Es hagelt
Proteste und Manifeste. Die Ankündigung von Bund und Kantonen, in Zeiten
knapper Budgets auch bei der Bildung zu sparen, provoziert Widerstand. In
Zürich etwa, dem grössten Schweizer Kanton, will der Regierungsrat ab nächstem
Jahr insgesamt 600 bis 700 Millionen Franken sparen – sonst täte sich bis 2019
ein Loch von 1,8 Milliarden Franken auf. Auch die Bildungsdirektion soll dazu
einen Beitrag leisten wie alle Departemente. Doch davon wollen Lehrer und
Professoren, einschlägige Berufsverbände und Sympathisanten aus breiten
Gesellschaftskreisen nichts wissen.
Die Legende von Geld und Geist, Weltwoche 5/2016, von Philipp Gut und Peter Keller
Mitte
Januar fanden im ganzen Kanton Demonstrationen statt. Und im «Zürcher Manifest
für die Bildung» schlagen teilweise prominente Unterzeichner wie Uni-Rektor
Michael Hengartner oder Beat Zemp, Zentralpräsident des Schweizer
Lehrerverbands, Alarm: «Bildung ist unsere wertvollste Ressource. Sie legt die
Basis für ein funktionierendes Gemeinwesen, für Arbeit, Innovation, Forschung
und Wohlstand.» Diese Errungenschaften seien in Gefahr: Mit seinen Sparbemühungen
entziehe der Kanton «der heutigen und künftigen Jugend die Chance auf
bestmögliche Ausbildung und seinem Forschungs- und Wirtschaftsstandort den
Nachwuchs». Lehrerchef Zemp doppelt nach: «Wer heute bei der Bildung abbaut,
nimmt in Kauf, dass es morgen bergab geht.»
Dieses
eher düstere Szenario will sich die Bildungslobby nicht durch Argumente
aufhellen lassen: «Statt Debatten über Spielräume beim Sparen braucht es jetzt
ein mutiges Bekenntnis zur Bildung und zu ihren Institutionen.» Dass sich
ausgerechnet die Vertreter der öffentlichen und öffentlich finanzierten Bildung
der Diskussion verweigern wollen, erstaunt allerdings. Sie spekulieren
offenbar auf ein Grund-Wohlwollen dem Bildungssektor gegenüber – und darauf,
dass sie kaum je ernsthaft begründen müssen, wozu sie das Geld einsetzen.
Neue heilige Kuh
Geht es
um Bildungsausgaben, herrscht eine Art ökonomische Blindheit. Jeder für Bildung
ausgegebene Franken gilt als gut ausgegebener Franken. Sparen hingegen
erscheint als Sakrileg, ja als Ding der Unmöglichkeit. «Wer bei der Bildung spart,
spart nicht», heisst es beim Zürcher Lehrerverband. Als ob es im Bildungsbereich
– wie auf jedem Gebiet staatlicher Tätigkeit – nicht auch Ressourcenknappheit,
Fehlinvestitionen und Verschwendung gäbe. Die Bildung ist die neue heilige Kuh.
Differenziertere
Einsichten vermittelt Stefan Wolter, Professor für Bildungsökonomie an der
Universität Bern und Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für
Bildungsforschung. Zwar sei die Bildungsqualität zentral für das Wachstum von
Ländern, so Wolter. Aber die bildungsökonomische Forschung habe eben auch
gezeigt, dass es keinen Zusammenhang zwischen Bildungsausgaben und
Bildungsqualität gebe. In empirischen Vergleichsstudien konnten Wolter und sein
Team nachweisen, dass Kantone, die bis zu fünfzig Prozent mehr für Bildung
ausgeben als andere, schlechtere Leistungen erzielen. Mit anderen Worten: Die
These, dass mehr Geld mehr Geist bedeute, ist wissenschaftlich nicht haltbar.
Ebenso falsch sei die Annahme, Sparen heisse automatisch weniger Bildung.
Diese «eindeutigen
Erkenntnisse der Bildungsökonomie» (Wolter) widersprechen den eingangs
zitierten Stimmen, die einen solchen ursächlichen Zusammenhang behaupten.
Nichts als politische Propaganda ist deshalb auch das riesige Transparent, das
an der ehemaligen Schule für Gestaltung am Zürcher Limmatquai hängt: «Sparen
bei der Bildung ist Schwachsinn und führt zu Schwachsinn.»
Das
wirkliche Problem des Bildungswesens sei nicht das Geld, sondern die
verbreitete Ineffizienz, sagt Professor Wolter. Das System werde ausschliesslich
durch Inputs, nicht durch Outputs gesteuert. Etwas rustikaler ausgedrückt: Wir
giessen oben Geld hinein, ohne zu schauen, was unten herauskommt.
