Gemäss Lehrplan 21 soll an Schweizer Schulen nicht mehr der Erwerb von Wissen, sondern von "Kompetenzen" im Zentrum stehen. In Deutschland ist diese neumodische Methode längst eingeführt. Mit absurden Konsequenzen, wie ich bei meiner Tochter erlebte.
Erlebnisorientierte Langeweile, Weltwoche 5/2016, von Katja Oskamp
«Wie
war’s in der Schule?» – «Langweilig.» – «Was hast du gelernt?» – «Nichts.»
Diesen
trostlosen Dialog habe ich mit meiner Tochter in den letzten Jahren viele Male
geführt. Sie besucht die elfte Klasse eines Berliner Gymnasiums. Herkömmlicher
Unterricht findet möglichst selten statt, dafür gibt es immerzu Methoden- und
Kompetenzentraining. Die Schüler trainieren, wie man Vorträge hält, wie man
einen Ordner anlegt, wie man in der Bewerbungsmappe den Lebenslauf aufhübscht.
Einmal
musste meine Tochter während eines Tages immer wieder in den Klassenraum
eintreten und selbstbewusst wirken. Ein anderes Mal empfahlen sich
sechsundzwanzig Schüler sechsundzwanzigmal gegenseitig in überzeugenden Worten
dasselbe Blatt Papier, auf dem ein Text stand – als Übung zur korrekten
Quellenangabe. Im Englischkurs sollte über die englische Klassengesellschaft
diskutiert werden. Meine Tochter sagte: «Ich möchte die Engländer
verteidigen.» Die Lehrerin unterbrach sie: «Wörter wie ‹verteidigen› oder
‹angreifen› will ich hier nicht hören. Wir führen keinen Kampf, sondern eine
ausgewogene Diskussion.»
In der
Schule grassiert eine Flut englischer Zauberwörter. Zum Beispiel «Mind Map». Ohne
Mind Map – ein grafisch aufbereiteter Stichwortzettel – geht gar nichts. Oder
die Power-Point-Präsentation. Wer einen inhaltsarmen Vortrag mit einer
quietschbunten Power-Point-Präsentation hält, wird wegen Medienkompetenz besser
bewertet als jemand, der Einsteins Relativitätstheorie ohne Power-Point-Präsentation
erklären kann. Wer richtig punkten will, erstellt zur Power-Point ein Handout,
damit die Schüler nicht mitschreiben müssen, aber trotzdem was zum Einordnen haben.
«Toll, ein anderer macht’s!»
Ganz
gross angesagt ist Gruppenarbeit, besser bekannt als Teamwork. Für Faule eine
feine Sache – die Fleissigen zahlen drauf. Beschwert sich ein Fleissiger beim
Lehrer, dass er die ganze Gruppenarbeit allein gemacht hat, gilt er als Petzer
und als nicht teamfähig. Das gibt Punktabzug bei den sozialen Kompetenzen.
Zyniker übersetzen das englische Wort «Team» mit «Toll, ein anderer macht’s!».
Jeder
Präsentation folgt zwangsweise ein Feedback. Ein gutes Feedback ist jenes,
welches konstruktive Kritik übt. Konstruktive Kritik bedeutet, dass man mit dem
Positiven anfängt. Dem Feedback folgt nicht selten ein Feedback, welches das
vorangegangene Feedback beurteilt, selbstverständlich in Form konstruktiver
Kritik. Häufig finden Projektwochen statt, was bedeutet, dass der Unterricht
ausfällt. In der Projektwoche zum Thema Kinderarbeit musste meine Tochter in
der dreckigen Turnhalle unter Bänke robben, um Mitgefühl für das Elend
bolivianischer Minenkinder zu entwickeln.
Die
Anglizismisierung geht mit der Infantilisierung einher. Das Wie wird
immer wichtiger. Es bringt das Was zum Verschwinden. Die
Inhalte werden abgeschafft, die Form übernimmt. Der Gegenstand ist nichts,
seine Auf- und Nachbereitung alles. Allein der Abkürzungswust, der uns seit der
Einschulung um die Ohren fliegt, spricht Bände: JÜL. SAPH. PibF. WUV. IGEL ist
meine Lieblingsabkürzung. Sie steht für: Interessengefördertes Erlebnislernen.
Hinter diesen Abkürzungen verbergen sich immer neue Konzepte, immer neue
Reformen, von unsichtbaren Pädagogen erdacht, in niedlichen Tierlauten
verklausuliert. Passend zu den infantilen Abkürzungen geht der Trend weg von
der Schrift, hin zum Bild. Alles muss schnell zu erfassen sein, simpel. Kein
Schüler darf je überfordert werden. Deshalb steht die Häppchenkultur hoch im
Kurs. Bücher werden, wenn überhaupt, nur auszugsweise gelesen.
