29. Februar 2016

"Ich will einfach nur unterrichten"

Die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg stellt viele Lehrer vor neue Herausforderungen. Sind wir in der Schweiz bald auch so weit? 











Im Lernbüro: Unterricht in einer Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg, Bild: Peter Frischmuth
Lehrer wie Dompteure im Zirkus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.2. von Heike Schmoll


Der Lehrer hat kapituliert vor der Disziplinlosigkeit seiner Schüler. Nach einem Nervenzusammenbruch im Unterricht ist er krankgeschrieben. Der ausgebildete und erfahrene Gymnasiallehrer mit drei Unterrichtsfächern war zuletzt an einer Gemeinschaftsschule in Baden­Württemberg eingesetzt. „Im Grunde sind wir Dompteure in einem Zirkus, der sich Gemeinschaftsschule nennt, dessen Tiere aber noch lange nicht bereit sind für die Manege, noch nicht gezähmt“, berichtet der Lehrer, dem man keine Fortbildung oder Einführung in die neue Arbeitsweise angeboten hatte.

Allein ist der Lehrer mit seinem Scheitern nicht, es gibt nicht wenige Kollegen, die sich in der neuen Schulform überfordert fühlen. „Ich bin doch kein Psychologe, kein Therapeut, kein Logopäde, kein Förderschullehrer, kein Horterzieher, ich will einfach nur unterrichten, altersgerecht lehren, Wissen vermitteln“, berichtet er. Kleine Brötchen solle er backen, wurde ihm von der Schulleitung gesagt, nicht überfordern, „daran denken, dass es Hauptschüler sind und ich nicht so viel von ihnen erwarten dürfe, wie ich es bisher als Gymnasiallehrer gewohnt war“.

Im Landesdurchschnitt besuchen etwa zehn Prozent Grundschüler mit einer Gymnasialempfehlung eine Gemeinschaftsschule, es gibt aber auch den ein oder anderen Schulamtsbezirk mit nicht einmal sieben Prozent Schülern, denen die Grundschule den Besuch eines Gymnasiums empfohlen hat. Das Kultusministerium verweist nach einer Anfrage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf die Verantwortung der Schulleitung, die darüber entscheidet, ob ein Lehrer der Fortbildung bedarf. Jedenfalls stünden qualifizierte Fachberatertandems zur Begleitung der Schul- ­ und Unterrichtsentwicklung zur Verfügung.

Resignation macht sich breit
Als „Lernbegleiter“, erzählt eine Hauptschullehrerin an einer Gemeinschaftsschule, unterrichte sie an ihrer Schule zwar die „alte Hauptschulklientel“, müsse nun aber in vier verschiedenen Niveaustufen (Gymnasial­, Realschul­, Hauptschul­ und Förderschulniveau) Aufgaben bereitstellen, um alle Kinder gleich gut beim Lernen zu begleiten. „Diese Herkulesaufgabe ist aber aus meiner Sicht nicht zu bewerkstelligen“. Die Darstellung der Lehrerin gleicht den Erfahrungen der meisten Gemeinschaftsschullehrer, die mit der F.A.Z. über ihre Arbeit gesprochen haben. Allesamt Lehrer, die guten Willens und hoch motiviert sind, sich von den neuen Unterrichtsformen und dem Ganztagsbetrieb aber zermürbt fühlen.

Anhaltspunkte dafür bietet auch die soeben vorgestellte Kurzfassung des Abschlussberichts der wissenschaftlichen Begleitforschung. Der Leiter der Studie, der Tübinger Bildungswissenschaftler Thorsten Bohl, hat deshalb weniger Pflichtstunden (Deputat) und mehr Personal verlangt, „um Leistungsunterschiede abzubauen und die große Belastung der Lehrer zu senken“, was Kultusminister Andreas Stoch (SPD) umgehend ablehnte, zumal die Gemeinschaftsschule schon über eine ungewöhnlich gute Ausstattung verfügt und bei der Lehrerzuweisung bevorzugt wird. Das Kultusministerium erinnert daran, dass das Anbieten verschiedener Niveaus zu den Grundelementen der Gemeinschaftsschule gehöre, und gibt zu bedenken, dass auch Schüler mit einer Empfehlung für die Werkrealschule oder Hauptschule von Anfang an in einzelnen Fächern auf dem mittleren oder erweiterten Niveau lernten oder es nach gewisser Zeit erreichen könnten.

