Der Umgang mit dem herausfordernden Verhalten von dominanten,impulsiven Kindern ist eine der Hauptbelastungen im schulischen Alltag fürLehrpersonen. Die gewohnten pädagogischen Massnahmen helfen heute kaum mehr
weiter. Es scheint, dass nun die Störungen den Kindergarten erreicht haben.
Nach Zürcher Tradition - und in anderen Kantonen ist es nicht anders - war der
Kindergarten als die integrativste Einrichtung der Volksschule mit
grösstmöglicher Heterogenität bisher für alle Kinder da, auch für Kinder mit
Behinderung, auch für Kinder mit Sozialisationsdefiziten, ohne Selektionsdruck
und ohne Separation. Heute sind Time-out-Massnahmen bei 5-Jährigen keine
Seltenheit mehr. Heilpädagoginnen haben alle Hände voll zu tun. Dass sich jetzt
auf dieser Stufe die Klagen häufen über «verhaltensauffällige Kinder» (siehe
«NZZ am Sonntag» vom 21. Februar), wundert mich nicht. Es war nur eine Frage
der Zeit. Warum?
Was mit verhaltensauffälligen Kindern im Kindergarten zu tun ist, NZZaS, 28.2. von Andrea Lanfranchi
Weil wir mehr Kinder
haben, die schon bei Kindergartenbeginn immer mehr können - zum Beispiel lesen,
stillsitzen und zuhören, Regeln einhalten beim Spiel -, und immer mehr Kinder,
die immer weniger können. Das hat mit der Familie als Bildungsort und mit der
Erziehungskompetenz der Eltern zu tun, aber auch mit der psychosozialen
Versorgung kleiner Kinder, die förderlich sein kann oder umgekehrt sehr
lückenhaft ist.
Zum erste Aspekt der
Familie als Bildungsort: Gemäss Erhebungen zu Risiken des Aufwachsens gibt es
bei rund 10 Prozent der Familien vernachlässigende Strukturen aufgrund einer
Kumulation von sozialen Belastungen wie Armut und prekären Wohnverhältnissen,
Flüchtlingsstatus und Isolation, Arbeitslosigkeit und Suchtverhalten. Heute
spricht man von toxischem Stress. Die Kinder sind in ihrer Entwicklung
gefährdet.
Zum zweiten Aspekt der
psychosozialen Versorgung kleiner Kinder: In der Schweiz betragen gemäss
OECD-Daten die öffentlichen Ausgaben für Betreuung und Förderung im
frühkindlichen Alter 0,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Skandinavische
Länder investieren vier- bis fünfmal mehr. Wenn Angebote familienergänzender
Betreuung wie Kindertagesstätten spärlich vorhanden oder für manche Familien
kaum erschwinglich sind, weisen erwerbstätige Eltern in der Not ihre Kinder
Betreuungsorten minderer Qualität zu. Oder die Kinder werden gar nicht betreut
und sitzen stundenlang alleine vor dem Fernseher.
Daraus folgt: Wenn 10
Prozent der Kinder in vernachlässigenden Strukturen aufwachsen und keinen
Zugang zu kompensierenden Angeboten familienergänzender Betreuung guter
Qualität haben, müssen wir uns nicht wundern, wenn sich die Probleme irgendwann
manifestieren. Sie tauchen im Kindergarten zum ersten Mal auf, in Form von
auffälligem Verhalten. Dabei handelt es sich oft um Verzögerungen in der
Entwicklung.
Aus der Forschung wissen
wir, dass sprachliche oder kognitive Einschränkungen sowie emotionale
Unsicherheit mit einem hohen Risiko für Verhaltensauffälligkeiten einhergehen.
Eine Sprachentwicklungsstörung kann unter anderem zu unaufmerksamem oder
aufbrausendem Verhalten führen, wenn das Kind den Anweisungen der
Kindergärtnerin nur schwer folgen kann oder es von den Gleichaltrigen wegen der
Sprachprobleme gemieden wird. Es ist ein Teufelskreis: Nehmen die Kontakte mit
den anderen Kindern ab, ist das Sozialverhalten beeinträchtigt, was zu einer
Spirale der Entmutigung mit entsprechenden Wutreaktionen führen kann. Was man
auch noch weiss aus den Studien: Die Zeit heilt da keine Wunden. Fallen starke
Verhaltensauffälligkeiten während des Kindergartens auf und schaut man einfach
zu, ist davon auszugehen, dass sie sich in den späteren Schulstufen fortsetzen,
oft in einer weit gravierenderen Form. Wir sollten nicht dramatisieren, weil
Konflikte und Streitigkeiten zur Entwicklung gehören. Wir wollen sie aber auch
nicht bagatellisieren, vor allem dann, wenn die betroffenen Kinder und ihre
Mitschüler leiden.
Im präventiven Sinne
müssen wir früh investieren, und zwar in den sehr bedeutsamen ersten drei
Lebensjahren, gerade bei den erwähnten 10 Prozent der Familien in
Risikosituationen. Es ist mehr als unklug, zu warten, bis die Probleme bei
Kindergartenbeginn an die Öffentlichkeit kommen. Gerade die an meiner
Hochschule durchgeführte Interventionsstudie «Zeppelin» zeigt, dass das
evidenzbasierte Förderprogramm «PAT - Mit Eltern lernen» deutliche Effekte auf
die sprachliche und kognitive Entwicklung kleiner Kinder hat sowie auf ihr
Verhalten und auf die Feinfühligkeit der Eltern. Bei der Stärkung der Eltern
liegt der Hebel des Erfolgs: Es geht um konkrete und positive Veränderungen in
ihrem alltäglichen Erziehungsverhalten. Die frühen Investitionen lohnen sich,
weil die Eltern während der ganzen Schulzeit und darüber hinaus die Garanten
für Lernerfolg und Wohlbefinden ihrer Kinder sind.
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