3. Februar 2016

Kritisches Kollegium

Die Lehrerschaft an den Baselbieter Sekundarschulen weiss nicht, wohin die Reformprozesse führen – und sieht sich von neuen Sparvorgaben herausgefordert, obwohl die umstrittenen Reformen zusätzliche finanzielle Mittel erfordern. Viele Lehrkräfte sind nicht überzeugt, dass die Mittel für die vielen Reformen auch eine Investition in eine bessere schulische Förderung der Kinder und Jugendlichen sind. Eine grosse Verunsicherung prägt das Schulklima, wie ein Augenschein vor Ort in Therwil zeigt.













Im Therwiler Lehrerzimmer herrscht Skepsis gegenüber den Reformen, Bild: Florian Bärtschiger
Baustellen und Reformen ohne Ende, Basler Zeitung, 3.2. von Thomas Dähler


Nicht nur der Lehrplan ist ein «Übergangslehrplan», die Lehrerschaft müht sich zurzeit mit Reformen, Zusatzausbildungen und Sparmassnahmen ab. Daran ändern auch der «Marschhalt» der Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion (BKSD) und die zur Überprüfung der Reformen eingesetzte Arbeitsgruppe nichts. Von Planungssicherheit kann zurzeit keine Rede sein.

Zu wenig Zeit für den Unterricht
Auch die kürzlich per Fragebogen eingeleitete Umfrage der neuen Bildungsdirektorin Monica Gschwind erntet an den Sekundarschulen Skepsis. «Gesucht: Erfahrungen, Wissen, Meinungen» ist das Schreiben der Bildungs- Kultur- und Sportdirektion überschrieben. «Erfahrungen und Meinungen sind nicht in wenigen Zeilen mitteilbar», sagt René Suter, erfahrener Sekundarlehrer in Therwil. Er hat schulintern einen ganze sieben Seiten langen kritischen Erfahrungsbericht verfasst – mit allen Baustellen, Reformen, Neuentwicklungen und Herausforderungen des Schulalltags – und ist im Lehrerkollegium reihenweise auf Zustimmung gestossen.

Die Lehrerschaft ist seit Längerem und ohne absehbares Ende mit derart vielen Umbrüchen konfrontiert, dass ihre eigentliche Aufgabe im Schulunter­richt damit erheblich beeinträchtigt ist. Für die Kernaufgabe der Lehrerinnen und Lehrer bleibt deswegen schlicht zu wenig Zeit. Suter: «Wo in der Regierung und im Landrat sind die Personen, welche noch das Ganze überschauen und welche statt den immer grösser werdenden Flickenteppich eine Sinn stiftende Bildungsphilosophie zum Wohle der Jugendlichen zu vermitteln vermögen?»

Lehrer als Verschleissartikel
Die grösste Sorge, mit der sich in Therwil Schulleiter Jürg Lauener konfrontiert sieht, betrifft die Klassengrössen. Sollten die Sparvorgaben der Kantonsregierung dazu führen, dass die gesetzlich festgelegten Limiten stärker ausgereizt werden, sei fraglich, ob die Betreuung der Schüler noch im notwendigen Umfang geleistet werden könne. Lehrerkollege Suter befürchtet vor allem, dass die Klassen des A-Niveaus darunter leiden. Mit grösseren Klassen werde in Kauf genommen, dass die individuelle Betreuung nur noch in kleinerem Umfang möglich ist. Dies senke das Bildungsniveau und führe zu Problemen in den Klassen – und dies erst noch zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Kaum hat die ehemalige Realschule einigermassen verdaut, dass sie nun als Niveau A in die Sekundarschule integriert ist, sind die Schulen nun mit dem eingeleiteten Wechsel zu neu sechs Primarschuljahren und nur noch drei Sekundarschuljahren konfrontiert. Und nun droht neuerdings auch noch, dass bestehende Klassen aufgehoben werden, damit aus Spargründen die noch zulässigen Klassengrössen ausgereizt werden.

Für Unsicherheiten sorgen auch Fragen rund um die Integration von Schülerinnen und Schülern, die wegen Lern- oder Verhaltensproblemen mehr Aufmerksamkeit brauchen als andere. Die Mittel für eine spezielle Förderung sind zwar vorhanden, doch ist nicht zu übersehen, dass die zusätzliche Belastung für alle Lehrerinnen und Lehrer deutlich höher ist. Zudem müssen die Lehrkräfte in praktischen Fächern wie Sport, Werken oder Hauswirtschaft meistens ohne zusätzliche Unterstützung im Unterricht auskommen. Suter spricht vom «Verschleissartikel Lehrer». Zum Kontext gehöre, «dass nicht alle Lehrkräfte Superlehrkräfte sind und dass eher wenige die zusätzliche Belastung ein Berufsleben lang durchhalten». Integration gelinge nur dort, wo die Beziehung zwischen betroffenem Kind, Schulklasse, Elternhaus und Lehrkraft günstig verlaufe.