Ausgaben verdoppelt
Tatsächlich
ist in jüngerer Vergangenheit massiv in die Bildung investiert worden. Seit
1990 haben sich die Ausgaben mehr als verdoppelt: von 16,6 auf 35,4 Milliarden
Franken (2013). Dass in der Bildung gespart würde, ist ein politischer Mythos
– oder zeugt von mangelhaften mathematischen Kenntnissen. Bei den kantonalen
Sparprogrammen in der Höhe von 535 Millionen bis 2018, von denen der Tages-Anzeiger berichtet,
handelt es sich höchstens um eine Wachstumsbremse: Man will weniger ausgeben
als geplant. Effektiv gespart bei der Bildung wird deswegen noch lange nicht.
Wie die
Abbildung der indexierten Entwicklung 1990–2013 zeigt, haben sich die
Bildungsausgaben von den öffentlichen Gesamtausgaben entkoppelt. Zwischen 2000
und 2007 lief das Kostenwachstum noch parallel, ab 2008 erfolgte jedoch ein
regelrechter Wachstumssprung: Die Ausgaben für die Bildung stiegen ungefähr
doppelt so schnell an wie diejenigen der öffentlichen Ausgaben insgesamt. Wenn
nun der Anstieg gedämpft wird, hat das nichts mit bildungsfeindlicher
Sparpolitik zu tun, denn im Vergleich zu anderen Bereichen haben die Schulen
und Universitäten in den letzten Jahren überdurchschnittlich profitiert. Hier
sind Korrekturen unumgänglich. Die staatlichen Ausgaben sind auf Dauer so nicht
mehr finanzierbar, das zeigt der Vergleich mit der roten Kurve (siehe S. 16):
Das Bruttoinlandprodukt (BIP) der Schweiz humpelt den öffentlichen Ausgaben
hinterher. Der Staat wächst also schneller als die Volkswirtschaft.
Ein
Vergleich der verschiedenen Bereiche zeigt, dass die Ausgaben im Bildungswesen
sehr unterschiedlich ausfallen. Die obligatorische Schule (Schulpflicht bis
zum neunten Schuljahr) kostete im Jahr 2000 gesamthaft 10,837 Milliarden
Franken, 2013 waren es 15,443 Milliarden. Das macht ein Plus von 42,5 Prozent.
Im gleichen Zeitraum verdoppeln sich die Ausgaben für den Bereich
Sonderschulen: von 912,4 Millionen Franken auf 1893,2 Millionen (plus 107,5
Prozent). Auch die Hochschulen bekommen wesentlich mehr öffentliche Gelder:
Sie weisen einen Zuwachs von über 3 Milliarden aus (plus 65,2 Prozent) – auf
7,626 Milliarden.
Das
Gejammer der Universitäts- und ETH-Rektoren lässt sich also kaum rechtfertigen,
zumal der Bereich Forschung und Entwicklung regelrecht vergoldet wurde: Er
stieg von 722,8 Millionen (2000) auf 3658,7 Millionen (2013), was einem Plus
von 406,2 Prozent entspricht. Dass die Leistungen der Hochschulen im gleichen
Zeitraum ebenfalls viermal besser wurden, darf bezweifelt werden. Bei den
Pisa-Studien schneidet die Schweiz zwar gut ab, aber die Spitzenplätze bleiben
anderen, vornehmlich asiatischen Staaten vorbehalten – obschon kein anderes
Land pro Kopf mehr Geld für die Bildung ausgibt als die Eidgenossenschaft
(siehe oben, Tabelle: «Vergleich öffentliche Bildungsausgaben»).
Finanzieller Bildungsgraben
Diese
Zahlen sind umso bemerkenswerter, wenn sie mit dem Bereich Berufsbildung
verglichen werden. Hier fiel das Wachstum merklich tiefer aus. Die Ausgaben für
die berufliche Grundbildung wuchsen seit 2000 um 22,2 Prozent auf total 3518,3
Millionen, diejenigen für die höhere Berufsbildung um lediglich 10,9 Millionen
auf 349,9 Millionen (plus 3,1 Prozent). Dieser finanzielle Bildungsgraben ist
aus zwei Gründen aufschlussreich. Dass die Kosten insgesamt relativ moderat
blieben, hat damit zu tun, dass die Berufsverbände die Ausbildung
mitorganisieren und mitfinanzieren. Die positive Nähe zur Berufswelt zeigt sich
auch darin, dass der kostentreibende Reformeifer, wie ihn die obligatorische
Schule erlebt, mehr oder weniger aussen vor geblieben ist.
