Das System Schule wird je länger, je stärker belastet, weil es
möglichst alle Kinder integrieren muss. Mittlerweile sagen selbst Verfechter
der Integration, dass es so nicht weitergehen kann. Das Credo der
Gleichmacherei beginnt zu bröckeln.
Grafik: NZZaS
Schiffbruch einer schönen Idee, NZZaS, 20.3. von René Donzé
Der Bub sitzt allein in einem Schulzimmer im Zürcher Schulhaus
Rütihof und löst Aufgaben. Seine Klassenkameraden spielen draussen. Sie haben
Pause. Der Unterstufenschüler aber darf erst hinaus, wenn die anderen wieder
drinnen sind. Entsprechend schlecht ist seine Laune: Kaum «Grüezi» mag er
sagen, wenn der Besuch ins Zimmer mit der schönen Bezeichnung «Schulinsel»
tritt. «Hier hat das Kind Zeit, über sein Verhalten nachzudenken», sagt die Lehrerin,
die die Insel betreut. Der Schüler rastete in der Klasse immer wieder aus und
strapazierte die Nerven seiner Lehrerin nicht zum ersten Mal bis über die
Grenzen. Manchmal sitzt nur ein Kind hier, manchmal sind es mehrere. Manchmal
besuchen auch Kinder, die besonders Freude am Lernen zeigen, hier Zusatzkurse.
Das
Angebot ist symptomatisch für die Entwicklung des Schweizer Schulsystems. Es
gibt inzwischen viele Schulen, die mit ähnlichen Einrichtungen arbeiten. Sie
sind eine Folge davon, dass die Klassen immer heterogener werden, dass die
Bandbreite vom schwächsten zum stärksten Schüler grösser wird und die
Verhaltensauffälligkeiten zunehmen.
Versteckte Aussonderung
Die
einen Schulen richten Schulinseln ein, die anderen arbeiten mit sogenannten
Förderzentren. Damit solche Einrichtungen nicht als Strafkolonie für
Querschläger daherkommen, bieten sie auch Aufgabenhilfen sowie Stütz- und
Fördermassnahmen an. Andere Schulen begegnen der Heterogenität, indem sie
Stellenprozente zusammenkratzen, um möglichst oft zwei Lehrer im Klassenzimmer
zu haben, von denen sich der eine um Problemfälle kümmern kann. Auch
Klassenassistenten kommen vermehrt zum Einsatz, um Zappelphilippe und
Störefriede im Schach zu halten oder zurückgezogene Mauerblümchen aus der
Reserve zu locken und zum Blühen zu bringen.
Anstatt
die Schüler offen zu separieren, wie dies früher der Fall war, als man sie in
Sonderschulen oder Kleinklassen placierte, geschieht die Separation heute oft
versteckt und mit wohlklingenden Umschreibungen. Binnendifferenzierung nennt
man das. Das Credo der Gleichmacherei beginnt auf jeden Fall zu bröckeln.
«Integration kann nicht heissen, dass alle Kinder rund um die Uhr in der Klasse
zusammensitzen», sagt Bildungsexperte Urs Moser vom Institut für
Bildungsevaluation an der Universität Zürich. «Es braucht Differenzierungen.»
Chancengleichheit dürfe nicht dazu führen, dass geordnetes Lernen nicht mehr
möglich sei, sagt er. Obschon der Grundgedanke ein guter sei, könne die
Integration dazu führen, dass Mitschüler darunter litten. «Die Störung des
Unterrichts behindert den Lernerfolg», sagt Moser.
Das
sind neue, kritische Töne. Es macht den Anschein, als sei die Integration, wie
sie 1994 mit der Unesco-Erklärung von Salamanca stipuliert wurde, gescheitert.
Damals vereinbarten die Unterzeichnerstaaten, dass die Schulsysteme «alle
Kinder unabhängig von ihren individuellen Schwierigkeiten» integrieren sollen.
Ein hehres Ziel, dass die Schweiz 2004 mit dem Behindertengleichstellungsgesetz
bekräftigte. Den organisatorischen Rahmen dafür formulierte die
Erziehungsdirektorenkonferenz 2007 mit dem Sonderpädagogik-Konkordat, dem
mittlerweile 16 Kantone beigetreten sind. Den monetären Anreiz setzte 2008 der
neue Finanzausgleich mit dem die Finanzierung der Schulung behinderter Kinder an
die Kantone übertragen wurde. Die Integration eines Schülers ist um einiges
günstiger als die separierte Schulung.
Die
gutgemeinte Integration der Behinderten hat vorerst auch positive Effekte
gezeitigt. Befanden sich vor gut zehn Jahren noch über sechs Prozent der
Schüler in Sonderschulen, sind es heute noch knapp vier Prozent. Für viele
Sinnesbehinderte, etwa Seh- oder Hörbehinderte oder geistig Behinderte, ist es
ein Segen, in ihrer Wohnumgebung in die Schule zu gehen, statt in eine
Sonderschule gefahren zu werden.
Gesellschaft driftet
auseinander
Inzwischen
aber geht es längst nicht mehr nur darum, solche Behinderte zu integrieren.
Statt «Integration» heisst das heilpädagogische Zauberwort «Inklusion». Das
bedeutet, dass jedes Kind um fast jeden Preis in der Regelschule gehalten
werden soll - und das in einer Gesellschaft, deren Wertvorstellungen immer
weiter auseinanderdriften. Erziehungsdefizite, Verwahrlosung und Migration
führen dazu, dass die Zahl der schwierigen und schwachen Schüler zunimmt.
