15. Februar 2016

Molekularpädagogik

Letzte Woche war unser Bildungsdirektor, Herr Bernhard Pulver, in Biel zu Gast. Er wolle in Sachen Lehrplan 21» informieren und Ängste abbauen». Da tut er sicher gut daran, denn die neue Glücksbotschaft der Allianz zwischen Wissenschaft, Politik und Verwaltung sorgt immer wieder für neue Überraschungen. Zurzeit sind es die Hauwirtschaftlehrerinnen, die soeben realisiert haben, dass ihr Fach in seiner Praxisausrichtung halbiert werden wird. 
Willkommen im Reich der Molekularpädagogik, Bieler Tagblatt, 15.2. Kolumne von Alain Pichard

Sind es heuer 4 Lektionen abteilungsweiser Unterricht, in welchen die Schülerinnen und Schüler neben theoretischem Hintergrundwissen vor allem «kochen» dürfen, so wird dieses Fach neu im Fach «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt» aufgehen. Konkret heisst dies: Gekocht wird nur noch 2 Lektionen. Dafür dürfen jetzt die Hauswirtschaftlehrerinnen in der 7. Klasse 2 Lektionen und in der 9. Klasse 1 Lektion Theorie über Arbeit und Wirtschaft unterrichten. Eine Hauswirtschaftslehrerin, die in einer 9. Klasse eine Lektion lang «Arbeitswelten erkundigt» (Originalzitat Lehrplan) – auf so eine merkwürdige Idee käme wohl keine vernünftige Schulleitung. Ganz davon abgesehen, dass der Klassenlehrer die Arbeitswelten auch schon während der Berufswahl erkundigt. Die Professorin für Gesundheit und Hauswirtschaft an der pädagogischen Hochschule der Nordwestschweiz, Ute Bender, meinte im «Tages-Anzeiger» vom 3. Mai 2015 hingegen, es müsse nicht immer Kochen sein, man könne die Schüler ja auch «Waren testen lassen à la Kassensturz». Denn, so die Professorin, es sei ja viel wichtiger, dass die Schüler in der Lage seien, «die Folgen ihres Konsums zu analysieren» (Kompetenzziel Lehrplan 21). Anstatt Grundrezepte à la Tiptopf zu erlernen, Skilagerrezepte vorzukochen, Drinks für das Schulhausfest zu zaubern oder sich Wissen über einheimische Gemüsearten und Fruchtsorten zu erwerben, soll auch dieses Fach zu einer theoretischen Mainstreamfiliale umgebaut werden. Assistiert wird Bender von Corinne Senn, ihres Zeichens ebenfalls Dozierende an der FHNW. Sie begründet die Reform dieses Fachs besonders tiefsinnig: «Der Alltag des Menschen hat sich stark verändert!» Eine umwerfende Erkenntnis, finden Sie nicht auch? Nun denn, wenn es eine Berufskategorie in der Bildung gibt, welche die Veränderungen unserer Gesellschaft mit dem ganzen Wandel des Rollenverständnisses in all seinen Facetten durchlebt, durchgestanden und geprägt hat, dann sind es wohl die Hauswirtschaftslehrerinnen. Sie erlebten den Einmarsch der Jungs in die Schulküchen, sie erwiesen sich als Integrationsfachkräfte in Reinkultur, in dem sie den hartgesottene Machos inund ausländischer Provenienz das Abwaschen beibrachten, sie führten unsere Jugendlichen in die Welt der gesunden naturnahen Ernährung ein. Das war nicht immer einfach, oft härteste Knochenarbeit. Aber sie erreichten damit, dass sich der altehrwürdige Hauswirtschaftsunterricht mit der Zeit zu einem der kreativsten und beliebtesten Fächer in unserem oft kopflastigen Schulalltag gemausert hat. Zum Dank werden sie in einen hoffnungslosen Lektionenverteilungskampf geschickt (so ganz nebenbei wurde ihnen nämlich auch noch eine Lektion gekürzt) und dürfen jetzt mit dem Gault Millau in der Hand zeitgemässes Konsumverhalten unterrichten. Denn in den LP-21-Laboratorien der Molekularpädagogen scheint der verpönte Virus «Praxis» nichts mehr zu suchen zu haben.

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