Dispensationen von
Unterrichtsinhalten und Fächern aufgrund von Glaubens- und Gewissensfreiheit
seien «grundsätzlich nicht möglich», sagt die Erziehungsdirektion des Kantons
Bern.
Im Emmental leben konservative religiöse Splittergruppen, die sich von bestimmten Unterrichtsinhalten befreien lassen, Bild: Stefan Anderegg
Christen im Konflikt mit dem Lehrplan, Bund, 14.3. von Michael Hunziker
Dem
«Bund» ist aber bekannt, dass auch christlich-fundamentalistische Kreise ihre
Kinder oft vom Schulunterricht befreien lassen oder einem Spezialprogramm
zuführen. Erwin Sommer, Vorsteher des Amts für Kindergarten, Volksschule und
Beratung, sagt, dass der Besuch von Klassenlagern, Schultheatern und dem
Schwimmunterricht Teil des obligatorischen Schulunterrichts sei.
In
einzelnen Situationen mache man aber «nach dem gesunden Menschenverstand»
Ausnahmen. Diese würden durch die Direktionsverordnung über Absenzen und
Dispensationen in der Volksschule legitimiert. Die Schüler erhielten in diesem
Fall alternatives Unterrichtsmaterial, welches sie in dieser Zeit in einer
anderen Klasse bearbeiten könnten. Dieses Vorgehen hat zwei Seiten. Zum einen
braucht es im Schulalltag gewisse Freiheiten, um mit solchen Problemen
pragmatisch umgehen zu können. Zum anderen könnten solch unklare Bestimmungen
im Zweifelsfall die Willkür bei Entscheidungen fördern. Franziska Schwab,
Leiterin Pädagogik beim Lehrerverband Bildung Bern, spricht sich klar gegen
solche Sonderprogramme aus.
Dies
nicht nur im Hinblick auf den Schwimmunterricht. «Schüler sollten auch an
Klassenlagern, Schultheatern und am Sexualkundeunterricht teilnehmen können.»
Gerade der Sexualkundeunterricht sei ein wirksames Mittel zum Schutz des Kindes
vor Übergriffen.
Keine Sexualkunde – kein
Theater
Ein
Beispiel, von dem der «Bund» in Kenntnis gesetzt worden ist, betrifft eine
konservative Splittergruppe der Neutäufer-Bewegung in Langnau, welche ihre
Kinder vom Sexualkundeunterricht und dem Theaterunterricht befreien liess. Auch
hier mussten die Schüler während der Unterrichtszeit ein Spezialprogramm
absolvieren.
Bei
Theateraufführungen konnten teilweise Lösungen gefunden werden, wie das
Bedienen der Beleuchtung. Manchmal reichte aber auch die Anwesenheit bei der
Aufführung. Als Alternative zum Aufklärungsunterricht dienten Aufträge aus dem
Fach Natur Mensch und Mitwelt.
Adrian
Schranz, Schulleiter in Bärau, bestätigt, dass der Sexualkundeunterricht
jeweils im Vorfeld angekündigt werde, «damit die Eltern Gelegenheit haben, ihr
Kind frühzeitig dispensieren zu lassen». Dispensierte Kinder würden in dieser
Zeit anderweitig beschäftigt.
Eine
solche Dispensation ist gemäss aktuellem Lehrplan erlaubt. Nach Einführung des
Lehrplans 21 wird es diesbezüglich nur noch eine Empfehlung geben, die Eltern
über Ziele und Inhalte des Unterrichts zu informieren.
Ein
weiterer Konfliktpunkt derselben Gruppierung betrifft die Teilnahme an
Klassenlagern. Kinder dieser Glaubensrichtung dürfen nur in einem gesegneten
Haus übernachten. In diesen Fällen mussten die Schüler am Unterricht in einer
anderen Klasse teilnehmen oder konnten am Lagerort bei einer Familie, die
derselben Glaubensgemeinschaft angehört, übernachten.
Markus
Brandenberger, Gesamtschulleiter der Schule Langnau, bestätigt, dass es hin und
wieder Probleme in dieser Hinsicht gebe. Er betont aber, dass man einen
pragmatischen Weg verfolge und dass bisher stets «gute Lösungen» gefunden
worden seien. Vonseiten der Neutäufer will sich niemand zu diesem Thema
öffentlich äussern.
Auflagen für
Privatunterricht tief
Die
Neutäufer-Bewegung ist kein Einzelfall. Dass sich fundamentalistisch
protestantische Gemeinschaften dieses Recht herausnehmen, ist laut
Sektenexperte Georg Schmid seit längerem ein Thema.
Für
Zeugen Jehovas beispielsweise gilt der Sexualkundeunterricht als problematisch.
Darüber hinaus gelten die Evolutionstheorie oder Weihnachts- oder
Geburtstagsfeiern als Tabu.
Der
schulische Schwimmunterricht, der in den Medien hauptsächlich im Zusammenhang
mit Kindern muslimischen Glaubens ein Thema wurde, ist für gewisse Sekten
ebenfalls ein Problem. Laut Schmid ist zumindest von der Organischen
Christus-Generation bekannt, dass sie ihre Kinder vom gemischtgeschlechtlichen
Schwimmunterricht befreien lassen.
Häufig
besuchen Kinder aus fundamentalistischem Umfeld auch Privatschulen oder werden
zu Hause unterrichtet. Für den Heimunterricht sind die Auflagen im Kanton Bern
relativ tief. Die Eltern müssen dabei nicht im Besitz eines Lehrerpatents sein.
Laut Volksschulgesetz reicht es, wenn sie sich von einer pädagogisch ausgebildeten
Person anleiten lassen.
Lösungen
wie Privatschulen oder Privatunterricht zu Hause sind für Schmid denn auch ein
Hauptgrund, weshalb er für pragmatische Lösungen in der Volksschule ist.
Dennoch gebe es Grenzen: «Diese sind dort erreicht, wo das Kindswohl auf dem
Spiel steht.» Dies sei beispielsweise dann der Fall, wenn Kinder nicht am
Schwimm- oder Sexualkundeunterricht teilnehmen dürfen.
Die Angst vor dem
«Unsittlichen»
Die
Angst vor einem Werteverlust spiele eine wichtige Rolle, wenn Eltern ihre Kinder
von gewissen Unterrichtsinhalten fernhalten wollen, sagt Schmid. Bei vielen
gelte zum Beispiel Homosexualität nach wie vor als Sünde.
Diese
Haltung sei mit einem wertneutralen Unterricht nicht zu vereinbaren. Es spiele
sicher aber auch die Angst eine Rolle, dass zum Beispiel in Klassenlagern
«etwas Unsittliches» geschehen könnte.
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