In der
neunten Klasse stand in Deutsch etwas Brecht auf dem Plan. Meine Tochter
schlug vor, im Berliner Ensemble die «Dreigroschenoper» anzuschauen. Die
Lehrerin war schockiert und verbat sich die Einmischung in ihre Arbeit. Im
Religionskurs regte ein Schüler kürzlich an, Nietzsche zu lesen. Das sei ihm zu
kompliziert, erwiderte der Lehrer und schlug vor, dass jeder reihum am
Freitagmorgen einen selbstgebackenen Kuchen mitbringen soll, den sie im Sinne
eines sozialen Miteinanders gemeinsam aufessen würden.
Statt
Wissen zu erwerben, bekommen die Schüler die ewiggleichen Kompetenzen eingetrichtert,
eine krude Mixtur aus politischer Korrektheit und der Anbetung technisch-medialer
Möglichkeiten. Der Lehrer verschanzt sich in einer nebligen Ferne, aus der er
Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Respekt und Toleranz predigt. Deshalb
langweilen sich die Schüler. Nicht nur die guten, auch die schlechten Schüler.
Doch Obacht! «Gut» und «Schlecht» gelten nach heutigem Verständnis als
reaktionäre Kategorien: «Keiner ist gut. Keiner ist schlecht. Jeder ist anders.
Aber alle sind gleich.»
Überwältigungsverbot
Meine
Freundin Anne ist 36 und lässt sich seit einem Jahr an der Humboldt-Universität
Berlin zur Grundschullehrerin – in der Schweiz wäre das eine
Primarschullehrerin – ausbilden. Ich frage sie, wie die Grundschule der Zukunft
aussieht. Zum Zwecke korrekten Genderings spricht man in der
Humboldt-Universität von «Schülerinnen und Schülern». Da das zum Schreiben zu
lang ist, kürzt man mit «SuS» ab. Doch auch zum Sprechen ist es zu lang, und
deshalb reden alle, Professoren und Studenten, immer von «den SuS». Auch das
Wort «Lehrer» gibt es nicht mehr. Der Lehrer wird zum «Lernbegleiter». Die
Inhalte sind komplett verschwunden, es gibt nur noch Kompetenzen. Man geht davon
aus, dass das Weltwissen – die Allgemeinbildung und der Erfahrungsschatz –
jederzeit abrufbar ist. Das genügt. Allein nach ihren Interessen sollen sich
die Sechs- bis Zwölfjährigen ihr Wissen selbst erarbeiten. Denn die
Demokratisierung der Gesellschaft darf vor den Kindern nicht haltmachen. Die
Mitbestimmung beginnt schon im Klassenzimmer. Verbote sind strikt verboten in
der Grundschule der Zukunft. Hiess es früher «Wir dürfen nicht über die Flure
rennen», so heisst es heute «Wir wollen nicht über die Flure rennen». Das
wiederum hiess früher Gehirnwäsche.
Über dem
gesamten Pädagogikstudium allerdings schwebt ein riesengrosses Verbot, es gibt
kein Seminar, in dem Anne es nicht zu hören bekommt. Es heisst
«Überwältigungsverbot»: Auf keinen Fall darf der Lernbegleiter den SuS seine
Bildung und Erfahrung vermitteln. Er darf niemals aus seiner Perspektive Dinge
erklären, niemals einem Kind seinen Blickwinkel aufpfropfen, niemals sein
Wissen heraushängen lassen. Denn ein Lehrer, der zeigt, dass er mehr weiss als
die Schüler, überwältigt sie. Dadurch würde ein fürchterliches
Hierarchiegefälle entstehen.
Die drei
grossen A der Grundschulpädagogik lauten: Abschaffung der Noten, Abschaffung
der Jahrgangsstufen, Abschaffung des Hierarchiegefälles. Vor allem aber gehört
der Wissensvorsprung des Lehrers abgeschafft. Es ist eine Abschaffungsorgie.
Mein Vorschlag: Demnächst hacken wir uns die Beine ab, um den Grössenvorsprung
abzuschaffen.
