4. Februar 2016

Klagelied vom Bildungsabbau

Es hagelt Proteste und Manifeste. Die Ankündigung von Bund und Kantonen, in Zeiten knapper Budgets auch bei der Bildung zu sparen, provoziert Widerstand. In Zürich ­etwa, dem grössten Schweizer Kanton, will der Regierungsrat ab nächstem Jahr insgesamt 600 bis 700 Millionen Franken sparen – sonst täte sich bis 2019 ein Loch von 1,8 Milliarden Franken auf. Auch die Bildungsdirektion soll dazu einen Beitrag leisten wie alle Departemente. Doch davon wollen Lehrer und Professoren, einschlägige Berufsverbände und Sympathisanten aus breiten Gesellschaftskreisen nichts wissen.














Die Legende von Geld und Geist, Weltwoche 5/2016, von Philipp Gut und Peter Keller


Mitte Januar fanden im ganzen Kanton ­Demonstrationen statt. Und im «Zürcher ­Manifest für die Bildung» schlagen teilweise prominente Unterzeichner wie Uni-Rektor Michael Hengartner oder Beat Zemp, Zentralpräsident des Schweizer Lehrerverbands, Alarm: «Bildung ist unsere wertvollste Ressource. Sie legt die Basis für ein funktionierendes Gemeinwesen, für Arbeit, Innovation, ­Forschung und Wohlstand.» Diese Errungenschaften seien in Gefahr: Mit seinen Spar­bemühungen entziehe der Kanton «der heutigen und künftigen Jugend die Chance auf bestmögliche Ausbildung und seinem Forschungs- und Wirtschaftsstandort den Nachwuchs». Lehrerchef Zemp doppelt nach: «Wer heute bei der Bildung abbaut, nimmt in Kauf, dass es morgen bergab geht.»

Dieses eher düstere Szenario will sich die Bildungslobby nicht durch Argumente aufhellen lassen: «Statt Debatten über Spielräume beim Sparen braucht es jetzt ein mutiges Bekenntnis zur Bildung und zu ihren Institu­tionen.» Dass sich ausgerechnet die Vertreter der öffentlichen und öffentlich finanzierten Bildung der Diskussion verweigern wollen, ­erstaunt allerdings. Sie spekulieren offenbar auf ein Grund-Wohlwollen dem Bildungs­sektor gegenüber – und darauf, dass sie kaum je ernsthaft begründen müssen, wozu sie das Geld einsetzen.

Neue heilige Kuh
Geht es um Bildungsausgaben, herrscht eine Art ökonomische Blindheit. Jeder für Bildung ausgegebene Franken gilt als gut ausgege­bener Franken. Sparen hingegen erscheint als Sakrileg, ja als Ding der Unmöglichkeit. «Wer bei der Bildung spart, spart nicht», heisst es beim Zürcher Lehrerverband. Als ob es im ­Bildungsbereich – wie auf jedem Gebiet staatlicher Tätigkeit – nicht auch Ressourcen­knappheit, Fehlinvestitionen und Verschwendung gäbe. Die Bildung ist die neue heilige Kuh.

Differenziertere Einsichten vermittelt Stefan Wolter, Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern und Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung. Zwar sei die Bildungsqualität zentral für das Wachstum von Ländern, so Wolter. Aber die bildungsökonomische Forschung habe eben auch gezeigt, dass es keinen Zusammenhang zwischen Bildungsausgaben und Bildungsqualität gebe. In empirischen Vergleichsstudien konnten Wolter und sein Team nachweisen, dass Kantone, die bis zu fünfzig Prozent mehr für Bildung ausgeben als andere, schlechtere Leistungen erzielen. Mit anderen Worten: Die These, dass mehr Geld mehr Geist bedeute, ist wissenschaftlich nicht haltbar. Ebenso falsch sei die Annahme, Sparen heisse automatisch weniger Bildung.
Diese «eindeutigen Erkenntnisse der Bildungsökonomie» (Wolter) widersprechen den eingangs zitierten Stimmen, die einen solchen ursächlichen Zusammenhang behaupten. Nichts als politische Propaganda ist deshalb auch das riesige Transparent, das an der ehemaligen Schule für Gestaltung am Zürcher Limmatquai hängt: «Sparen bei der Bildung ist Schwachsinn und führt zu Schwachsinn.»

Das wirkliche Problem des Bildungswesens sei nicht das Geld, sondern die verbreitete ­Ineffizienz, sagt Professor Wolter. Das System werde ausschliesslich durch Inputs, nicht durch Outputs gesteuert. Etwas rustikaler ausgedrückt: Wir giessen oben Geld hinein, ohne zu schauen, was unten herauskommt.

