20. März 2016

"Kleinklassen haben die Erwartungen nicht erfüllt"

Interview mit dem Kinder- und Jugendpsychologen Jürg Forster, der seit 22 Jahren den Schulpsychologischen Dienst der Stadt Zürich leitet.

















"Man schaut heute genauer hin und will möglichst alle Kinder fördern", NZZaS, 20.3. Interview von René Donzé


Lehrer beklagen sich, es gebe immer mehr auffällige Kinder. Zu Recht?
Es trifft zu, dass der Druck auf die Schule zugenommen hat. Es gibt auch mehr Kinder mit einer Diagnose wie ADHS oder Autismus. Mir sind aber keine Studien bekannt, die belegen, dass die psychische Gesundheit der Kinder in unseren Schulen sich verschlechtert hat. Man schaut heute genauer hin und will möglichst alle Kinder fördern - auch jene, die Schwierigkeiten haben oder Probleme bereiten. Eltern erwarten das zu Recht von der Schule.

Was ist denn eine Verhaltensstörung?
Das ist ein umgangssprachlicher Oberbegriff für Auffälligkeiten von Kindern, die von ihrem familiären oder schulischen Umfeld als schwierig eingestuft werden. Eine Diagnose im fachlichen Sinn ist es nicht.

Früher wurden solche Schüler sowie solche mit Lernschwierigkeiten in Kleinklassen geschickt. War deren Aufhebung ein Fehler?
Aus meiner Sicht haben Kleinklassen die Erwartungen nicht erfüllt. Trotz der kleineren Klassengrösse und der sonderpädagogischen Qualifikation der Lehrpersonen wehrten sich Eltern oft gegen Zuteilungen ihrer Kinder in diese Klassen.

Was war der Grund für diese Skepsis?
Viele Kleinklassen waren schwer zu führen, und es gab oft Lehrerwechsel. Wenn lauter Kinder mit besonderen Bedürfnissen in einer Klasse sind, ist das Lernniveau tiefer, was sich auf die Berufsaussichten der Jugendlichen auswirkt. Fremdsprachige Kinder waren zudem stark übervertreten in diesen Klassen.

Gelingt die Integration dieser Schüler?
Bei einem grossen Teil gelingt sie. Es gibt für Kinder und Jugendliche in Regelklassen unterstützende Massnahmen wie integrative Förderung, Deutsch als Zweitsprache, bei Bedarf auch Therapien wie etwa Logopädie.

Ein Wildwuchs, wird oft moniert.
Sicher hat das Grenzen. Der Bedarf nach Fördermassnahmen muss regelmässig überprüft werden. Wenn sie wenig bringen, setzt man sie ab. Einige Kinder lassen sich trotz aller Unterstützung nicht in der Regelklasse beschulen.

Was passiert in solchen Fällen?
Dann klären wir ab, ob eine Sonderschulung nötig ist.

Allein in der Stadt Zürich gibt es auf 28 000 Schüler etwa 1400 Sonderschüler. Das widerspricht doch dem Integrationsgedanken.

Knapp ein Drittel der Sonderschulungen findet integriert in Regelklassen statt. Es gibt aber Kinder, die kaum zu integrieren sind, weil sie wegen einer schweren Behinderung eine intensive Betreuung brauchen. Auch bei den verhaltensauffälligen Kindern kann Sonderschulung nötig werden, wenn sie in der Klasse nicht mehr tragbar sind. In der Stadt Zürich machen diese etwa einen Viertel aller Sonderschüler aus.

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