4. Februar 2016

"Meine Tochter wünscht sich nichts sehnlicher als schnöden Frontalunterricht"

Gemäss Lehrplan 21 soll an Schweizer Schulen nicht mehr der Erwerb von Wissen, sondern von "Kompetenzen" im Zentrum stehen. In Deutschland ist diese neumodische Methode längst eingeführt. Mit absurden Konsequenzen, wie ich bei meiner Tochter erlebte.
Erlebnisorientierte Langeweile, Weltwoche 5/2016, von Katja Oskamp


«Wie war’s in der Schule?» – «Langweilig.» – «Was hast du gelernt?» – «Nichts.»
Diesen trostlosen Dialog habe ich mit meiner Tochter in den letzten Jahren viele Male geführt. Sie besucht die elfte Klasse eines Berliner Gymnasiums. Herkömmlicher Unter­richt findet möglichst selten statt, dafür gibt es immerzu Methoden- und Kompetenzentraining. Die Schüler trainieren, wie man Vorträge hält, wie man einen Ordner anlegt, wie man in der Bewerbungsmappe den Lebenslauf aufhübscht.

Einmal musste meine Tochter während ­eines Tages immer wieder in den Klassenraum eintreten und selbstbewusst wirken. Ein anderes Mal empfahlen sich sechsundzwanzig Schüler sechsundzwanzigmal gegenseitig in überzeugenden Worten dasselbe Blatt Papier, auf dem ein Text stand – als Übung zur korrekten Quellenangabe. Im Englischkurs sollte über die englische Klassengesellschaft diskutiert werden. Meine Tochter sagte: «Ich ­möchte die Engländer verteidigen.» Die Lehrerin unterbrach sie: «Wörter wie ‹verteidigen› oder ‹angreifen› will ich hier nicht hören. Wir führen keinen Kampf, sondern eine ausgewogene Diskussion.»

In der Schule grassiert eine Flut englischer Zauberwörter. Zum Beispiel «Mind Map». ­Ohne Mind Map – ein grafisch aufbereiteter Stichwortzettel – geht gar nichts. Oder die Power-­Point-Präsentation. Wer ­einen inhaltsarmen Vortrag mit einer quietschbunten Power-­Point-Präsentation hält, wird wegen Medienkompetenz besser bewertet als jemand, der Einsteins Relativitätstheorie ohne Power-­Point-Präsen­tation erklären kann. Wer richtig punkten will, erstellt zur Power-Point ein Handout, damit die ­Schüler nicht mitschreiben müssen, aber trotzdem was zum Einordnen ­haben.

«Toll, ein anderer macht’s!»
Ganz gross angesagt ist Gruppenarbeit, besser bekannt als Teamwork. Für Faule eine feine ­Sache – die Fleissigen zahlen drauf. Beschwert sich ein Fleissiger beim Lehrer, dass er die ­ganze Gruppenarbeit allein gemacht hat, gilt er als Petzer und als nicht teamfähig. Das gibt Punktabzug bei den sozialen Kompetenzen. Zyniker übersetzen das englische Wort «Team» mit «Toll, ein anderer macht’s!».

Jeder Präsentation folgt zwangsweise ein Feed­back. Ein gutes Feedback ist jenes, welches konstruktive Kritik übt. Konstruktive Kritik bedeutet, dass man mit dem Positiven anfängt. Dem Feedback folgt nicht selten ein Feedback, welches das vorangegangene Feedback beurteilt, selbstverständlich in Form konstruktiver Kritik. Häufig finden Projektwochen statt, was bedeutet, dass der Unterricht ausfällt. In der Projektwoche zum Thema Kinderarbeit musste meine Tochter in der dreckigen Turnhalle unter Bänke robben, um Mit­gefühl für das Elend bolivianischer Minenkinder zu entwickeln.