Das
treibt an gewissen Orten Lehrer und Klassen an den Rand ihrer Belastbarkeit. In
einer Umfrage des Verbands der Zürcher Kantonalen Mittelstufe (ZKM) gab es
Rückmeldungen wie: «Stark verhaltensauffällige Kinder absorbieren dermassen
viel Energie der Lehrperson, dass die restlichen Schüler darunter leiden.»
Verhaltensprobleme sind das eine. Zu kämpfen haben die Lehrer auch mit
Sprachproblemen, Lernschwierigkeiten, Hochbegabungen und mehr. Sowie dem
Anspruch der Eltern, dass sämtliche Defizite ihrer Kinder therapiert werden.
Was früher ein Stigma war, die besondere Schulung, gehört heute zum guten Ton.
Aufgefangen
wird dies mit einem mittlerweile beachtlichen Arsenal von Spezialmassnahmen wie
integrierte Förderung, Psychomotorik, Logopädie, Begabtenförderung, Deutsch als
Zweitsprache und so weiter. Je nach Ort und sozialer Zusammensetzung der
Schülerschaft kann sich dies zu einem komplexen Puzzle aus Regelunterricht und
Fördermassnahmen auswachsen - besonders in städtischem Kontext. «In etlichen
Klassen ist an einen normalen Unterricht nicht mehr zu denken. Ein Grossteil
der Kinder wird behindert», sagt ZKM-Präsident Harry Huwyler. Wie umfangreich
das System inzwischen geworden ist, zeigt eine Auswertung in einem Zürcher
Schulhaus. Im Durchschnitt gibt es dort auf jeden Schüler eine besondere
Massnahme. Unter all diesen Sonderbehandlungen leiden der Schulbetrieb, die
Lehrer, die unproblematischen Schüler und sogar die integrierten Kinder:
«Verhaltensauffällige werden so zu Aussenseitern gemacht und verlieren an
Selbstwertgefühl», sagt Huwyler.
Forschung betont Erfolge
Die
Klagen sind nicht neu. Erstaunlich ist, dass sie auf den ersten Blick in
krassem Widerspruch zu dem stehen, was die Wissenschaft bis jetzt zum Thema
herausgefunden hat. Fragt man Forscher, geben sie der Integration praktisch
durchwegs gute Noten. So betont etwa der Freiburger Integrationsexperte Gérard
Bless den positiven Lerneffekt für die Behinderten. Er erklärt dies mit der für
die Kinder stimulierenden Lernumgebung, insbesondere im sprachlichen und
kommunikativen Bereich. Umgekehrt stellt er fest, dass ihre Mitschüler im
Lernerfolg nicht gebremst werden und oft eine bessere Sozialkompetenz aufweisen
als separiert geschulte Kinder.
Offensichtlich
sprechen hier Forschung und Praxis nicht dieselbe Sprache. Die Wissenschaft
meint die Integration jener Schüler mit Behinderungen, an die wohl auch die
Väter des Gleichstellungsgesetzes dachten. Damit kann die Schule meist gut
umgehen, dafür gibt es auch genügend Unterstützung. «Kinder mit geistigen oder
körperlichen Behinderungen sind in der Regel integrierbar», sagt Huwyler.
Abgesehen davon, sind solche Fälle nicht sehr breit gestreut. Im Kanton Zürich
etwa sitzt bloss in einer von acht Klassen ein Kind mit einer geistigen oder
einer Sinnesbehinderung.
Das
Problem ist, dass unter dem Titel der Integration auch Kleinklassen für
verhaltensauffällige und schwache Schüler abgeschafft wurden. Stattdessen baute
sich eine neue Förderindustrie auf. Beispielhaft zeigt sich das im Kanton
Zürich, wo die Zahl der integrierten Sonderschüler stark zunimmt, die
separierten aber kaum zurückgehen. Dadurch hat sich die Sonderschulquote in
wenigen Jahren mehr als verdoppelt (Grafik). Der Status «integrierter
Sonderschüler» wird heute oft darum verliehen, weil es so zusätzliche
Unterstützungsmassnahmen gibt für die stark belasteten Klassen. Der Stempel
«Sonderschüler» wird so zum Ventil für die überforderte Schule.
Inzwischen
wird auch von höchster Stelle anerkannt, dass die Integration an ihre Grenzen
stösst. Der Basler Regierungsrat Christoph Eymann, Präsident der
Erziehungsdirektorenkonferenz, ist zwar ein vehementer Verfechter der
integrativen Schulung. «Es ist wichtig, dass wir möglichst alle Kinder
gemeinsam in der Regelschule unterrichten können», sagt er. Auch in seinem
Kanton wurden in den letzten Jahren die Kleinklassen aufgehoben und die Schüler
integriert.
Doch
gerade in Basel mit seiner sehr heterogenen Bevölkerung gebe es damit Probleme:
«Das System droht zu kippen», sagt Eymann. «Ich gehe davon aus, dass wir bis in
zehn Jahren wieder viel mehr Separation haben werden als heute.» Und selbst
Integrationsexperte Bless sagt: «Ich rechne damit, dass die Separation noch
eine Weile rückläufig sein wird, doch bald wird sich der Trend wieder umkehren.»
Die Euphorie ist der Ernüchterung gewichen. Die im Ansatz gute Idee der
möglichst umfassenden Integration scheitert in der Praxis. Diese Einsicht kann
Raum schaffen für pragmatische Lösungen - wie sie etwa die Schule Rütihof mit
ihrer «Insel» gefunden hat.
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