Die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg stellt viele Lehrer vor neue Herausforderungen. Sind wir in der Schweiz bald auch so weit?
Im Lernbüro: Unterricht in einer Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg, Bild: Peter Frischmuth
Lehrer wie Dompteure im Zirkus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.2. von Heike Schmoll
Der
Lehrer hat kapituliert vor der Disziplinlosigkeit seiner Schüler. Nach einem
Nervenzusammenbruch im Unterricht ist er krankgeschrieben. Der ausgebildete und
erfahrene Gymnasiallehrer mit drei Unterrichtsfächern war zuletzt an einer
Gemeinschaftsschule in BadenWürttemberg eingesetzt. „Im Grunde sind wir
Dompteure in einem Zirkus, der sich Gemeinschaftsschule nennt, dessen Tiere
aber noch lange nicht bereit sind für die Manege, noch nicht gezähmt“,
berichtet der Lehrer, dem man keine Fortbildung oder Einführung in die neue
Arbeitsweise angeboten hatte.
Allein
ist der Lehrer mit seinem Scheitern nicht, es gibt nicht wenige Kollegen, die
sich in der neuen Schulform überfordert fühlen. „Ich bin doch kein Psychologe,
kein Therapeut, kein Logopäde, kein Förderschullehrer, kein Horterzieher, ich
will einfach nur unterrichten, altersgerecht lehren, Wissen vermitteln“,
berichtet er. Kleine Brötchen solle er backen, wurde ihm von der Schulleitung
gesagt, nicht überfordern, „daran denken, dass es Hauptschüler sind und ich
nicht so viel von ihnen erwarten dürfe, wie ich es bisher als Gymnasiallehrer
gewohnt war“.
Im
Landesdurchschnitt besuchen etwa zehn Prozent Grundschüler mit einer Gymnasialempfehlung
eine Gemeinschaftsschule, es gibt aber auch den ein oder anderen
Schulamtsbezirk mit nicht einmal sieben Prozent Schülern, denen die Grundschule
den Besuch eines Gymnasiums empfohlen hat. Das Kultusministerium verweist nach
einer Anfrage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf die Verantwortung der
Schulleitung, die darüber entscheidet, ob ein Lehrer der Fortbildung bedarf.
Jedenfalls stünden qualifizierte Fachberatertandems zur Begleitung der Schul-
und Unterrichtsentwicklung zur Verfügung.
Resignation macht sich breit
Als
„Lernbegleiter“, erzählt eine Hauptschullehrerin an einer Gemeinschaftsschule,
unterrichte sie an ihrer Schule zwar die „alte Hauptschulklientel“, müsse nun
aber in vier verschiedenen Niveaustufen (Gymnasial, Realschul, Hauptschul
und Förderschulniveau) Aufgaben bereitstellen, um alle Kinder gleich gut beim
Lernen zu begleiten. „Diese Herkulesaufgabe ist aber aus meiner Sicht nicht zu
bewerkstelligen“. Die Darstellung der Lehrerin gleicht den Erfahrungen der
meisten Gemeinschaftsschullehrer, die mit der F.A.Z. über ihre Arbeit
gesprochen haben. Allesamt Lehrer, die guten Willens und hoch motiviert sind,
sich von den neuen Unterrichtsformen und dem Ganztagsbetrieb aber zermürbt
fühlen.
Anhaltspunkte
dafür bietet auch die soeben vorgestellte Kurzfassung des Abschlussberichts der
wissenschaftlichen Begleitforschung. Der Leiter der Studie, der Tübinger
Bildungswissenschaftler Thorsten Bohl, hat deshalb weniger Pflichtstunden
(Deputat) und mehr Personal verlangt, „um Leistungsunterschiede abzubauen und
die große Belastung der Lehrer zu senken“, was Kultusminister Andreas Stoch
(SPD) umgehend ablehnte, zumal die Gemeinschaftsschule schon über eine
ungewöhnlich gute Ausstattung verfügt und bei der Lehrerzuweisung bevorzugt
wird. Das Kultusministerium erinnert daran, dass das Anbieten verschiedener Niveaus
zu den Grundelementen der Gemeinschaftsschule gehöre, und gibt zu bedenken,
dass auch Schüler mit einer Empfehlung für die Werkrealschule oder Hauptschule
von Anfang an in einzelnen Fächern auf dem mittleren oder erweiterten Niveau
lernten oder es nach gewisser Zeit erreichen könnten.
