Integrative Förderung muss schon im Kindergarten beginnen, Bild: Shotshop / DDP Images
Ein paar Stündchen reichen nicht, NZZaS, 20.3. von Regula Freuler
Als ich noch Lehrerin auf Primarstufe war, dachte ich oft: «Was
schicken die uns von den Kindergärten denn in die Schule!» Ich wollte
herausfinden, wo die Probleme liegen, und arbeite nun als Fachkraft für
Integrative Förderung. Ich betreue verhaltensauffällige Kindergartenschüler,
also solche mit sprachlichen und kognitiven Einschränkungen oder emotionalen
Unsicherheiten.
Da
ist zum Beispiel die vierjährige Karla. Ein ganz normaler Kindergarten-Eintritt
- dachten die Lehrerin und ich. Aber statt mit den anderen zu spielen, schlief
Karla jeden Morgen ein. Anfangs dachten wir, sie sei krank, und baten die
Mutter, sie abzuholen. Aber es ging immer weiter so. Karla zeigte auch keine
Neugier, am wenigsten an anderen Kindern. Wir fragten nach dem Ergebnis der
Vier-Jahres-Kontrolle beim Kinderarzt. Diese sei positiv ausgefallen, sagte die
Mutter. Karla habe lediglich ein kleines sprachliches Defizit. Auf Nachfragen
hin stellte sich heraus, dass sie in der Logopädie war.
Mit
der Zeit merkten wir, dass bei dem Mädchen weit mehr als die Sprache das
Problem ist. Die Schlafenszeiten scheinen normal zu sein, jedoch ist Karlas
Fernsehkonsum deutlich zu hoch. Die Eltern, zwei Schweizer, verdienen nicht
viel und müssen beide arbeiten. Drei Tage pro Woche ist Karla im Hort, an den
anderen schaut die Mutter zu ihr. Weil diese ein eigenes Geschäft führt,
erledigt sie auch an diesen Tagen Arbeit. Ich will das aber nicht auf die
Mutter abwälzen. Es gäbe ja noch den Vater. Er kam zum Besuchstag, aber sonst
sehen wir ihn nie, alle Gespräche laufen mit der Mutter.
Karla
ist ein liebes Mädchen, sie ist gepflegt. Man könnte leicht wegschauen. Wir
haben hier weitaus schwierigere Fälle, etwa Kinder, die zu Hause Gewalt
ausgesetzt sind. Aber wenn Karla sich jetzt nicht in die Klasse integrieren
kann, dann wird sie es auch kaum in der Schule schaffen. Als wir beim
schulischen Standortgespräch das Thema drittes Kindergartenjahr ansprachen,
reagierte die Mutter sehr ablehnend. Doch es gab ihr offenbar zu denken. Sie
ging mit ihrer Tochter zum Arzt, und jetzt macht Karla zusätzlich privat eine
Therapie.
Offensichtlicher
waren die Probleme bei Juri. Am Anfang sass der Bub nur unter dem Stuhl und
wollte nie mitmachen. Als die Kindergartenlehrerin ihn schliesslich dazu
brachte, sich auf den Stuhl zu setzen, gab er ständig laute Geräusche von sich.
Er plagte die anderen Kinder, packte sie und stellte ihnen das Bein. Da ist es
eine grosse Herausforderung, ruhig zu bleiben. Manchmal kann man die Situation
mit Humor auffangen. Aber man hält es fast nicht aus, wenn ein Kind sich so
hinterhältig aufführt und penetrant Aufmerksamkeit heischt. Auch weil deshalb
weniger Zeit für die unauffälligen Kinder bleibt. Dabei möchten diese doch auch
gesehen werden! Juris Eltern hatten schwere Konflikte. Zu Beginn hatten die
Kindergartenlehrerin und ich nur Kontakt zur Mutter. Als wir mit ihr die
Probleme besprachen, war ihr das sehr unangenehm. Sie verstand es nicht, zu
Hause sei er doch ganz lieb. Die Eltern glaubten, eine intellektuelle
Disziplinierung sei die Lösung, und fütterten Juri mit Lernstoff ab. Statt ihn
mehr mit anderen Kindern spielen zu lassen, sollte Juri lesen und schreiben
lernen - dabei konnte er sich nicht einmal selbst anziehen. Im letzten halben
Jahr hat sich die Situation gebessert. Die Eltern kommunizieren wieder, und wir
haben nun auch Kontakt zum Vater. Neulich sagte Juri: «Jetzt ist es schön bei
Papa, jetzt darf ich spielen.»
Vor
allem dank dem liebevollen konsequenten Verhalten der Lehrerin konnte
verhindert werden, dass Juri in einen anderen Kindergarten versetzt werden
musste. Sie forderte vom Buben immer wieder, sich auf den Stuhl zu setzen.
Weigerte er sich, musste er eine Weile aus dem Kreis. Hält man sich nicht an
klare Strukturen und macht dem Kind nicht bewusst, dass sein Verhalten nicht
geduldet wird, scheitert man. Man muss dranbleiben, darf den Kontakt zum Kind
nie aussetzen. Dazu gehört viel Fingerspitzengefühl.
Wo
auch immer die Schwierigkeit liegt: Die Beziehung zwischen uns Lehrpersonen und
dem Kind beziehungsweise zu den Eltern ist der Schlüssel zum Erfolg. Leider
höre ich immer wieder von Eltern, wie froh sie sind, dass sie uns ihre Kinder
bringen können, wenn sie mit ihnen nicht zugange kommen. Sie wollen die
Erziehung einfach an die Kindergärten und Schulen delegieren. Genauso schwierig
wird es aber auch, wenn Eltern ihren Kindern nichts zutrauen und sie am
liebsten zu Hause behalten würden.
Vom
Nutzen des integrativen Unterrichts bin ich grundsätzlich überzeugt, und viele
Studien zeigen, dass man unbedingt auf Basisstufe damit beginnen muss. Aber das
aktuelle Modell finde ich fragwürdig. Ich bin nur einmal pro Woche für drei
Stunden in einer Kindergartenklasse - das ist nichts. Man müsste mindestens
dreimal oder noch öfter pro Woche mit solchen Kindern arbeiten. Dann würde jene
Integration möglich sein, wie die Bildungsbeauftragten sie sich vorstellen.
Aber ohne mehr Ressourcen wirkt integrative Förderung nicht nachhaltig. Dann
passiert, was ich früher als Primarlehrerin erlebt habe: Entweder werden die
Kinder unreif eingeschult, oder sie müssen ein drittes Kindergartenjahr
anhängen, was auch immer häufiger geschieht.
Jetzt
sagen natürlich alle Kritiker des zweijährigen Kindergartenobligatoriums, dass
die Kinder zu früh zu uns geschickt werden. Aber daran liegt es nicht. Mit vier
Jahren sind die meisten bereit für den Kindergarten. Ich habe mit meinem Mann
und unseren Kindern im Ausland gelebt. Dort beginnen die Dreijährigen mit der
Vorschule, und das klappt gut.
Die Namen wurden geändert. Die Lehrerin bleibt
zum Schutz der Kinder anonym.
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