Einmal,
erzählt Anne, wurde den Studenten eine Textaufgabe in Mathematik vorgelegt. Anne
aber konnte die Aufgabe nicht lösen; sie war noch nie gut in Mathe, dafür schon
immer gut in Deutsch. In ihrer Not schrieb sie einen langen Text darüber, wie
sie sich gemeinsam mit den SuS der Aufgabe nähern würde. Wie sie ein Bild
malen, sich den Sachverhalt veranschaulichen und so auf die Schwierigkeiten
stossen würde, die die Aufgabe mit sich brachte. Sie gab den Text mit einem
schalen Gefühl ab und rechnete mit dem Schlimmsten. Das Gegenteil trat ein. Die
Dozentin war begeistert, liess den Text kopieren und als leuchtendes Beispiel
an alle verteilen. Anne bekam grösste Anerkennung dafür, dass sie eine
Matheaufgabe nicht gelöst hatte. Darin liegt eine gewisse
Konsequenz. Denn der ideale Lernbegleiter ist genau so naiv wie die
sechsjährigen SuS. Er verbirgt sein Wissen vor den Kindern – im besten Fall
muss er nichts verbergen, weil da nichts ist.
Meine
Tochter wünscht sich inzwischen nichts sehnlicher als schnöden
Frontalunterricht. Vorn steht jemand, der etwas weiss, was sie nicht weiss. Das
bringt er ihr dann bei. Aber Frontalunterricht gilt unter Pädagogen als
Teufelszeug und kommt nur noch selten vor. Sie muss noch anderthalb Jahre
durchhalten. Bisher konnten wir, mein Mann und ich, ihren Wissensdurst, ihre
Neugier, ihre Lust, die Welt zu begreifen, mit Ach und Krach am Leben erhalten.
Trotz Schule. Wir besorgen jedes Buch, das sie lesen will, füttern sie mit
Theater- und Opernbesuchen, rufen Leute an, die vom Fach sind und ihre Fragen
beantworten können. Meine Tochter möchte noch viel mehr lernen. Leider reicht
die Zeit nicht, wegen der Schule. Als ihr Frust darüber unerträglich wurde,
haben wir sie ein Jahr nach England geschickt, auf eine Mädchenschule, wo sie
immer an der Überforderung entlangschrammte. Sie hat es gepackt. Es sei die
schönste Zeit ihres Lebens gewesen, sagt sie.
Der Lehrer
im Leben meiner Tochter
Und dann
ist da noch Alexander, der Geigenlehrer. Mit Kollegen betreibt er eine private
Musikschule. Als Siebenjährige fing meine Tochter bei ihm an, einmal die Woche,
mit einer winzigen Achtelgeige. Alexander ist ein begnadeter Komiker, ein
Perfektionist, eine launische Diva. Im Unterricht entfacht er einen wahren
Überwältigungsfuror. Er stampft herum, fuchtelt mit den Armen, schreit auf,
wenn sich bei Bach ein Vibrato einschleicht, hasst verschliffene Töne und
besteht darauf, dass seine Schüler Doppelgriffe üben.
Alexander
ist kein Pädagoge, er ist Vollblutmusiker. Ein Fachmann, der weiss, wie man die
Geige in den Griff bekommt und der seine musikalischen Ansichten hemmungslos
vertritt. Er liebt die Musik. Seine Leidenschaft ist ansteckend. Meine Tochter
flitzt noch mit vierzig Grad Fieber in die Geigenstunde. Sie verdankt Alexander
unzählige Lachkrämpfe, hat Tränen vergossen ob seiner Rügen, sich die Zähne
ausgebissen an Stücken, die immer ein bisschen schwerer waren, als der gemeine
Pädagoge es für richtig hielt. Sie verdankt ihm wunderbare Orchesterfahrten,
grossartige Konzerte und ihre beste Freundin, die sie in der Musikschule
kennengelernt hat. Sie kann Noten lesen und Komponisten am Stil erkennen,
weiss in Musikgeschichte Bescheid und profitiert vom Wissen um den
Zusammenhang zwischen Musik und Mathematik. Vor allem kann sie Geige spielen.
Derzeit probt sie begeistert das Klaviertrio Nr. 2 von Benjamin Godard. Ich behaupte
schon jetzt: Alexander wird der Lehrer im Leben meiner
Tochter gewesen sein.
Was, wenn
er sich vor elf Jahren, als meine Tochter zum ersten Mal zu ihm kam, ans
Überwältigungsverbot gehalten hätte? Er hätte sie begrüsst: «Guten Tag, ich bin
Alexander, und es ist gut, dass ich dein Geigenlehrer bin, denn ich habe von
dieser Sache so wenig Ahnung wie du, so dass wir sie nun gemeinsam demokratisch
erarbeiten können.» Ratlos wären beide um das hölzerne Ding geschlichen.
Alexander hätte vorsichtig draufgeklopft oder hineingerufen, meine Tochter
hätte ein paar Münzen in die geschwungenen Schlitze geworfen oder etwas Wasser
eingefüllt. Sie hätten zusammen Flügel aus Papier gebastelt, sie auf den
seltsamen Korpus geklebt und das Fenster geöffnet. Und dann hätten sie
ausprobiert, ob es fliegen kann, das hölzerne Ding.
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