Rund zwei
Drittel der jungen Leute in der Schweiz beginnen nach ihrer obligatorischen
Schulzeit eine berufliche Grundbildung. Ein Erfolgsmodell. Das duale
Berufsbildungssystem (Mittelschule/Hochschule und Weg über die berufliche
Ausbildung) ist die Stütze des schweizerischen Jobwunders und der
vergleichsweise tiefen Jugendarbeitslosigkeit. Politiker aller Parteien werden
nicht müde, die Vorzüge vor allem der praxisorientierten Berufsbildung
hervorzuheben. Das war allerdings nicht immer so. Bis vor zehn, fünfzehn
Jahren war es Mode, im Verbund mit der OECD die vergleichsweise tiefe
Maturitätsquote zu kritisieren. Grundtenor: Die Schweiz verpasse den Anschluss
an die komplexen Anforderungen der modernen Berufswelt. Tatsächlich aber bilden
die gutausgebildeten Berufsleute nach wie vor das Fundament des auch
international erfolgreichen Werkplatzes – bei vergleichsweise tief gebliebenen
Kosten.
Ein
genauerer Blick auf die unterschiedlichen Ausgabenfelder zeigt, dass es auch
innerhalb der obligatorischen Bildung grosse Unterschiede beim Wachstum gibt.
So sind die Löhne für die Lehrpersonen in den letzten zwei Jahrzehnten
prozentual weniger stark gewachsen als das Total der Bildungsausgaben.
Überdurchschnittlich zugenommen haben hingegen die Sachausgaben sowie die
Löhne für das «übrige Personal» – Letztere um mehr als fünfzig Prozentpunkte
gegenüber den Lehrerlöhnen. Vor allem die Bildungsbürokratie und das die
Schulen umgebende Zusatzgewerbe – Berater, Therapeuten, Sonderpädagogen et
cetera – sind für die gestiegenen Bildungskosten verantwortlich.
Wildwuchs bei den Spezialisten
Der
Reformeifer ist der Kostentreiber Nummer eins. An vorderster Stelle ist das
integrative Schulmodell zu nennen, das vom behinderten, lernschwachen,
fremdsprachigen bis zum verhaltensauffälligen Kind mit oder ohne
Migrationshintergrund alle in eine Regelklasse packen will. Für die Schulen
heisst das mehr Betreuung und zusätzliche Lehrpersonen wie Schulsozialarbeiter,
Psychologen, Heilpädagogen. Letztere verdienen etwa gleich viel wie eine
Sekundarlehrperson, auch wenn sie in der Primarschule eingesetzt werden. Obwohl
mit dem integrativen Schulmodell viele Kinder, die vorher in einer
Sonderschuleinrichtung betreut wurden, neu in der Regelklasse «integriert»
werden, sind die Kosten nicht gesunken. Im Gegenteil: Sie haben sich seit dem
Jahr 2000 von 912,2 auf 1748,9 Millionen Franken (2013) verdoppelt.
An der
Lehrerbasis sieht man den Personalwildwuchs durchaus kritisch, es gebe zu viele
Spezialisten (schulpsychologischer Dienst, schulische Heilpädagogen,
Fachlehrpersonen, Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache), die sich oft
gegenseitig Arbeit verschafften. «Wenn man vor allem bei den Kleineren mehr
Zeit hätte und als Klassenlehrperson eine Beziehung zu den Schülern aufbauen
könnte, würden gewisse Probleme und Schwächen abgefedert, statt dass sie nachher
an die diversen Spezialisten ausgelagert werden müssten», so ein langjähriger
Lehrer.
Aber auch
sonst würden Hochschulpädagogen und Bildungsbürokraten, die selber gar nicht
unterrichten, aber in den Ämtern, an den pädagogischen Hochschulen oder in der
Schulleitung ihre Ideen ausbrüten, für unnötigen Aufwand sorgen:
millionenteure, aber wenig praxistaugliche Lehrpläne wie der Lehrplan 21,
ständig wechselnde Lehrmittel (die «alten» müssen entsorgt werden) samt aufwendigen
Einführungen, aufgebauschte Schulleitungsmodelle (früher gab es ein
Schulsekretariat), teure externe Evaluationen zur Qualitätssicherung, die
Anschaffung kurzlebiger elektronischer Hilfsmittel (Beamer, Presenter,
PC-Netzwerke, elektronische Wandtafeln), die bald schon überholt sind oder gar
nicht den Mehrwert bringen, der ihre Anschaffung rechtfertigte, oder
übertrieben aufwendige Schulprojekte mit externen Fachpersonen (zum Beispiel
Schultheater).