Ministerium verspricht Verbesserung
In
Gemeinschaftsschulen, deren Kollegien und Schulleitungen an einem Strang ziehen
und versuchen, die besten Lernumgebungen zu schaffen, treffen sich junge
engagierte Lehrer häufig noch abends in ihrer Freizeit für Teambesprechungen
und zum Erfahrungsaustausch. Viele von ihnen sind begeistert bei der Sache, das
scheint vor allem für die ersten beiden Schuljahre fünf und sechs zu gelten,
also für die Orientierungsstufe. Alle, die der F.A.Z. Auskunft gaben, wünschen
sich jedoch mehr Zeit für die Vorbereitung und auch klarere Vorgaben für die
unterschiedlichen Niveaustufen.
Das
Ministerium verweist in diesem Zusammenhang auf den Lehrplan für die
Gemeinschaftsschule, der im Herbst kommen soll. Die Anforderungen seien
präziser, die Beschreibungen der Fähigkeiten, die Schüler erreicht haben
müssten, detaillierter formuliert, heißt es in einer Stellungnahme gegenüber
der F.A.Z.. Darüber hinaus könnten die Schulen demnächst ein spezielles Computerprogramm
zur Erstellung eigener Kompetenzraster und zur Vernetzung der Schulen
untereinander nutzen. Solche Kompetenzraster beschreiben, welche Fertigkeiten
Schüler im Laufe des Lernprozesses entwickeln und ausbauen werden. Sie können
jeweils für bestimmte Lernzeiträume, aber auch für einen bestimmten Abschluss
wie die mittlere Reife definiert werden.
Der
gewaltige Zeitaufwand für die Unterrichtsvorbereitung und die individuellen
Arbeitsphasen mit Lernpaketen führen dazu, dass die sogenannten Coaching-Gespräche
über individuelle Lernfortschritte und Schwierigkeiten mit den Schülern an
manchen Schulen nur sporadisch stattfinden, zwei der untersuchten zehn Schulen
stellten die Coaching-Gespräche sogar ein, hieß es im kurzen Abschlussbericht
zur Begleitforschung.
Lehrer fürchten die Konsequenzen ihrer Kritik
Ein
Recherchebesuch an einer Gemeinschaftsschule zeigt, wie solche Coaching-Gespräche
verlaufen. Die Selbsteinschätzung der Fünftklässlerin ist erstaunlich treffend,
das Gespräch sehr offen, das Mädchen weiß genau, woran es arbeiten muss. Die
Grenzen zwischen Fachlichem und Persönlichem sind fließend. Nicht immer wird
die Rollentrennung so klar eingehalten wie an dieser Schule, an der auch
allerhöchster Wert auf Disziplin und Ruhe gelegt wird. Sobald der Klassenlehrer
auch noch Coach sein soll, funktioniert diese Gesprächsform nicht mehr, viel
Fingerspitzengefühl ist vonnöten. Das Kultusministerium bestreitet, dass die
Lehrer darauf nicht ausreichend vorbereitet sein könnten, und verweist darauf,
dass angehende Lehrer lernen, förderliche Rückmeldungen zu geben.
Bedenklich
stimmt, dass Kritik an der neuen Schulform vielerorts nicht geduldet wird.
Lehrer, die das Konzept grundsätzlich kritisierten, fühlten sich als
Nestbeschmutzer ausgegrenzt oder disziplinarrechtlich zum Schweigen gebracht.
Von den berichteten disziplinarrechtlichen Drohungen durch zuständige
Regierungspräsidien hat das Kultusministerium nach eigenen Angaben keine
Kenntnis. Viele Lehrer, die der F.A.Z. Auskunft gaben, fürchten aber um ihre Existenz,
wenn sie an die Öffentlichkeit treten. Ihre Namen und Schulorte werden hier und
im folgenden deshalb nicht genannt. Die Wahrhaftigkeit aller Erfahrungsberichte
ist eidesstattlich versichert worden. Nicht nur Gymnasiallehrer, die an der
Gemeinschaftsschule besonders dringend gebraucht werden, sind unzufrieden, das
gilt auch für Haupt- und Realschullehrer, die einem Gespräch zugestimmt
hatten.
Gymnasiallehrer werden fachfremd eingesetzt
Die
Gymnasiallehrer haben darüber hinaus geringe Chancen, je wieder vor einer
Gymnasialklasse zu stehen, es sei denn, ihr Versetzungsantrag wird positiv
beschieden. Einige von ihnen haben eine Erklärung unterschrieben, in der es
heißt, „dass mit der Annahme der Stelle eine Mindestverweildauer von fünf
Jahren an dieser Schule verbunden ist, wir von einem dauerhaften Einsatz an der
neuen Schulart Gemeinschaftsschule ausgehen und ein Wechsel an ein Gymnasium
später nur noch auf dem Wege der Versetzung möglich ist“.