Ausgaben verdoppelt
Tatsächlich ist in jüngerer Vergangenheit massiv in die Bildung investiert worden. Seit 1990 haben sich die Ausgaben mehr als verdoppelt: von 16,6 auf 35,4 Milliarden Franken (2013). Dass in der Bildung gespart würde, ist ein ­politischer Mythos – oder zeugt von mangelhaften mathematischen Kenntnissen. Bei den kantonalen Sparprogrammen in der Höhe von 535 Millionen bis 2018, von denen der Tages-Anzeiger berichtet, handelt es sich höchstens um eine Wachstumsbremse: Man will ­weniger ausgeben als geplant. Effektiv gespart bei der Bildung wird deswegen noch lange nicht.

Wie die Abbildung der indexierten Entwicklung 1990–2013 zeigt, haben sich die Bildungsausgaben von den öffentlichen Gesamtausgaben entkoppelt. Zwischen 2000 und 2007 lief das Kostenwachstum noch parallel, ab 2008 erfolgte jedoch ein regelrechter Wachstumssprung: Die Ausgaben für die Bildung stiegen ungefähr doppelt so schnell an wie diejenigen der öffentlichen Ausgaben insgesamt. Wenn nun der Anstieg gedämpft wird, hat das nichts mit bildungsfeindlicher Sparpolitik zu tun, denn im Vergleich zu anderen Bereichen haben die Schulen und Universitäten in den letzten Jahren überdurchschnittlich profitiert. Hier sind Korrekturen unumgänglich. Die staatlichen Ausgaben sind auf Dauer so nicht mehr finanzierbar, das zeigt der Vergleich mit der roten Kurve (siehe S. 16): Das Bruttoinlandprodukt (BIP) der Schweiz humpelt den öffentlichen Ausgaben hinterher. Der Staat wächst ­also schneller als die Volkswirtschaft.

Ein Vergleich der verschiedenen Bereiche zeigt, dass die Ausgaben im Bildungswesen sehr unterschiedlich ausfallen. Die obligato­rische Schule (Schulpflicht bis zum neunten Schuljahr) kostete im Jahr 2000 gesamthaft 10,837 Milliarden Franken, 2013 waren es 15,443 Milliarden. Das macht ein Plus von 42,5 Prozent. Im gleichen Zeitraum verdoppeln sich die Ausgaben für den Bereich Sonderschulen: von 912,4 Millionen Franken auf 1893,2 Millionen (plus 107,5 Prozent). Auch die Hochschulen bekommen wesentlich mehr ­öffentliche Gelder: Sie weisen einen Zuwachs von über 3 Milliarden aus (plus 65,2 Prozent) – auf 7,626 Milliarden.

Das Gejammer der Universitäts- und ETH-Rektoren lässt sich also kaum rechtfertigen, zumal der Bereich Forschung und Entwicklung regelrecht vergoldet wurde: Er stieg von 722,8 Millionen (2000) auf 3658,7 Millionen (2013), was einem Plus von 406,2 Prozent entspricht. Dass die Leistungen der Hochschulen im gleichen Zeitraum ebenfalls viermal besser wurden, darf bezweifelt werden. Bei den Pisa-Studien schneidet die Schweiz zwar gut ab, aber die Spitzenplätze bleiben anderen, vornehmlich asiatischen Staaten vorbehalten – obschon kein anderes Land pro Kopf mehr Geld für die Bildung ausgibt als die ­Eidgenossenschaft (siehe oben, Tabelle: «Vergleich öffentliche Bildungsausgaben»).

Finanzieller Bildungsgraben
Diese Zahlen sind umso bemerkenswerter, wenn sie mit dem Bereich Berufsbildung verglichen werden. Hier fiel das Wachstum merklich tiefer aus. Die Ausgaben für die berufliche Grundbildung wuchsen seit 2000 um 22,2 Prozent auf total 3518,3 Millionen, diejenigen für die höhere Berufsbildung um lediglich 10,9 Millionen auf 349,9 Millionen (plus 3,1 Prozent). Dieser finanzielle Bildungsgraben ist aus zwei Gründen aufschlussreich. Dass die Kosten insgesamt relativ moderat blieben, hat damit zu tun, dass die Berufsverbände die Ausbildung mitorganisieren und mitfinanzieren. Die positive Nähe zur Berufswelt zeigt sich auch darin, dass der kostentreibende Reform­eifer, wie ihn die obligatorische Schule ­erlebt, mehr oder weniger aussen vor geblieben ist.