Die Anglizismisierung geht mit der Infantilisierung einher. Das Wie wird immer wichtiger. Es bringt das Was zum Verschwinden. Die Inhalte werden abgeschafft, die Form übernimmt. Der Gegenstand ist nichts, seine Auf- und Nachbereitung alles. Allein der Abkürzungswust, der uns seit der Einschulung um die Ohren fliegt, spricht ­Bände: JÜL. SAPH. PibF. WUV. IGEL ist meine Lieblingsabkürzung. Sie steht für: Interessengefördertes Erlebnislernen. Hinter diesen ­Abkürzungen verbergen sich immer neue Konzepte, immer neue Reformen, von unsichtbaren Pädagogen erdacht, in niedlichen Tierlauten verklausuliert. Passend zu den infantilen Abkürzungen geht der Trend weg von der Schrift, hin zum Bild. ­Alles muss schnell zu erfassen sein, simpel. Kein Schüler darf je überfordert werden. Deshalb steht die Häppchenkultur hoch im Kurs. Bücher werden, wenn überhaupt, nur auszugsweise gelesen.
In der neunten Klasse stand in Deutsch ­etwas Brecht auf dem Plan. Meine Tochter schlug vor, im Berliner Ensemble die «Drei­groschenoper» anzuschauen. Die Lehrerin war schockiert und verbat sich die Einmischung in ihre Arbeit. Im Religionskurs regte ein Schüler kürzlich an, Nietzsche zu lesen. Das sei ihm zu kompliziert, erwiderte der Lehrer und schlug vor, dass jeder reihum am Freitagmorgen einen selbstgebackenen Kuchen mitbringen soll, den sie im ­Sinne eines sozialen Miteinanders gemeinsam aufessen würden.
Statt Wissen zu erwerben, bekommen die Schüler die ewiggleichen Kompetenzen ein­getrichtert, eine krude Mixtur aus politischer Korrektheit und der Anbetung technisch-­medialer Möglichkeiten. Der Lehrer verschanzt sich in einer nebligen Ferne, aus der er Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Respekt und Toleranz predigt. Deshalb langweilen sich die Schüler. Nicht nur die guten, auch die schlechten Schüler. Doch Obacht! «Gut» und «Schlecht» gelten nach heutigem Verständnis als reaktionäre Kategorien: «Keiner ist gut. Keiner ist schlecht. Jeder ist anders. Aber alle sind gleich.»

Überwältigungsverbot
Meine Freundin Anne ist 36 und lässt sich seit einem Jahr an der Humboldt-Universität Berlin zur Grundschullehrerin – in der Schweiz ­wäre das eine Primarschullehrerin – ausbilden. Ich frage sie, wie die Grundschule der Zukunft aussieht. Zum Zwecke korrekten Genderings spricht man in der Humboldt-Universität von «Schülerinnen und Schülern». Da das zum Schreiben zu lang ist, kürzt man mit «SuS» ab. Doch auch zum Sprechen ist es zu lang, und deshalb ­reden alle, Professoren und Studenten, immer von «den SuS». Auch das Wort «Lehrer» gibt es nicht mehr. Der Lehrer wird zum «Lernbegleiter». Die Inhalte sind komplett verschwunden, es gibt nur noch Kompetenzen. Man geht ­davon aus, dass das Welt­wissen – die All­gemeinbildung und der Erfahrungsschatz – jederzeit abrufbar ist. Das genügt. Allein nach ihren Interessen sollen sich die Sechs- bis Zwölfjährigen ihr Wissen selbst erarbeiten. Denn die Demokratisierung der Gesellschaft darf vor den Kindern nicht haltmachen. Die Mitbestimmung beginnt schon im Klassenzimmer. Verbote sind strikt verboten in der Grundschule der Zukunft. Hiess es früher «Wir dürfen nicht über die ­Flure rennen», so heisst es heute «Wir wollen nicht über die Flure rennen». Das wiederum hiess früher Gehirnwäsche.

Über dem gesamten Pädagogikstudium ­allerdings schwebt ein riesengrosses Verbot, es gibt kein Seminar, in dem Anne es nicht zu ­hören bekommt. Es heisst «Überwältigungsverbot»: Auf keinen Fall darf der Lernbegleiter den SuS seine Bildung und Erfahrung vermitteln. Er darf niemals aus seiner Perspektive ­Dinge erklären, niemals einem Kind seinen Blickwinkel aufpfropfen, niemals sein Wissen heraushängen lassen. Denn ein Lehrer, der zeigt, dass er mehr weiss als die Schüler, überwältigt sie. Dadurch würde ein fürchterliches Hierarchiegefälle entstehen.