Das
Kultusministerium bekräftigt, dass dies bei allen Schularten und bei allen
Einstellungsverfahren praktiziert werde, und verweist auf das Bedürfnis nach
Unterrichts- und Personalkontinuität. Zudem sei davon auszugehen, dass sich
die Bewerber für eine Gemeinschaftsschule bewusst für diese Schulart
entscheiden. Nach Ablauf der Mindestverweildauer könnten die Lehrkräfte einen
Versetzungsantrag stellen, hierfür brauchten sie „die Freigabe der abgebenden
Schulart, wie an beruflichen Schulen auch“, so heißt es in der Stellungnahme
aus Stuttgart.
Eine
andere Gymnasiallehrerin an einer Gemeinschaftsschule berichtet, an ihrer
Schule sei fachfremder Unterricht „eine Selbstverständlichkeit“. Das werde
immer damit begründet, „dass Grund- und Hauptschullehrer ja schon immer
fachfremd unterrichtet haben“. Das Kultusministerium verweist darauf, dass die
Schulleitungen von fachfremdem Unterricht nur dann Gebrauch machten, wenn sie
keine entsprechenden Fachlehrer hätten. Die Schulleiter stellten aber sicher,
dass der fachfremd eingesetzte Lehrer „den Unterricht fachlich qualitätsvoll
umsetzen kann“, was durch kollegialen Austausch in der Fachschaft gesichert
werde. Auch an Realschulen werde fachfremder Unterricht erteilt, so das
Ministerium.
Niveauunterschiede treten offen zutage
Besonders
häufig vom fachfremden Unterricht betroffen ist die zweite Fremdsprache
Französisch, die wie im Gymnasium von der sechsten Klasse an unterrichtet
werden soll und als Wahlpflichtfach erteilt wird (an der Rheinschiene gibt es
auch Englisch als zweite Fremdsprache). Schließlich sollen die Schüler ja die
formalen Voraussetzungen erfüllen, um nach der zehnten Klasse in die gymnasiale
Oberstufe eines allgemeinbildenden Gymnasiums zu wechseln. Lehrer berichten
jedoch, dass eine Französischklasse nicht zustande kam oder nach kurzer Zeit
wieder eingestellt wurde, weil die Schüler in der fünften Klasse noch
Schwierigkeiten beim flüssigen Lesen im Deutschen hatten und mit ihrer ersten
Fremdsprache Englisch überfordert waren. Gemeinschaftsschüler hätten die
Möglichkeit, Französisch am Ende des ersten oder zweiten Schulhalbjahres der
sechsten Klasse abzuwählen und sich zu Beginn der Klassenstufe 7 für ein
anderes Wahlpflichtfach zu entscheiden, etwa „Technik und Mensch und Umwelt“,
ergänzt das Kultusministerium.
Im
einleitenden Unterrichtsgespräch im Englischunterricht einer besuchten
Gemeinschaftsschule treten die Niveauunterschiede der Schüler offen zutage.
Während eine Schülerin flüssig reden konnte, suchte ihre Nachbarin nach Worten
und konnte kaum folgen. Ein fremdsprachliches Unterrichtsgespräch war deshalb
nur partiell möglich. Was zu tun war, musste vorsichtshalber auf Deutsch
wiederholt werden, um Missverständnisse auszuschließen. Selbst der entschiedene
Befürworter der Gemeinschaftsschule, der Tübinger Schulleiter Joachim Friedrichsdorf
hat kürzlich öffentlich gesagt, die Kommunikation komme im
Fremdsprachenunterricht der Gemeinschaftsschule zu kurz, weil verstärkt mit
schriftlichen Materialien gearbeitet werden müsse, um die drei
unterschiedlichen Niveaustufen zu gewährleisten. Die Schulbuchverlage haben
längst Bücher für verschiedene Anforderungen gedruckt, die Schüler können schon
an den Farben erkennen, wo sie selbst stehen. Unter manchen Lehrern herrscht
nicht selten Ratlosigkeit, welche Fähigkeiten für welches Niveau erreicht
werden müssen. Und wie soll denn ein Hauptschullehrer eine Vorstellung von
gymnasialem Niveau haben? Ob sie alle im Herbst mit dem neuen Bildungsplan
genauer Bescheid wissen?
Schlechte Chancen für Versetzung in Oberstufe
Vielen
Eltern ist vermutlich nicht klar, dass ihre Kinder auf der Gemeinschaftsschule
kaum mit einem erfolgreichen Übergang in eine Oberstufe rechnen können, die
ohnehin nur an den wenigsten der 271 Gemeinschaftsschulen eingerichtet werden
kann. Die Anträge dafür können erst von September 2016 an von den
Gemeinschaftsschulen gestellt werden, die dann mit der neunten Klasse beginnen.