Ministerium verspricht Verbesserung
In Gemeinschaftsschulen, deren Kollegien und Schulleitungen an einem Strang ziehen und versuchen, die besten Lernumgebungen zu schaffen, treffen sich junge engagierte Lehrer häufig noch abends in ihrer Freizeit für Teambesprechungen und zum Erfahrungsaustausch. Viele von ihnen sind begeistert bei der Sache, das scheint vor allem für die ersten beiden Schuljahre fünf und sechs zu gelten, also für die Orientierungsstufe. Alle, die der F.A.Z. Auskunft gaben, wünschen sich jedoch mehr Zeit für die Vorbereitung und auch klarere Vorgaben für die unterschiedlichen Niveaustufen.

Das Ministerium verweist in diesem Zusammenhang auf den Lehrplan für die Gemeinschaftsschule, der im Herbst kommen soll. Die Anforderungen seien präziser, die Beschreibungen der Fähigkeiten, die Schüler erreicht haben müssten, detaillierter formuliert, heißt es in einer Stellungnahme gegenüber der F.A.Z.. Darüber hinaus könnten die Schulen demnächst ein spezielles Computerprogramm zur Erstellung eigener Kompetenzraster und zur Vernetzung der Schulen untereinander nutzen. Solche Kompetenzraster beschreiben, welche Fertigkeiten Schüler im Laufe des Lernprozesses entwickeln und ausbauen werden. Sie können jeweils für bestimmte Lernzeiträume, aber auch für einen bestimmten Abschluss wie die mittlere Reife definiert werden.

Der gewaltige Zeitaufwand für die Unterrichtsvorbereitung und die individuellen Arbeitsphasen mit Lernpaketen führen dazu, dass die sogenannten Coaching-­Gespräche über individuelle Lernfortschritte und Schwierigkeiten mit den Schülern an manchen Schulen nur sporadisch stattfinden, zwei der untersuchten zehn Schulen stellten die Coaching-­Gespräche sogar ein, hieß es im kurzen Abschlussbericht zur Begleitforschung.

Lehrer fürchten die Konsequenzen ihrer Kritik
Ein Recherchebesuch an einer Gemeinschaftsschule zeigt, wie solche Coaching-­Gespräche verlaufen. Die Selbsteinschätzung der Fünftklässlerin ist erstaunlich treffend, das Gespräch sehr offen, das Mädchen weiß genau, woran es arbeiten muss. Die Grenzen zwischen Fachlichem und Persönlichem sind fließend. Nicht immer wird die Rollentrennung so klar eingehalten wie an dieser Schule, an der auch allerhöchster Wert auf Disziplin und Ruhe gelegt wird. Sobald der Klassenlehrer auch noch Coach sein soll, funktioniert diese Gesprächsform nicht mehr, viel Fingerspitzengefühl ist vonnöten. Das Kultusministerium bestreitet, dass die Lehrer darauf nicht ausreichend vorbereitet sein könnten, und verweist darauf, dass angehende Lehrer lernen, förderliche Rückmeldungen zu geben.

Bedenklich stimmt, dass Kritik an der neuen Schulform vielerorts nicht geduldet wird. Lehrer, die das Konzept grundsätzlich kritisierten, fühlten sich als Nestbeschmutzer ausgegrenzt oder disziplinarrechtlich zum Schweigen gebracht. Von den berichteten disziplinarrechtlichen Drohungen durch zuständige Regierungspräsidien hat das Kultusministerium nach eigenen Angaben keine Kenntnis. Viele Lehrer, die der F.A.Z. Auskunft gaben, fürchten aber um ihre Existenz, wenn sie an die Öffentlichkeit treten. Ihre Namen und Schulorte werden hier und im folgenden deshalb nicht genannt. Die Wahrhaftigkeit aller Erfahrungsberichte ist eidesstattlich versichert worden. Nicht nur Gymnasiallehrer, die an der Gemeinschaftsschule besonders dringend gebraucht werden, sind unzufrieden, das gilt auch für Haupt-­ und Realschullehrer, die einem Gespräch zugestimmt hatten.

Gymnasiallehrer werden fachfremd eingesetzt
Die Gymnasiallehrer haben darüber hinaus geringe Chancen, je wieder vor einer Gymnasialklasse zu stehen, es sei denn, ihr Versetzungsantrag wird positiv beschieden. Einige von ihnen haben eine Erklärung unterschrieben, in der es heißt, „dass mit der Annahme der Stelle eine Mindestverweildauer von fünf Jahren an dieser Schule verbunden ist, wir von einem dauerhaften Einsatz an der neuen Schulart Gemeinschaftsschule ausgehen und ein Wechsel an ein Gymnasium später nur noch auf dem Wege der Versetzung möglich ist“.

Das Kultusministerium bekräftigt, dass dies bei allen Schularten und bei allen Einstellungsverfahren praktiziert werde, und verweist auf das Bedürfnis nach Unterrichts-­ und Personalkontinuität. Zudem sei davon auszugehen, dass sich die Bewerber für eine Gemeinschaftsschule bewusst für diese Schulart entscheiden. Nach Ablauf der Mindestverweildauer könnten die Lehrkräfte einen Versetzungsantrag stellen, hierfür brauchten sie „die Freigabe der abgebenden Schulart, wie an beruflichen Schulen auch“, so heißt es in der Stellungnahme aus Stuttgart.

Eine andere Gymnasiallehrerin an einer Gemeinschaftsschule berichtet, an ihrer Schule sei fachfremder Unterricht „eine Selbstverständlichkeit“. Das werde immer damit begründet, „dass Grund-­ und Hauptschullehrer ja schon immer fachfremd unterrichtet haben“. Das Kultusministerium verweist darauf, dass die Schulleitungen von fachfremdem Unterricht nur dann Gebrauch machten, wenn sie keine entsprechenden Fachlehrer hätten. Die Schulleiter stellten aber sicher, dass der fachfremd eingesetzte Lehrer „den Unterricht fachlich qualitätsvoll umsetzen kann“, was durch kollegialen Austausch in der Fachschaft gesichert werde. Auch an Realschulen werde fachfremder Unterricht erteilt, so das Ministerium.

Niveauunterschiede treten offen zutage
Besonders häufig vom fachfremden Unterricht betroffen ist die zweite Fremdsprache Französisch, die wie im Gymnasium von der sechsten Klasse an unterrichtet werden soll und als Wahlpflichtfach erteilt wird (an der Rheinschiene gibt es auch Englisch als zweite Fremdsprache). Schließlich sollen die Schüler ja die formalen Voraussetzungen erfüllen, um nach der zehnten Klasse in die gymnasiale Oberstufe eines allgemeinbildenden Gymnasiums zu wechseln. Lehrer berichten jedoch, dass eine Französischklasse nicht zustande kam oder nach kurzer Zeit wieder eingestellt wurde, weil die Schüler in der fünften Klasse noch Schwierigkeiten beim flüssigen Lesen im Deutschen hatten und mit ihrer ersten Fremdsprache Englisch überfordert waren. Gemeinschaftsschüler hätten die Möglichkeit, Französisch am Ende des ersten oder zweiten Schulhalbjahres der sechsten Klasse abzuwählen und sich zu Beginn der Klassenstufe 7 für ein anderes Wahlpflichtfach zu entscheiden, etwa „Technik und Mensch und Umwelt“, ergänzt das Kultusministerium.
Im einleitenden Unterrichtsgespräch im Englischunterricht einer besuchten Gemeinschaftsschule treten die Niveauunterschiede der Schüler offen zutage. Während eine Schülerin flüssig reden konnte, suchte ihre Nachbarin nach Worten und konnte kaum folgen. Ein fremdsprachliches Unterrichtsgespräch war deshalb nur partiell möglich. Was zu tun war, musste vorsichtshalber auf Deutsch wiederholt werden, um Missverständnisse auszuschließen. Selbst der entschiedene Befürworter der Gemeinschaftsschule, der Tübinger Schulleiter Joachim Friedrichsdorf hat kürzlich öffentlich gesagt, die Kommunikation komme im Fremdsprachenunterricht der Gemeinschaftsschule zu kurz, weil verstärkt mit schriftlichen Materialien gearbeitet werden müsse, um die drei unterschiedlichen Niveaustufen zu gewährleisten. Die Schulbuchverlage haben längst Bücher für verschiedene Anforderungen gedruckt, die Schüler können schon an den Farben erkennen, wo sie selbst stehen. Unter manchen Lehrern herrscht nicht selten Ratlosigkeit, welche Fähigkeiten für welches Niveau erreicht werden müssen. Und wie soll denn ein Hauptschullehrer eine Vorstellung von gymnasialem Niveau haben? Ob sie alle im Herbst mit dem neuen Bildungsplan genauer Bescheid wissen?