Rund zwei Drittel der jungen Leute in der Schweiz beginnen nach ihrer obligatorischen Schulzeit eine berufliche Grundbildung. Ein Erfolgsmodell. Das duale Berufsbildungs­system (Mittelschule/Hochschule und Weg über die berufliche Ausbildung) ist die Stütze des schweizerischen Jobwunders und der vergleichsweise ­tiefen Jugendarbeitslosigkeit. Politiker aller Parteien werden nicht müde, die Vorzüge vor allem der praxisorientierten ­Berufsbildung hervorzuheben. Das war allerdings nicht ­immer so. Bis vor zehn, fünfzehn Jahren war es Mode, im Verbund mit der OECD die vergleichsweise tiefe Maturitätsquote zu kritisieren. Grundtenor: Die Schweiz verpasse den Anschluss an die komplexen Anforderungen der modernen Berufswelt. Tatsächlich aber bilden die gutausgebildeten Berufsleute nach wie vor das Fundament des auch international erfolgreichen Werkplatzes – bei vergleichsweise tief gebliebenen Kosten.

Ein genauerer Blick auf die unterschiedlichen Ausgabenfelder zeigt, dass es auch innerhalb der obligatorischen Bildung grosse Unterschiede beim Wachstum gibt. So sind die Löhne für die Lehrpersonen in den letzten zwei Jahrzehnten prozentual weniger stark gewachsen als das Total der Bildungsausgaben. Überdurchschnittlich zugenommen ­haben hingegen die Sachausgaben sowie die Löhne für das «übrige Personal» – Letztere um mehr als fünfzig Prozentpunkte gegenüber den Lehrerlöhnen. Vor allem die Bildungsbürokratie und das die Schulen umgebende Zusatzgewerbe – Berater, Therapeuten, Sonderpädagogen et cetera – sind für die gestiegenen Bildungskosten verantwortlich.

Wildwuchs bei den Spezialisten
Der Reformeifer ist der Kostentreiber Nummer eins. An vorderster Stelle ist das integra­tive Schulmodell zu nennen, das vom behinderten, lernschwachen, fremdsprachigen bis zum verhaltensauffälligen Kind mit oder ohne Migrationshintergrund alle in eine Regelklasse packen will. Für die Schulen heisst das mehr Betreuung und zusätzliche Lehrpersonen wie Schulsozialarbeiter, Psychologen, Heilpäd­agogen. Letztere verdienen etwa gleich viel wie eine Sekundarlehrperson, auch wenn sie in der Primarschule eingesetzt werden. Obwohl mit dem integrativen Schulmodell viele Kinder, die vorher in einer Sonderschuleinrichtung betreut wurden, neu in der Regelklasse «integriert» werden, sind die Kosten nicht gesunken. Im Gegenteil: Sie haben sich seit dem Jahr 2000 von 912,2 auf 1748,9 Millionen Franken (2013) verdoppelt.

An der Lehrerbasis sieht man den Personalwildwuchs durchaus kritisch, es gebe zu viele Spezialisten (schulpsychologischer Dienst, schulische Heilpädagogen, Fachlehrpersonen, Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache), die sich oft gegenseitig Arbeit verschafften. «Wenn man vor allem bei den Kleineren mehr Zeit hätte und als Klassenlehrperson eine Beziehung zu den Schülern aufbauen könnte, würden gewisse Probleme und Schwächen abgefedert, statt dass sie nachher an die diversen Spezialisten ausgelagert werden müssten», so ein langjähriger Lehrer.

Aber auch sonst würden Hochschulpädagogen und Bildungsbürokraten, die selber gar nicht unterrichten, aber in den Ämtern, an den pädagogischen Hochschulen oder in der Schulleitung ihre Ideen ausbrüten, für unnötigen Aufwand sorgen: millionenteure, aber wenig praxistaugliche Lehrpläne wie der Lehrplan 21, ständig wechselnde Lehrmittel (die «alten» müssen entsorgt werden) samt ­aufwendigen Einführungen, aufgebauschte Schulleitungsmodelle (früher gab es ein Schulsekretariat), teure externe Evaluationen zur Qualitätssicherung, die Anschaffung kurz­lebiger elektronischer Hilfsmittel (Beamer, Presenter, PC-Netzwerke, elektronische Wandtafeln), die bald schon überholt sind oder gar nicht den Mehrwert bringen, der ihre Anschaffung rechtfertigte, oder übertrieben aufwendige Schulprojekte mit externen Fachpersonen (zum Beispiel Schultheater).