Bis zur achten Klasse einschließlich kann sich ein Schüler einer
Gemeinschaftsschule in einem Fach auf Hauptschulniveau, in einem auf Realschul-
und in einem weiteren auf Gymnasialniveau bewegen und wird auch entsprechend
bewertet. Das endet dann jedoch jäh. Nach einer Verordnung vom Sommer letzten
Jahres müssen die Leistungen in Klassenstufe 9 durchgängig in allen Fächern auf
dem Niveau der Bildungsstandards der Realschule oder des Gymnasiums liegen, um
einen dem Hauptschulabschluss gleichwertigen Bildungsstand zu haben. „Schüler,
die in Klasse 10 durchgängig in allen Fächern und Fächerverbünden ihre
Leistungen nach den Bildungsstandards des Gymnasiums erbracht haben“ und
versetzt werden könnten, „haben einen dem Realschulabschluss gleichwertigen
Bildungsstand“.
In
seiner siebten Klasse erreiche kein Gemeinschaftsschüler auch nur das mittlere,
also das Realschulniveau, berichtet ein Lehrer. Ein Gymnasiallehrer hat in
seiner fünften probeweise die Lernstandserhebung in Deutsch schreiben lassen,
die von diesem Schuljahr an ebenso verpflichtend ist wie die Vergleichsarbeiten
VERA 8 in der achten Klasse, die jedoch nicht benotet werden und auch nicht in
die Leistungsbewertung des Schülers eingehen. Solche Leistungserhebungen (VERA
8 ist ein bundesweit gültiges Verfahren) dienen dazu, die eigene Klasse mit
Parallelklassen und mit anderen Schulen im Land zu vergleichen, und sollen die
Schul- und Unterrichtsentwicklung an der jeweiligen Schule voranbringen. Sie
dienen als interne Rückmeldung.
52
Prozent seiner Fünftklässler lagen bei der Lernstandserhebung unter dem
erwarteten Niveau. Ihre Lesegeschwindigkeit bewegte sich auf dem niedrigsten
Level, auch beim Leseverständnis erreichte der weitaus größte Teil der Schüler
nur das unterste Niveau, nur eine Schülerin wies die Fähigkeiten auf, die in
der fünften Klasse eigentlich erreicht sein müssen.
Das
sind genau die Grundlagen, die für jeden späteren Abschluss zählen. Schließlich
waren Schülern und Eltern doch in Hochglanzbroschüren bessere Lernergebnisse
durch die Gemeinschaftsschule versprochen worden. Der Beweis dafür steht noch
aus. Er wird erst dann erbracht, wenn es echte Leistungsvergleiche gibt.
Solange wird die Gemeinschaftsschule im pietistisch geprägten BadenWürttemberg
weiterhin ein Glaubensobjekt bleiben. Für Kritiker gilt wie in jedem
Glaubenskampf: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich.“
Der FAZ Artikel wirft erstmals, gestützt auf die Studie der Uni Tübingen und Aussagen von „Insidern“, etwas Licht hinter die Glanzfassade der sogenannten Gemeinschaftsschule und auf die nackte Realität des „selbstgesteuerten Lernens“ (LP21 lässt grüssen!). Die Reformhits „Heterogenität“ und „Individualisierung“ sind viel zeitintensiver als der bewährte Klassenunterricht. Im Gegensatz zu den bisherigen Behauptungen haben die „Lernbegleiter“ nicht mehr Zeit, um auf das einzelne Kind eingehen zu können, im Gegenteil. Obwohl die Gemeinschaftsschule gemäss dem Kultusminister mit der ungewöhnlich guten Ausstattung und bei der Lehrerzuweisung bevorzugt wird, sind die „Lernbegleiter“ mit der Bereitstellung der Lernpakete für die individuellen Arbeitsphasen und die verschiedenen Niveaustufen zeitlich derart überfordert, dass einzelne Schulen, ihr vielgerühmtes Coaching-Gespräch mit den Schülern einstellten. Die Studie bestätigt die hohen Leistungsunterschiede und die grosse Belastung der Lehrer durch das „selbstgesteuerte Lernen“. Die „Lernbegleiter“ berichten, dass sie nicht mehr einfach nur unterrichten, altersgerecht lehren und Wissen vermitteln dürfen und fürchten sich vor den Konsequenzen ihrer Kritik. Erstmals erfährt man von „Insidern“ etwas über die schlechten Leistungen und das tiefe Niveau der Gemeinschaftsschulen.
AntwortenLöschenDie Volksinitiativen gegen den LP21 können unsere Kinder und die Lehrer vor solchen Zuständen bewahren. Dazu braucht es aber für den Abstimmungskampf mutige Lehrer und Eltern, die die Bevölkerung über die bereits spürbaren Auswirkungen der LP21-Schulversuche aufklären.