Schlechte Chancen für Versetzung in Oberstufe
Vielen Eltern ist vermutlich nicht klar, dass ihre Kinder auf der Gemeinschaftsschule kaum mit einem erfolgreichen Übergang in eine Oberstufe rechnen können, die ohnehin nur an den wenigsten der 271 Gemeinschaftsschulen eingerichtet werden kann. Die Anträge dafür können erst von September 2016 an von den Gemeinschaftsschulen gestellt werden, die dann mit der neunten Klasse beginnen. Bis zur achten Klasse einschließlich kann sich ein Schüler einer Gemeinschaftsschule in einem Fach auf Hauptschulniveau, in einem auf Realschul-­ und in einem weiteren auf Gymnasialniveau bewegen und wird auch entsprechend bewertet. Das endet dann jedoch jäh. Nach einer Verordnung vom Sommer letzten Jahres müssen die Leistungen in Klassenstufe 9 durchgängig in allen Fächern auf dem Niveau der Bildungsstandards der Realschule oder des Gymnasiums liegen, um einen dem Hauptschulabschluss gleichwertigen Bildungsstand zu haben. „Schüler, die in Klasse 10 durchgängig in allen Fächern und Fächerverbünden ihre Leistungen nach den Bildungsstandards des Gymnasiums erbracht haben“ und versetzt werden könnten, „haben einen dem Realschulabschluss gleichwertigen Bildungsstand“.

In seiner siebten Klasse erreiche kein Gemeinschaftsschüler auch nur das mittlere, also das Realschulniveau, berichtet ein Lehrer. Ein Gymnasiallehrer hat in seiner fünften probeweise die Lernstandserhebung in Deutsch schreiben lassen, die von diesem Schuljahr an ebenso verpflichtend ist wie die Vergleichsarbeiten VERA 8 in der achten Klasse, die jedoch nicht benotet werden und auch nicht in die Leistungsbewertung des Schülers eingehen. Solche Leistungserhebungen (VERA 8 ist ein bundesweit gültiges Verfahren) dienen dazu, die eigene Klasse mit Parallelklassen und mit anderen Schulen im Land zu vergleichen, und sollen die Schul- und Unterrichtsentwicklung an der jeweiligen Schule voranbringen. Sie dienen als interne Rückmeldung.

52 Prozent seiner Fünftklässler lagen bei der Lernstandserhebung unter dem erwarteten Niveau. Ihre Lesegeschwindigkeit bewegte sich auf dem niedrigsten Level, auch beim Leseverständnis erreichte der weitaus größte Teil der Schüler nur das unterste Niveau, nur eine Schülerin wies die Fähigkeiten auf, die in der fünften Klasse eigentlich erreicht sein müssen.


Das sind genau die Grundlagen, die für jeden späteren Abschluss zählen. Schließlich waren Schülern und Eltern doch in Hochglanzbroschüren bessere Lernergebnisse durch die Gemeinschaftsschule versprochen worden. Der Beweis dafür steht noch aus. Er wird erst dann erbracht, wenn es echte Leistungsvergleiche gibt. Solange wird die Gemeinschaftsschule im pietistisch geprägten Baden­Württemberg weiterhin ein Glaubensobjekt bleiben. Für Kritiker gilt wie in jedem Glaubenskampf: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich.“

1 Kommentar:

  1. Der FAZ Artikel wirft erstmals, gestützt auf die Studie der Uni Tübingen und Aussagen von „Insidern“, etwas Licht hinter die Glanzfassade der sogenannten Gemeinschaftsschule und auf die nackte Realität des „selbstgesteuerten Lernens“ (LP21 lässt grüssen!). Die Reformhits „Heterogenität“ und „Individualisierung“ sind viel zeitintensiver als der bewährte Klassenunterricht. Im Gegensatz zu den bisherigen Behauptungen haben die „Lernbegleiter“ nicht mehr Zeit, um auf das einzelne Kind eingehen zu können, im Gegenteil. Obwohl die Gemeinschaftsschule gemäss dem Kultusminister mit der ungewöhnlich guten Ausstattung und bei der Lehrerzuweisung bevorzugt wird, sind die „Lernbegleiter“ mit der Bereitstellung der Lernpakete für die individuellen Arbeitsphasen und die verschiedenen Niveaustufen zeitlich derart überfordert, dass einzelne Schulen, ihr vielgerühmtes Coaching-Gespräch mit den Schülern einstellten. Die Studie bestätigt die hohen Leistungsunterschiede und die grosse Belastung der Lehrer durch das „selbstgesteuerte Lernen“. Die „Lernbegleiter“ berichten, dass sie nicht mehr einfach nur unterrichten, altersgerecht lehren und Wissen vermitteln dürfen und fürchten sich vor den Konsequenzen ihrer Kritik. Erstmals erfährt man von „Insidern“ etwas über die schlechten Leistungen und das tiefe Niveau der Gemeinschaftsschulen.
    Die Volksinitiativen gegen den LP21 können unsere Kinder und die Lehrer vor solchen Zuständen bewahren. Dazu braucht es aber für den Abstimmungskampf mutige Lehrer und Eltern, die die Bevölkerung über die bereits spürbaren Auswirkungen der LP21-Schulversuche aufklären.


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