Ein
wesentlicher Teil der Ressourcen wird so der eigentlichen Bildung und
Ausbildung entzogen. Der Moloch Bildung frisst seine eigenen Kinder. Lehrer an
der Basis klagen seit längerem darüber, sie hätten für das eigentliche
Kerngeschäft – das Unterrichten – immer weniger Zeit. Der Verwaltungs- und
Koordinationsaufwand wachse: durch ständig neue und teilweise zweifelhafte
Reformen, Sitzungen, Evaluationen, Teamanlässe, Organisationsfragen.
Zu Buche
schlagen auch diverse Schulversuche, wie sich am Beispiel des Kantons Bern
zeigen lässt. In den letzten Jahren wurden dort 600 000 Franken «für Erfahrungssammlung
im Bereich der notenfreien Beurteilung» ausgegeben (2002–2014), 208 000 Franken
für den Schulversuch «Hochbegabte II» (2005–2008), 8,4 Millionen Franken für
den Schulversuch Basisstufe (2004–2013) und 900 000 Franken für
«Erfahrungssammlung für die neue Unterrichtsart im Kindergarten bis 2.
Schuljahr» (2005–2013). Bis 2019 gibt der Kanton Bern, der mit über einer
Milliarde Franken aus dem kantonalen Finanzausgleich alimentiert wird, zudem
mehr als eine halbe Million Franken für den Schulversuch «Teams für starke
Lern- und Lehrbeziehungen» aus.
Ähnliche
Versuche wie den letztgenannten gibt es auch in anderen Kantonen. Sie führen
unfreiwillig den Reformeifer ad absurdum: Denn ihr Ziel ist es, die Anzahl
Lehrpersonen an den einzelnen Klassen wieder zu reduzieren. Nachdem die
bisherigen Reformen quasi durchs Band zu einer Aufblähung des Lehrapparats
geführt haben, will man nun «Erfahrungen» sammeln mit Klassen, die wieder weniger
Personal ausgesetzt sind – zum Nutzen der Schüler.
Grosszügig
wird auch in Bauten und Beton investiert, etwa im Fachhochschulbereich, wo in
den letzten Jahren regelrechte Bildungstempel entstanden sind. Zusätzlich
belasten Folgekosten die Staatskassen, die oft nicht ausgewiesen seien, wie der
Bieler Lehrer und Bildungspolitiker Alain Pichard (GLP) kritisiert. Würden etwa
Mittagstische eingeführt, werde oft verschwiegen, dass dies massive bauliche
Massnahmen zur Folge habe. Oder eine neue Sprachdidaktik: Da kämen auch
IT-Kosten dazu. Ins Geld gingen zudem fragwürdige Reformen wie die Einführung
des Frühfranzösisch und des Frühenglisch, deren Nutzen in verschiedenen
Studien gleich null war. Allein im Kanton Bern, so schätzt Pichard, verursache
die Einführung von Frühfranzösisch Kosten von sechzig Millionen Franken.
Fazit:
Das Klagelied vom Bildungsabbau ist verfehlt. Denn erstens hat ein solcher gar
nicht stattgefunden, im Gegenteil: Die Bildungskosten sind stark gestiegen.
Zweitens wird viel Geld für unsinnige Projekte ausgegeben, die gar nicht den
Schülern und Studenten und deren Bildung und Ausbildung zukommen. Es besteht
also echtes Sparpotenzial.
Sparpotenzial Klassengrössen
Eine
lineare Kürzung mit der Rasenmäher-Methode – etwa bei den Lektionen – sei
falsch, sagt Mathias Binswanger, Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule
Nordwestschweiz. Es gebe aber durchaus Möglichkeiten, und in gewissen Bereichen
hätte das Sparen sogar positive Effekte auf die Bildung. Als Beispiele nennt
Binswanger die ausufernde Sonderpädagogik, die bürokratischen Abläufe, welche
die Lehrer vom Unterrichten abhielten und die Kosten in die Höhe trieben, oder
die Akademisierung verschiedener Bildungsbereiche, die ebenfalls zu massiven
Kostenschüben geführt habe.
Ein
einfaches Sparmodell bringt der eingangs zitierte Bildungsökonom Stefan Wolter
in die Debatte ein: Würden die Klassen um lediglich einen Schüler erhöht,
könnte das Schweizer Bildungswesen auf einen Schlag 500 Millionen Franken
einsparen. Die Diskussion ist eröffnet, auch wenn die Profiteure des aus
Steuergeldern finanzierten Bildungsbooms sie am liebsten unterbinden würden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen