Die Lehrerschaft an den
Baselbieter Sekundarschulen weiss nicht, wohin die Reformprozesse führen –
und sieht sich von neuen Sparvorgaben herausgefordert, obwohl die umstrittenen Reformen
zusätzliche finanzielle Mittel erfordern. Viele Lehrkräfte sind nicht
überzeugt, dass die Mittel für die vielen Reformen auch eine Investition in
eine bessere schulische Förderung der Kinder und Jugendlichen sind. Eine grosse
Verunsicherung prägt das Schulklima, wie ein Augenschein vor Ort in Therwil
zeigt.
Im Therwiler Lehrerzimmer herrscht Skepsis gegenüber den Reformen, Bild: Florian Bärtschiger
Baustellen und Reformen ohne Ende, Basler Zeitung, 3.2. von Thomas Dähler
Nicht nur der Lehrplan ist
ein «Übergangslehrplan», die Lehrerschaft müht sich zurzeit mit Reformen,
Zusatzausbildungen und Sparmassnahmen ab. Daran ändern auch der «Marschhalt»
der Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion (BKSD) und die zur Überprüfung der
Reformen eingesetzte Arbeitsgruppe nichts. Von Planungssicherheit kann zurzeit
keine Rede sein.
Zu wenig Zeit für den
Unterricht
Auch die kürzlich per
Fragebogen eingeleitete Umfrage der neuen Bildungsdirektorin Monica Gschwind
erntet an den Sekundarschulen Skepsis. «Gesucht: Erfahrungen, Wissen,
Meinungen» ist das Schreiben der Bildungs- Kultur- und Sportdirektion
überschrieben. «Erfahrungen und Meinungen sind nicht in wenigen Zeilen
mitteilbar», sagt René Suter, erfahrener Sekundarlehrer in Therwil. Er hat
schulintern einen ganze sieben Seiten langen kritischen Erfahrungsbericht
verfasst – mit allen Baustellen, Reformen, Neuentwicklungen und
Herausforderungen des Schulalltags – und ist im Lehrerkollegium
reihenweise auf Zustimmung gestossen.
Die Lehrerschaft ist seit
Längerem und ohne absehbares Ende mit derart vielen Umbrüchen konfrontiert,
dass ihre eigentliche Aufgabe im Schulunterricht damit erheblich
beeinträchtigt ist. Für die Kernaufgabe der Lehrerinnen und Lehrer bleibt
deswegen schlicht zu wenig Zeit. Suter: «Wo in der Regierung und im Landrat
sind die Personen, welche noch das Ganze überschauen und welche statt den immer
grösser werdenden Flickenteppich eine Sinn stiftende Bildungsphilosophie zum
Wohle der Jugendlichen zu vermitteln vermögen?»
Lehrer als
Verschleissartikel
Die grösste Sorge, mit der
sich in Therwil Schulleiter Jürg Lauener konfrontiert sieht, betrifft die
Klassengrössen. Sollten die Sparvorgaben der Kantonsregierung dazu führen, dass
die gesetzlich festgelegten Limiten stärker ausgereizt werden, sei fraglich, ob
die Betreuung der Schüler noch im notwendigen Umfang geleistet werden könne.
Lehrerkollege Suter befürchtet vor allem, dass die Klassen des A-Niveaus
darunter leiden. Mit grösseren Klassen werde in Kauf genommen, dass die
individuelle Betreuung nur noch in kleinerem Umfang möglich ist. Dies senke das
Bildungsniveau und führe zu Problemen in den Klassen – und dies erst noch
zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Kaum hat die ehemalige Realschule
einigermassen verdaut, dass sie nun als Niveau A in die Sekundarschule
integriert ist, sind die Schulen nun mit dem eingeleiteten Wechsel zu neu sechs
Primarschuljahren und nur noch drei Sekundarschuljahren konfrontiert. Und nun
droht neuerdings auch noch, dass bestehende Klassen aufgehoben werden, damit
aus Spargründen die noch zulässigen Klassengrössen ausgereizt werden.
Für Unsicherheiten sorgen
auch Fragen rund um die Integration von Schülerinnen und Schülern, die wegen Lern-
oder Verhaltensproblemen mehr Aufmerksamkeit brauchen als andere. Die Mittel
für eine spezielle Förderung sind zwar vorhanden, doch ist nicht zu übersehen,
dass die zusätzliche Belastung für alle Lehrerinnen und Lehrer deutlich höher
ist. Zudem müssen die Lehrkräfte in praktischen Fächern wie Sport, Werken oder
Hauswirtschaft meistens ohne zusätzliche Unterstützung im Unterricht auskommen.
Suter spricht vom «Verschleissartikel Lehrer». Zum Kontext gehöre, «dass nicht
alle Lehrkräfte Superlehrkräfte sind und dass eher wenige die zusätzliche
Belastung ein Berufsleben lang durchhalten». Integration gelinge nur dort, wo
die Beziehung zwischen betroffenem Kind, Schulklasse, Elternhaus und Lehrkraft
günstig verlaufe.