Ein wesentlicher Teil der Ressourcen wird so der eigentlichen Bildung und Ausbildung entzogen. Der Moloch Bildung frisst seine ­eigenen Kinder. Lehrer an der Basis klagen seit längerem darüber, sie hätten für das ­eigentliche Kerngeschäft – das Unterrichten – immer ­weniger Zeit. Der Verwaltungs- und Koordinationsaufwand wachse: durch ständig neue und teilweise zweifelhafte Reformen, Sitzungen, Evaluationen, Teamanlässe, Organisations­fragen.

Zu Buche schlagen auch diverse Schulversuche, wie sich am Beispiel des Kantons Bern zeigen lässt. In den letzten Jahren wurden dort 600 000 Franken «für Erfahrungssammlung im Bereich der notenfreien Beurteilung» ausgegeben (2002–2014), 208 000 Franken für den Schulversuch «Hochbegabte II» (2005–2008), 8,4 Millionen Franken für den Schulversuch Basisstufe (2004–2013) und 900 000 Franken für «Erfahrungssammlung für die neue Unterrichtsart im Kindergarten bis 2. Schuljahr» (2005–2013). Bis 2019 gibt der Kanton Bern, der mit über einer Milliarde Franken aus dem ­kantonalen Finanzausgleich alimentiert wird, ­zudem mehr als eine halbe Million Franken für den Schulversuch «Teams für starke Lern- und Lehrbeziehungen» aus.

Ähnliche Versuche wie den letztgenannten gibt es auch in anderen Kantonen. Sie führen unfreiwillig den Reformeifer ad absurdum: Denn ihr Ziel ist es, die Anzahl Lehrpersonen an den einzelnen Klassen wieder zu reduzieren. Nachdem die bisherigen Reformen quasi durchs Band zu einer Aufblähung des Lehr­apparats geführt haben, will man nun «Erfahrungen» sammeln mit Klassen, die wieder ­weniger Personal ausgesetzt sind – zum Nutzen der Schüler.

Grosszügig wird auch in Bauten und Beton investiert, etwa im Fachhochschulbereich, wo in den letzten Jahren regelrechte Bildungs­tempel entstanden sind. Zusätzlich belasten Folgekosten die Staatskassen, die oft nicht ausgewiesen seien, wie der Bieler Lehrer und Bildungspolitiker Alain Pichard (GLP) kritisiert. Würden etwa Mittagstische eingeführt, werde oft verschwiegen, dass dies massive bauliche Massnahmen zur Folge habe. Oder eine neue Sprachdidaktik: Da kämen auch IT-Kosten dazu. Ins Geld gingen zudem fragwürdige Reformen wie die Einführung des Frühfranzösisch und des Früh­englisch, deren Nutzen in verschiedenen Studien gleich null war. Allein im Kanton Bern, so schätzt Pichard, verursache die Einführung von Frühfranzösisch Kosten von sechzig ­Mil­lionen Franken.

Fazit: Das Klagelied vom Bildungsabbau ist verfehlt. Denn erstens hat ein solcher gar nicht stattgefunden, im Gegenteil: Die Bildungskosten sind stark gestiegen. Zweitens wird viel Geld für unsinnige Projekte ausgegeben, die gar nicht den Schülern und Studenten und ­deren Bildung und Ausbildung zukommen. Es besteht also echtes Sparpotenzial.

Sparpotenzial Klassengrössen
Eine lineare Kürzung mit der Rasenmäher-­Methode – etwa bei den Lektionen – sei falsch, sagt Mathias Binswanger, Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Es gebe aber durchaus Möglichkeiten, und in gewissen Bereichen hätte das Sparen sogar ­positive Effekte auf die Bildung. Als Beispiele nennt Binswanger die ausufernde Sonderpädagogik, die bürokratischen Abläufe, welche die Lehrer vom Unterrichten abhielten und die Kosten in die Höhe trieben, oder die Akademisierung verschiedener Bildungsbereiche, die ebenfalls zu massiven Kostenschüben geführt habe.

Ein einfaches Sparmodell bringt der eingangs zitierte Bildungsökonom Stefan Wolter in die Debatte ein: Würden die Klassen um ­lediglich einen Schüler erhöht, könnte das Schweizer Bildungswesen auf einen Schlag 500 Millionen Franken einsparen. Die Diskussion ist eröffnet, auch wenn die Profiteure des aus Steuergeldern finanzierten Bildungsbooms sie am liebsten unterbinden würden.


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