14. März 2016

Dispensationen für fundamentalistische Christen

Dispensationen von Unterrichtsinhalten und Fächern aufgrund von Glaubens- und Gewissensfreiheit seien «grundsätzlich nicht möglich», sagt die Erziehungsdirektion des Kantons Bern.













Im Emmental leben konservative religiöse Splittergruppen, die sich von bestimmten Unterrichtsinhalten befreien lassen, Bild: Stefan Anderegg
Christen im Konflikt mit dem Lehrplan, Bund, 14.3. von Michael Hunziker


Dem «Bund» ist aber bekannt, dass auch christlich-fundamentalistische Kreise ihre Kinder oft vom Schulunterricht befreien lassen oder einem Spezialprogramm zuführen. Erwin Sommer, Vorsteher des Amts für Kindergarten, Volksschule und Beratung, sagt, dass der Besuch von Klassenlagern, Schultheatern und dem Schwimmunterricht Teil des obligatorischen Schulunterrichts sei.
In einzelnen Situationen mache man aber «nach dem gesunden Menschenverstand» Ausnahmen. Diese würden durch die Direktionsverordnung über Absenzen und Dispensationen in der Volksschule legitimiert. Die Schüler erhielten in diesem Fall alternatives Unterrichtsmaterial, welches sie in dieser Zeit in einer anderen Klasse bearbeiten könnten. Dieses Vorgehen hat zwei Seiten. Zum einen braucht es im Schulalltag gewisse Freiheiten, um mit solchen Problemen pragmatisch umgehen zu können. Zum anderen könnten solch unklare Bestimmungen im Zweifelsfall die Willkür bei Entscheidungen fördern. Franziska Schwab, Leiterin Pädagogik beim Lehrerverband Bildung Bern, spricht sich klar gegen solche Sonderprogramme aus.
Dies nicht nur im Hinblick auf den Schwimmunterricht. «Schüler sollten auch an Klassenlagern, Schultheatern und am Sexualkundeunterricht teilnehmen können.» Gerade der Sexualkundeunterricht sei ein wirksames Mittel zum Schutz des Kindes vor Übergriffen.
Keine Sexualkunde – kein Theater
Ein Beispiel, von dem der «Bund» in Kenntnis gesetzt worden ist, betrifft eine konservative Splittergruppe der Neutäufer-Bewegung in Langnau, welche ihre Kinder vom Sexualkundeunterricht und dem Theaterunterricht befreien liess. Auch hier mussten die Schüler während der Unterrichtszeit ein Spezialprogramm absolvieren.
Bei Theateraufführungen konnten teilweise Lösungen gefunden werden, wie das Bedienen der Beleuchtung. Manchmal reichte aber auch die Anwesenheit bei der Aufführung. Als Alternative zum Aufklärungsunterricht dienten Aufträge aus dem Fach Natur Mensch und Mitwelt.
Adrian Schranz, Schulleiter in Bärau, bestätigt, dass der Sexualkundeunterricht jeweils im Vorfeld angekündigt werde, «damit die Eltern Gelegenheit haben, ihr Kind frühzeitig dispensieren zu lassen». Dispensierte Kinder würden in dieser Zeit anderweitig beschäftigt.
Eine solche Dispensation ist gemäss aktuellem Lehrplan erlaubt. Nach Einführung des Lehrplans 21 wird es diesbezüglich nur noch eine Empfehlung geben, die Eltern über Ziele und Inhalte des Unterrichts zu informieren.
Ein weiterer Konfliktpunkt derselben Gruppierung betrifft die Teilnahme an Klassenlagern. Kinder dieser Glaubensrichtung dürfen nur in einem gesegneten Haus übernachten. In diesen Fällen mussten die Schüler am Unterricht in einer anderen Klasse teilnehmen oder konnten am Lagerort bei einer Familie, die derselben Glaubensgemeinschaft angehört, übernachten.
Markus Brandenberger, Gesamtschulleiter der Schule Langnau, bestätigt, dass es hin und wieder Probleme in dieser Hinsicht gebe. Er betont aber, dass man einen pragmatischen Weg verfolge und dass bisher stets «gute Lösungen» gefunden worden seien. Vonseiten der Neutäufer will sich niemand zu diesem Thema öffentlich äussern.
Auflagen für Privatunterricht tief
Die Neutäufer-Bewegung ist kein Einzelfall. Dass sich fundamentalistisch protestantische Gemeinschaften dieses Recht herausnehmen, ist laut Sektenexperte Georg Schmid seit längerem ein Thema.
Für Zeugen Jehovas beispielsweise gilt der Sexualkundeunterricht als problematisch. Darüber hinaus gelten die Evolutionstheorie oder Weihnachts- oder Geburtstagsfeiern als Tabu.
Der schulische Schwimmunterricht, der in den Medien hauptsächlich im Zusammenhang mit Kindern muslimischen Glaubens ein Thema wurde, ist für gewisse Sekten ebenfalls ein Problem. Laut Schmid ist zumindest von der Organischen Christus-Generation bekannt, dass sie ihre Kinder vom gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht befreien lassen.
Häufig besuchen Kinder aus fundamentalistischem Umfeld auch Privatschulen oder werden zu Hause unterrichtet. Für den Heimunterricht sind die Auflagen im Kanton Bern relativ tief. Die Eltern müssen dabei nicht im Besitz eines Lehrerpatents sein. Laut Volksschulgesetz reicht es, wenn sie sich von einer pädagogisch ausgebildeten Person anleiten lassen.
Lösungen wie Privatschulen oder Privatunterricht zu Hause sind für Schmid denn auch ein Hauptgrund, weshalb er für pragmatische Lösungen in der Volksschule ist. Dennoch gebe es Grenzen: «Diese sind dort erreicht, wo das Kindswohl auf dem Spiel steht.» Dies sei beispielsweise dann der Fall, wenn Kinder nicht am Schwimm- oder Sexualkundeunterricht teilnehmen dürfen.
Die Angst vor dem «Unsittlichen»
Die Angst vor einem Werteverlust spiele eine wichtige Rolle, wenn Eltern ihre Kinder von gewissen Unterrichtsinhalten fernhalten wollen, sagt Schmid. Bei vielen gelte zum Beispiel Homosexualität nach wie vor als Sünde.
Diese Haltung sei mit einem wertneutralen Unterricht nicht zu vereinbaren. Es spiele sicher aber auch die Angst eine Rolle, dass zum Beispiel in Klassenlagern «etwas Unsittliches» geschehen könnte.


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