Die drei grossen A der Grundschulpädagogik lauten: Abschaffung der Noten, Abschaffung der Jahrgangsstufen, Abschaffung des Hier­archiegefälles. Vor allem aber gehört der Wissensvorsprung des Lehrers abgeschafft. Es ist eine Abschaffungsorgie. Mein Vorschlag: Demnächst hacken wir uns die Beine ab, um den Grössenvorsprung abzuschaffen.
Einmal, erzählt Anne, wurde den Studenten ­eine Textaufgabe in Mathematik vorgelegt. ­Anne aber konnte die Aufgabe nicht lösen; sie war noch nie gut in Mathe, dafür schon immer gut in Deutsch. In ihrer Not schrieb sie einen langen Text darüber, wie sie sich gemeinsam mit den SuS der Aufgabe nähern würde. Wie sie ein Bild malen, sich den Sachverhalt veranschaulichen und so auf die Schwierigkeiten stossen würde, die die Aufgabe mit sich brachte. Sie gab den Text mit einem schalen Gefühl ab und rechnete mit dem Schlimmsten. Das Gegenteil trat ein. Die Dozentin war begeistert, liess den Text kopieren und als leuchtendes Beispiel an alle verteilen. Anne bekam grösste Anerkennung dafür, dass sie eine Matheaufgabe nicht gelöst hatte. Darin liegt eine gewisse Konsequenz. Denn der ­ideale Lernbegleiter ist genau so naiv wie die sechsjährigen SuS. Er verbirgt sein Wissen vor den Kindern – im besten Fall muss er nichts verbergen, weil da nichts ist.
Meine Tochter wünscht sich inzwischen nichts sehnlicher als schnöden Frontalunterricht. Vorn steht jemand, der etwas weiss, was sie nicht weiss. Das bringt er ihr dann bei. Aber Frontalunterricht gilt unter Pädagogen als Teufelszeug und kommt nur noch selten vor. Sie muss noch anderthalb Jahre durchhalten. Bisher konnten wir, mein Mann und ich, ihren Wissensdurst, ihre Neugier, ihre Lust, die Welt zu begreifen, mit Ach und Krach am Leben erhalten. Trotz Schule. Wir besorgen ­jedes Buch, das sie lesen will, füttern sie mit Theater- und Opernbesuchen, rufen Leute an, die vom Fach sind und ihre Fragen beantworten können. Meine Tochter möchte noch viel mehr lernen. Leider reicht die Zeit nicht, wegen der Schule. Als ihr Frust darüber unerträglich wurde, haben wir sie ein Jahr nach England geschickt, auf eine Mädchenschule, wo sie immer an der Überforderung entlangschrammte. Sie hat es gepackt. Es sei die schönste Zeit ­ihres Lebens gewesen, sagt sie.

Der Lehrer im ­Leben meiner Tochter
Und dann ist da noch Alexander, der Geigenlehrer. Mit Kollegen betreibt er eine private Musikschule. Als Siebenjährige fing meine Tochter bei ihm an, einmal die Woche, mit ­einer winzigen Achtelgeige. Alexander ist ein begnadeter ­Komiker, ein Perfektionist, eine launische Diva. Im Unterricht entfacht er einen wahren Überwältigungsfuror. Er stampft herum, fuchtelt mit den Armen, schreit auf, wenn sich bei Bach ein Vibrato einschleicht, hasst verschliffene ­Töne und besteht darauf, dass seine Schüler Doppelgriffe üben.
Alexander ist kein Pädagoge, er ist Vollblutmusiker. Ein Fachmann, der weiss, wie man die Geige in den Griff bekommt und der seine ­musikalischen Ansichten hemmungslos vertritt. Er liebt die Musik. Seine Leidenschaft ist ansteckend. Meine Tochter flitzt noch mit vierzig Grad Fieber in die Geigenstunde. Sie verdankt Alexander unzählige Lachkrämpfe, hat Tränen vergossen ob seiner Rügen, sich die Zähne ausgebissen an Stücken, die immer ein bisschen schwerer waren, als der gemeine Pädagoge es für richtig hielt. Sie verdankt ihm wunder­bare ­Orchesterfahrten, grossartige Kon­zerte und ­ihre beste Freundin, die sie in der Musikschule kennengelernt hat. Sie kann ­Noten lesen und Komponisten am Stil erkennen, weiss in Musik­geschichte Bescheid und profitiert vom Wissen um den Zusammenhang zwischen ­Musik und Mathematik. Vor allem kann sie Geige spielen. Derzeit probt sie begeistert das Klaviertrio Nr. 2 von Benjamin Godard. Ich ­behaupte schon jetzt: Alexander wird der Lehrer im ­Leben meiner Tochter gewesen sein.


Was, wenn er sich vor elf Jahren, als meine Tochter zum ersten Mal zu ihm kam, ans Überwältigungsverbot gehalten hätte? Er hätte sie begrüsst: «Guten Tag, ich bin Alexander, und es ist gut, dass ich dein Geigenlehrer bin, denn ich habe von dieser Sache so wenig Ahnung wie du, so dass wir sie nun gemeinsam demokratisch erarbeiten können.» Ratlos wären beide um das hölzerne Ding geschlichen. Alexander hätte vorsichtig draufgeklopft oder hineingerufen, meine Tochter hätte ein paar Münzen in die geschwungenen Schlitze geworfen oder etwas Wasser eingefüllt. Sie hätten zusammen Flügel aus Papier gebastelt, sie auf den seltsamen Korpus geklebt und das Fenster geöffnet. Und dann hätten sie ausprobiert, ob es fliegen kann, das hölzerne Ding.

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