28. Februar 2016

Früher in die Entwicklung der Kinder eingreifen

Der Umgang mit dem herausfordernden Verhalten von dominanten,impulsiven Kindern ist eine der Hauptbelastungen im schulischen Alltag fürLehrpersonen. Die gewohnten pädagogischen Massnahmen helfen heute kaum mehr weiter. Es scheint, dass nun die Störungen den Kindergarten erreicht haben. Nach Zürcher Tradition - und in anderen Kantonen ist es nicht anders - war der Kindergarten als die integrativste Einrichtung der Volksschule mit grösstmöglicher Heterogenität bisher für alle Kinder da, auch für Kinder mit Behinderung, auch für Kinder mit Sozialisationsdefiziten, ohne Selektionsdruck und ohne Separation. Heute sind Time-out-Massnahmen bei 5-Jährigen keine Seltenheit mehr. Heilpädagoginnen haben alle Hände voll zu tun. Dass sich jetzt auf dieser Stufe die Klagen häufen über «verhaltensauffällige Kinder» (siehe «NZZ am Sonntag» vom 21. Februar), wundert mich nicht. Es war nur eine Frage der Zeit. Warum?
Was mit verhaltensauffälligen Kindern im Kindergarten zu tun ist, NZZaS, 28.2. von Andrea Lanfranchi

Weil wir mehr Kinder haben, die schon bei Kindergartenbeginn immer mehr können - zum Beispiel lesen, stillsitzen und zuhören, Regeln einhalten beim Spiel -, und immer mehr Kinder, die immer weniger können. Das hat mit der Familie als Bildungsort und mit der Erziehungskompetenz der Eltern zu tun, aber auch mit der psychosozialen Versorgung kleiner Kinder, die förderlich sein kann oder umgekehrt sehr lückenhaft ist.

Zum erste Aspekt der Familie als Bildungsort: Gemäss Erhebungen zu Risiken des Aufwachsens gibt es bei rund 10 Prozent der Familien vernachlässigende Strukturen aufgrund einer Kumulation von sozialen Belastungen wie Armut und prekären Wohnverhältnissen, Flüchtlingsstatus und Isolation, Arbeitslosigkeit und Suchtverhalten. Heute spricht man von toxischem Stress. Die Kinder sind in ihrer Entwicklung gefährdet.
Zum zweiten Aspekt der psychosozialen Versorgung kleiner Kinder: In der Schweiz betragen gemäss OECD-Daten die öffentlichen Ausgaben für Betreuung und Förderung im frühkindlichen Alter 0,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Skandinavische Länder investieren vier- bis fünfmal mehr. Wenn Angebote familienergänzender Betreuung wie Kindertagesstätten spärlich vorhanden oder für manche Familien kaum erschwinglich sind, weisen erwerbstätige Eltern in der Not ihre Kinder Betreuungsorten minderer Qualität zu. Oder die Kinder werden gar nicht betreut und sitzen stundenlang alleine vor dem Fernseher.
Daraus folgt: Wenn 10 Prozent der Kinder in vernachlässigenden Strukturen aufwachsen und keinen Zugang zu kompensierenden Angeboten familienergänzender Betreuung guter Qualität haben, müssen wir uns nicht wundern, wenn sich die Probleme irgendwann manifestieren. Sie tauchen im Kindergarten zum ersten Mal auf, in Form von auffälligem Verhalten. Dabei handelt es sich oft um Verzögerungen in der Entwicklung.

Aus der Forschung wissen wir, dass sprachliche oder kognitive Einschränkungen sowie emotionale Unsicherheit mit einem hohen Risiko für Verhaltensauffälligkeiten einhergehen. Eine Sprachentwicklungsstörung kann unter anderem zu unaufmerksamem oder aufbrausendem Verhalten führen, wenn das Kind den Anweisungen der Kindergärtnerin nur schwer folgen kann oder es von den Gleichaltrigen wegen der Sprachprobleme gemieden wird. Es ist ein Teufelskreis: Nehmen die Kontakte mit den anderen Kindern ab, ist das Sozialverhalten beeinträchtigt, was zu einer Spirale der Entmutigung mit entsprechenden Wutreaktionen führen kann. Was man auch noch weiss aus den Studien: Die Zeit heilt da keine Wunden. Fallen starke Verhaltensauffälligkeiten während des Kindergartens auf und schaut man einfach zu, ist davon auszugehen, dass sie sich in den späteren Schulstufen fortsetzen, oft in einer weit gravierenderen Form. Wir sollten nicht dramatisieren, weil Konflikte und Streitigkeiten zur Entwicklung gehören. Wir wollen sie aber auch nicht bagatellisieren, vor allem dann, wenn die betroffenen Kinder und ihre Mitschüler leiden.
Im präventiven Sinne müssen wir früh investieren, und zwar in den sehr bedeutsamen ersten drei Lebensjahren, gerade bei den erwähnten 10 Prozent der Familien in Risikosituationen. Es ist mehr als unklug, zu warten, bis die Probleme bei Kindergartenbeginn an die Öffentlichkeit kommen. Gerade die an meiner Hochschule durchgeführte Interventionsstudie «Zeppelin» zeigt, dass das evidenzbasierte Förderprogramm «PAT - Mit Eltern lernen» deutliche Effekte auf die sprachliche und kognitive Entwicklung kleiner Kinder hat sowie auf ihr Verhalten und auf die Feinfühligkeit der Eltern. Bei der Stärkung der Eltern liegt der Hebel des Erfolgs: Es geht um konkrete und positive Veränderungen in ihrem alltäglichen Erziehungsverhalten. Die frühen Investitionen lohnen sich, weil die Eltern während der ganzen Schulzeit und darüber hinaus die Garanten für Lernerfolg und Wohlbefinden ihrer Kinder sind.


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