Sorgen macht sich die
Lehrerschaft beim Französischunterricht. Die ersten Schülerinnen und Schüler,
die mit Frühfranzösisch und dem Projekt Passepartout gross geworden sind,
würden jetzt die Sekundarschule erreichen. Die Lehrkräfte müssten sich mit dem
neuen Lehrmittel auseinandersetzen und Weiterbildungskurse besuchen – um
dann in der eigenen Schule festzustellen, dass vieles gar nicht umsetzbar sei.
So setze das Projekt voraus, dass die Schüler einen Computer benützen könnten.
Doch diese existierten in der Schule nicht in der erforderlichen Anzahl, wie
Schulleiter Lauener erklärt.
Unsicherheit schaffen auch
der Übergangslehrplan und die Übergangsstundentafel. Diese wurden gerade erst
publiziert. Doch wohin diese führen, ist unklar. Es handelt sich um einen
Kompromiss zwischen dem alten Lehrplan und dem neuen gesamtschweizerischen
Lehrplan 21. Ob dieser aber überhaupt je eingeführt wird, ist offen, denn
dazu sind Volksentscheide hängig. Immerhin: Vor dem Lehrplan 21 fürchten sich
die Lehrerinnen und Lehrer in Therwil nicht, denn die Bildungsdirektion hat
zugesichert, dass sie ihn anpasst und eine Differenzierung nach den drei
verschiedenen Niveaus der Sekundarschule vornehmen wird.
Kommen die Sammelfächer?
Völlig offen ist, wie die
Zukunft für die Sekundarlehrerinnen und Sekundarlehrer aussieht, die Geografie,
Geschichte, Chemie, Biologie, Physik oder Hauswirtschaft unterrichten. Im
Lehrplan 21 werden diese Fächer in die neuen Sammelfächer überführt. In
Chemie, Biologie und Physik werden Weiterbildungskurse für die
Sekundarlehrkräfte angeboten, damit sie mit abgekürzten Zusatzausbildungen die
ihnen fehlenden Fächer nachholen könnten. In Geografie und Geschichte gebe es
noch keine solche Möglichkeit. Und wer weiss: Vielleicht sei ohnehin alles
vergeblich. Das Volk entscheidet im Baselbiet, ob die Sammelfächer, wie im
Lehrplan 21 stipuliert, überhaupt eingeführt werden.
Für viel Aufregung sorgen
die sportlichen Schulaktivitäten und die Schullager. Nach mehreren
Medienberichten über Schulunfälle habe ihre Schule sich vor zwei Jahren in
Liestal nach der rechtlichen Absicherung erkundigt – und ein mittleres
Erdbeben ausgelöst. Lange blieb völlig unklar, ob die Schulklassen überhaupt
noch im bisherigen Rahmen Velo fahren, eislaufen oder schwimmen dürften.
Unterdessen ist klar, dass das einst abgegebene Papier nur eine Empfehlung war.
Kein Rechtsschutz
Suter hätte aber
eigentlich erwartet, dass der Kanton eine Versicherung abgibt, welche die
Lehrkräfte in ihrem Tun schützt, solange sie nicht fahrlässig handelten –
mit einem Rechtsschutz zum Beispiel auch gegen juristische Forderungen von
Eltern. Immerhin scheint unterdessen klar, dass die Bildungsdirektion die
Schullager weiterführen will. Vermutlich werde aber erwartet, dass Lehrerinnen
und Lehrer mit Teilpensen einen Teil ihrer Arbeit in den Schullagern gratis
leisteten und zusätzlich geforderte Begleitpersonen mit einem «Trinkgeld»
zufrieden seien. Suter sagt zudem, unterstützt von mehreren Kollegen: «Zudem
ist in der Bevölkerung auch nicht bekannt, wie viel Steuergeld einerseits all
die Reformen bereits verschlungen haben, und andererseits gerade die
Sekundarlehrkräfte de facto nach diversen Sparmassnahmen zwei Jahre mehr
Lebensarbeitszeit gratis beisteuern müssen – wegen der Erhöhung der
Pflichtstundenzahl und der Lohnkürzung.»
Für Unmut sorgt in der
Lehrerschaft auch die Bürokratie. Berichte, Dokumentation der Jahresarbeitszeit
und vieles mehr. Suter meint dazu nur: «Was wäre eigentlich, wenn Lehrkräfte
der Schulleitung eines Tages mit Bedauern mitteilten, ihre Jahresarbeitszeit
sei leider ausgeschöpft, sie könnten jetzt ihre Klassenlehrerfunktion nicht
weiter erfüllen oder müssten das Skilager oder das Sommerlager absagen?»
Das Lehrerkollegium in der
Sekundarschule Therwil hofft jetzt einfach, dass unter der neuen
Bildungsdirektion alle Reformen und Neuerungen vorab hinterfragt werden. Suter:
«Wird damit die Qualität verbessert? Sind die Ressourcen dafür vorhanden?
Werden die Steuergelder dafür effizient eingesetzt?» Vor allem aber möchten die
Lehrerinnen und Lehrer in der Sekundarschule Therwil, dass Reformen nur
gestartet werden sollten, wenn sie sinnvoll sind und dem Wohl der Jugendlichen
in ihrer Schule dienen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen