20. März 2016

Integration stösst an ihre Grenzen

Das System Schule wird je länger, je stärker belastet, weil es möglichst alle Kinder integrieren muss. Mittlerweile sagen selbst Verfechter der Integration, dass es so nicht weitergehen kann. Das Credo der Gleichmacherei beginnt zu bröckeln.















Grafik: NZZaS
Schiffbruch einer schönen Idee, NZZaS, 20.3. von René Donzé

Der Bub sitzt allein in einem Schulzimmer im Zürcher Schulhaus Rütihof und löst Aufgaben. Seine Klassenkameraden spielen draussen. Sie haben Pause. Der Unterstufenschüler aber darf erst hinaus, wenn die anderen wieder drinnen sind. Entsprechend schlecht ist seine Laune: Kaum «Grüezi» mag er sagen, wenn der Besuch ins Zimmer mit der schönen Bezeichnung «Schulinsel» tritt. «Hier hat das Kind Zeit, über sein Verhalten nachzudenken», sagt die Lehrerin, die die Insel betreut. Der Schüler rastete in der Klasse immer wieder aus und strapazierte die Nerven seiner Lehrerin nicht zum ersten Mal bis über die Grenzen. Manchmal sitzt nur ein Kind hier, manchmal sind es mehrere. Manchmal besuchen auch Kinder, die besonders Freude am Lernen zeigen, hier Zusatzkurse.

Das Angebot ist symptomatisch für die Entwicklung des Schweizer Schulsystems. Es gibt inzwischen viele Schulen, die mit ähnlichen Einrichtungen arbeiten. Sie sind eine Folge davon, dass die Klassen immer heterogener werden, dass die Bandbreite vom schwächsten zum stärksten Schüler grösser wird und die Verhaltensauffälligkeiten zunehmen.

Versteckte Aussonderung
Die einen Schulen richten Schulinseln ein, die anderen arbeiten mit sogenannten Förderzentren. Damit solche Einrichtungen nicht als Strafkolonie für Querschläger daherkommen, bieten sie auch Aufgabenhilfen sowie Stütz- und Fördermassnahmen an. Andere Schulen begegnen der Heterogenität, indem sie Stellenprozente zusammenkratzen, um möglichst oft zwei Lehrer im Klassenzimmer zu haben, von denen sich der eine um Problemfälle kümmern kann. Auch Klassenassistenten kommen vermehrt zum Einsatz, um Zappelphilippe und Störefriede im Schach zu halten oder zurückgezogene Mauerblümchen aus der Reserve zu locken und zum Blühen zu bringen.

Anstatt die Schüler offen zu separieren, wie dies früher der Fall war, als man sie in Sonderschulen oder Kleinklassen placierte, geschieht die Separation heute oft versteckt und mit wohlklingenden Umschreibungen. Binnendifferenzierung nennt man das. Das Credo der Gleichmacherei beginnt auf jeden Fall zu bröckeln. «Integration kann nicht heissen, dass alle Kinder rund um die Uhr in der Klasse zusammensitzen», sagt Bildungsexperte Urs Moser vom Institut für Bildungsevaluation an der Universität Zürich. «Es braucht Differenzierungen.» Chancengleichheit dürfe nicht dazu führen, dass geordnetes Lernen nicht mehr möglich sei, sagt er. Obschon der Grundgedanke ein guter sei, könne die Integration dazu führen, dass Mitschüler darunter litten. «Die Störung des Unterrichts behindert den Lernerfolg», sagt Moser.

Das sind neue, kritische Töne. Es macht den Anschein, als sei die Integration, wie sie 1994 mit der Unesco-Erklärung von Salamanca stipuliert wurde, gescheitert. Damals vereinbarten die Unterzeichnerstaaten, dass die Schulsysteme «alle Kinder unabhängig von ihren individuellen Schwierigkeiten» integrieren sollen. Ein hehres Ziel, dass die Schweiz 2004 mit dem Behindertengleichstellungsgesetz bekräftigte. Den organisatorischen Rahmen dafür formulierte die Erziehungsdirektorenkonferenz 2007 mit dem Sonderpädagogik-Konkordat, dem mittlerweile 16 Kantone beigetreten sind. Den monetären Anreiz setzte 2008 der neue Finanzausgleich mit dem die Finanzierung der Schulung behinderter Kinder an die Kantone übertragen wurde. Die Integration eines Schülers ist um einiges günstiger als die separierte Schulung.

Die gutgemeinte Integration der Behinderten hat vorerst auch positive Effekte gezeitigt. Befanden sich vor gut zehn Jahren noch über sechs Prozent der Schüler in Sonderschulen, sind es heute noch knapp vier Prozent. Für viele Sinnesbehinderte, etwa Seh- oder Hörbehinderte oder geistig Behinderte, ist es ein Segen, in ihrer Wohnumgebung in die Schule zu gehen, statt in eine Sonderschule gefahren zu werden.

Gesellschaft driftet auseinander
Inzwischen aber geht es längst nicht mehr nur darum, solche Behinderte zu integrieren. Statt «Integration» heisst das heilpädagogische Zauberwort «Inklusion». Das bedeutet, dass jedes Kind um fast jeden Preis in der Regelschule gehalten werden soll - und das in einer Gesellschaft, deren Wertvorstellungen immer weiter auseinanderdriften. Erziehungsdefizite, Verwahrlosung und Migration führen dazu, dass die Zahl der schwierigen und schwachen Schüler zunimmt.

Das treibt an gewissen Orten Lehrer und Klassen an den Rand ihrer Belastbarkeit. In einer Umfrage des Verbands der Zürcher Kantonalen Mittelstufe (ZKM) gab es Rückmeldungen wie: «Stark verhaltensauffällige Kinder absorbieren dermassen viel Energie der Lehrperson, dass die restlichen Schüler darunter leiden.» Verhaltensprobleme sind das eine. Zu kämpfen haben die Lehrer auch mit Sprachproblemen, Lernschwierigkeiten, Hochbegabungen und mehr. Sowie dem Anspruch der Eltern, dass sämtliche Defizite ihrer Kinder therapiert werden. Was früher ein Stigma war, die besondere Schulung, gehört heute zum guten Ton.

Aufgefangen wird dies mit einem mittlerweile beachtlichen Arsenal von Spezialmassnahmen wie integrierte Förderung, Psychomotorik, Logopädie, Begabtenförderung, Deutsch als Zweitsprache und so weiter. Je nach Ort und sozialer Zusammensetzung der Schülerschaft kann sich dies zu einem komplexen Puzzle aus Regelunterricht und Fördermassnahmen auswachsen - besonders in städtischem Kontext. «In etlichen Klassen ist an einen normalen Unterricht nicht mehr zu denken. Ein Grossteil der Kinder wird behindert», sagt ZKM-Präsident Harry Huwyler. Wie umfangreich das System inzwischen geworden ist, zeigt eine Auswertung in einem Zürcher Schulhaus. Im Durchschnitt gibt es dort auf jeden Schüler eine besondere Massnahme. Unter all diesen Sonderbehandlungen leiden der Schulbetrieb, die Lehrer, die unproblematischen Schüler und sogar die integrierten Kinder: «Verhaltensauffällige werden so zu Aussenseitern gemacht und verlieren an Selbstwertgefühl», sagt Huwyler.

Forschung betont Erfolge
Die Klagen sind nicht neu. Erstaunlich ist, dass sie auf den ersten Blick in krassem Widerspruch zu dem stehen, was die Wissenschaft bis jetzt zum Thema herausgefunden hat. Fragt man Forscher, geben sie der Integration praktisch durchwegs gute Noten. So betont etwa der Freiburger Integrationsexperte Gérard Bless den positiven Lerneffekt für die Behinderten. Er erklärt dies mit der für die Kinder stimulierenden Lernumgebung, insbesondere im sprachlichen und kommunikativen Bereich. Umgekehrt stellt er fest, dass ihre Mitschüler im Lernerfolg nicht gebremst werden und oft eine bessere Sozialkompetenz aufweisen als separiert geschulte Kinder.

Offensichtlich sprechen hier Forschung und Praxis nicht dieselbe Sprache. Die Wissenschaft meint die Integration jener Schüler mit Behinderungen, an die wohl auch die Väter des Gleichstellungsgesetzes dachten. Damit kann die Schule meist gut umgehen, dafür gibt es auch genügend Unterstützung. «Kinder mit geistigen oder körperlichen Behinderungen sind in der Regel integrierbar», sagt Huwyler. Abgesehen davon, sind solche Fälle nicht sehr breit gestreut. Im Kanton Zürich etwa sitzt bloss in einer von acht Klassen ein Kind mit einer geistigen oder einer Sinnesbehinderung.

Das Problem ist, dass unter dem Titel der Integration auch Kleinklassen für verhaltensauffällige und schwache Schüler abgeschafft wurden. Stattdessen baute sich eine neue Förderindustrie auf. Beispielhaft zeigt sich das im Kanton Zürich, wo die Zahl der integrierten Sonderschüler stark zunimmt, die separierten aber kaum zurückgehen. Dadurch hat sich die Sonderschulquote in wenigen Jahren mehr als verdoppelt (Grafik). Der Status «integrierter Sonderschüler» wird heute oft darum verliehen, weil es so zusätzliche Unterstützungsmassnahmen gibt für die stark belasteten Klassen. Der Stempel «Sonderschüler» wird so zum Ventil für die überforderte Schule.

Inzwischen wird auch von höchster Stelle anerkannt, dass die Integration an ihre Grenzen stösst. Der Basler Regierungsrat Christoph Eymann, Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz, ist zwar ein vehementer Verfechter der integrativen Schulung. «Es ist wichtig, dass wir möglichst alle Kinder gemeinsam in der Regelschule unterrichten können», sagt er. Auch in seinem Kanton wurden in den letzten Jahren die Kleinklassen aufgehoben und die Schüler integriert.


Doch gerade in Basel mit seiner sehr heterogenen Bevölkerung gebe es damit Probleme: «Das System droht zu kippen», sagt Eymann. «Ich gehe davon aus, dass wir bis in zehn Jahren wieder viel mehr Separation haben werden als heute.» Und selbst Integrationsexperte Bless sagt: «Ich rechne damit, dass die Separation noch eine Weile rückläufig sein wird, doch bald wird sich der Trend wieder umkehren.» Die Euphorie ist der Ernüchterung gewichen. Die im Ansatz gute Idee der möglichst umfassenden Integration scheitert in der Praxis. Diese Einsicht kann Raum schaffen für pragmatische Lösungen - wie sie etwa die Schule Rütihof mit ihrer «Insel» gefunden hat.

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