht es ein
pathologisches Etikett.
Davon profitieren Sie doch
mit Ihrem Institut.
Und dennoch plädiere ich
für ein gesundes Mass. Es gibt auch Schwierigkeiten, die man tolerieren sollte.
Es muss nicht alles gleichgeschaltet sein. Da muss ein Umdenken stattfinden.
Junge und aufgeschlossene
Lehrer schmeissen als erste den Bettel hin.
Die Älteren profitieren
von ihrer Erfahrung und können darum oft besser mit zusätzlichen Belastungen
umgehen. Und die, die noch im Schuldienst sind, haben schon viele Reformen
durchlebt. Junglehrer sind zwar offen, aber weniger erfahren. Sie haben
manchmal Mühe damit, Distanz zu halten, zu regenerieren. Das muss gelernt
werden. Aber dafür haben Lehrer in ihren vielen und notwendigen Ferien genügend
Zeit.
Müsste eine Lehrperson
heute zwingend auch heilpädagogisch ausgebildet sein?
Nein. Es braucht in ihrer
Grundausbildung bestimmte Wissenselemente um Heterogenität, um didaktische
Möglichkeiten, um Behinderungsaspekte, ein Bewusstsein. Aber sie müssen nicht
Blindenschrift lernen oder Trisomie 21 in allen Aspekten begreifen. Dafür gibt
es Spezialisten. Es ist mehr eine Haltungsfrage. Aber es ist sicher nicht
notwendig, dass sie Sonderpädagogen sind.
Wie sehen Sie die Zukunft?
Mit dem neuen Lehrplan 21
wird die Situation nicht einfacher. Die Erschaffer dieses Plans wollen zu viel
von den Kindern und werden damit noch mehr Schulversager produzieren. Ich
vermute, dass man da zu weit gegangen ist. Lehrpläne sollten mehr Freiräume bieten,
damit die Lehrpersonen besser auf die Bedürfnisse der Kinder ihrer Klasse
eingehen können. Auch zwei Fremdsprachen für alle Schulkinder ist eine brutale
Überforderung der schwachen Schüler. Es wäre eine Entschlackung der Lerninhalte
notwendig, doch das Gegenteil geschieht. Fordern ist gut und wichtig,
überfordern hingegen kontraproduktiv.
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