Sorgen macht sich die Lehrerschaft beim Französischunterricht. Die ersten Schülerinnen und Schüler, die mit Frühfranzösisch und dem Projekt Passepartout gross geworden sind, würden jetzt die Sekundarschule erreichen. Die Lehrkräfte müssten sich mit dem neuen Lehrmittel auseinandersetzen und Weiterbildungskurse besuchen – um dann in der eigenen Schule festzustellen, dass vieles gar nicht umsetzbar sei. So setze das Projekt voraus, dass die Schüler einen Computer benützen könnten. Doch diese existierten in der Schule nicht in der erforderlichen Anzahl, wie Schulleiter Lauener erklärt.

Unsicherheit schaffen auch der Übergangslehrplan und die Übergangsstundentafel. Diese wurden gerade erst publiziert. Doch wohin diese führen, ist unklar. Es handelt sich um einen Kompromiss zwischen dem alten Lehrplan und dem neuen gesamtschweizerischen Lehrplan 21. Ob dieser aber überhaupt je eingeführt wird, ist offen, denn dazu sind Volksentscheide hängig. Immerhin: Vor dem Lehrplan 21 fürchten sich die Lehrerinnen und Lehrer in Therwil nicht, denn die Bildungsdirektion hat zugesichert, dass sie ihn anpasst und eine Differenzierung nach den drei verschiedenen Niveaus der Sekundarschule vornehmen wird.

Kommen die Sammelfächer?
Völlig offen ist, wie die Zukunft für die Sekundarlehrerinnen und Sekundarlehrer aussieht, die Geografie, Geschichte, Chemie, Biologie, Physik oder Hauswirtschaft unterrichten. Im Lehrplan 21 werden diese Fächer in die neuen Sammelfächer überführt. In Chemie, Biologie und Physik werden Weiterbildungskurse für die Sekundarlehrkräfte angeboten, damit sie mit abgekürzten Zusatzausbildungen die ihnen fehlenden Fächer nachholen könnten. In Geografie und Geschichte gebe es noch keine solche Möglichkeit. Und wer weiss: Vielleicht sei ohnehin alles vergeblich. Das Volk entscheidet im Baselbiet, ob die Sammelfächer, wie im Lehrplan 21 stipuliert, überhaupt eingeführt werden.

Für viel Aufregung sorgen die sportlichen Schulaktivitäten und die Schul­lager. Nach mehreren Medienberichten über Schulunfälle habe ihre Schule sich vor zwei Jahren in Liestal nach der rechtlichen Absicherung erkundigt – und ein mittleres Erdbeben ausgelöst. Lange blieb völlig unklar, ob die Schulklassen überhaupt noch im bisherigen Rahmen Velo fahren, eislaufen oder schwimmen dürften. Unterdessen ist klar, dass das einst abgegebene Papier nur eine Empfehlung war.

Kein Rechtsschutz
Suter hätte aber eigentlich erwartet, dass der Kanton eine Versicherung abgibt, welche die Lehrkräfte in ihrem Tun schützt, solange sie nicht fahrlässig handelten – mit einem Rechtsschutz zum Beispiel auch gegen juristische Forderungen von Eltern. Immerhin scheint unterdessen klar, dass die Bildungs­direktion die Schullager weiterführen will. Vermutlich werde aber erwartet, dass Lehrerinnen und Lehrer mit Teilpensen einen Teil ihrer Arbeit in den Schullagern gratis leisteten und zusätzlich geforderte Begleitpersonen mit einem «Trinkgeld» zufrieden seien. Suter sagt zudem, unterstützt von mehreren Kollegen: «Zudem ist in der Bevölkerung auch nicht bekannt, wie viel Steuergeld einerseits all die Reformen bereits verschlungen haben, und andererseits gerade die Sekundarlehrkräfte de facto nach diversen Sparmassnahmen zwei Jahre mehr Lebensarbeitszeit gratis beisteuern müssen – wegen der Erhöhung der Pflichtstundenzahl und der Lohnkürzung.»

Für Unmut sorgt in der Lehrerschaft auch die Bürokratie. Berichte, Dokumentation der Jahresarbeitszeit und vieles mehr. Suter meint dazu nur: «Was wäre eigentlich, wenn Lehrkräfte der Schulleitung eines Tages mit Bedauern mitteilten, ihre Jahresarbeitszeit sei leider ausgeschöpft, sie könnten jetzt ihre Klassenlehrerfunktion nicht weiter erfüllen oder müssten das Skilager oder das Sommerlager absagen?»


Das Lehrerkollegium in der Sekundarschule Therwil hofft jetzt einfach, dass unter der neuen Bildungsdirektion alle Reformen und Neuerungen vorab hinterfragt werden. Suter: «Wird damit die Qualität verbessert? Sind die Ressourcen dafür vorhanden? Werden die Steuergelder dafür effizient eingesetzt?» Vor allem aber möchten die Lehrerinnen und Lehrer in der Sekundarschule Therwil, dass Reformen nur gestartet werden sollten, wenn sie sinnvoll sind und dem Wohl der Jugend­lichen in ihrer Schule dienen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen