Im besten Fall ist Kochen
ein Gefühl, in meinem Fall ist es vor allem Erinnerung. An Frau Ehrenbold, die
Hauswirtschaftslehrerin, die uns immer Pouletbrüstli mit Kräuterrahmsauce
kochen liess. An die Devise «E guets Mise en place isch halbe kochet», den Refrain
dieser Schulstunden. Und an den Tiptopf, natürlich.
Revolutionäres Lehrmittel, Bild: Florian Bärtschiger
Tiptop, Basler Zeitung, 18.2. von Samuel Tanner
Der Tiptopf war für uns
eine Art Verfassung des Kochens. Was darin stand, galt. Wir lernten die Regeln
des Dünstens und des Dämpfens. Wir studierten die Ernährungspyramide. Frau
Ehrenbold wollte uns Buben ein Gefühl fürs Kochen geben. Wir aber klammerten
uns bis am Schluss an den Tiptopf.
Wenn ich das Buch heute
noch einmal aufschlage, riecht es zum Beispiel nach dem Kuchen meines
Klassenkameraden Edin. Er rührte einst aus Versehen grosszügig Salz statt
Zucker unter seinen Teig – als er es merkte, warf er die exakt doppelte
Menge Zucker hinterher, als könnte er das Salz damit auflösen. Sein Kuchen war
am Ende kein Dessert, sondern eine Mutprobe. Es ist nur eine Anekdote unter
vielen. Ungefähr 2,2 Millionen Exemplare des Tiptopfs stehen in den Küchen
dieses Landes – das Buch bewahrt die alten Rezepte auf und die alten
Geschichten. Der Tiptopf ist ein grosser gemeinsamer Nenner und das
erfolgreichste Lehrmittel der Schweiz. In diesem Jahr feiert er seinen
dreissigsten Geburtstag.
«Baldige Befleckung»
Ursula Affolter, 63,
Lehrerausbildnerin in Bern, und Monika Jaun, 55, Hauswirtschaftslehrerin in
Biglen im Emmental, haben mehr Bücher verkauft als viele Bestsellerautoren,
aber weniger Allüren. Sie sind zwei von fünf Tiptopf-Autorinnen, sie sitzen in
einem Schlauch der Pädagogischen Hochschule am Rand der Stadt Bern – und
versuchen zu erklären, was ihr Buch ausmacht.
«Der Tiptopf ist Kult
inzwischen», beginnt Ursula Affolter dann: «Man findet alle Basics darin, von A
bis Z. Und Basics verändern sich nicht.»
«Vor der letzten
Überarbeitung», sagt Monika Jaun, «ging ich in verschiedene Buchhandlungen und
sagte: ‹Ich möchte ein Buch, mit dem ich kochen lernen kann.› Überall empfahlen
sie mir den Tiptopf.»
«Er gehört zur
Grundausstattung in einem Schweizer Haushalt. Viele Töchter und Söhne sagen:
Wenn ich ausziehe, nehme ich auf jeden Fall den Tiptopf mit.» Ursula Affolter
hört ihrem Satz noch ein bisschen hinterher und nickt dann zufrieden.
Am Ende ihrer Arbeit sollte
ein Monument stehen und würde der Bundespräsident der Schweizerischen
Eidgenossenschaft in einem Brief an die Autorinnen schreiben: «Das Buch spricht
mich sehr an und wird in meiner Kochbuchbibliothek dort Platz nehmen, wo
häufige Konsultationen während des Wirkens in der Küche für baldige Befleckung
sorgen.» Moritz Leuenberger hob den Tiptopf mit seinen eingesalbten Sätzen auf
die höchste Ebene.
Am Anfang ihrer Arbeit war
eine Lücke. Zu Beginn der 80er-Jahre lernten die Mädchen in Bern mit dem
«Berner Kochbuch», einem dünnen Ringheftbüchlein; in Zürich gab es kein
Lehrmittel für diese Stufe und in anderen Kantonen stiefelten sie selber etwas
zusammen, wie Monika Jaun sagt. Die Interkantonale Lehrmittelzentrale
entwickelte schliesslich eine landesweite Lösung – «das war eigentlich
revolutionär», sagt Jaun. Der Tiptopf wurde das erste harmonisierte Lehrmittel
der Schweiz. Und ein Produkt des Föderalismus. Zwei Autorinnen aus Bern, zwei
aus Zürich, eine aus Luzern – und eine Expertengruppe mit Vertreterinnen aus
weiteren Kantonen.
Es ging darum, eine
gemeinsame Sprache zu finden. Ein Kuchen kann in der Schweiz ein Kuchen sein
oder ein Flade oder eine Wähe. Der Weg zu Kompromissen war manchmal lang. Die
Arbeit am Tiptopf dauerte fünf Jahre.
Der Name des Buchs ist in
angenehmem Mass doppeldeutig. Einerseits vereinigt es die Wörter Tip und Topf,
andererseits lehnt es sich auch an die Qualifizierung tipptopp. Und tipptopp
ist in der Schweiz nicht nur ein Wort, sondern ein Lebensgefühl. Ein Kompliment
mit der Handbremse. Nur nicht übertreiben.
Am Anfang waren sich die
Macherinnen nicht sicher, sie hätten sich auch «Chuchichäschtli» vorstellen
können oder sonst einen Namen. Wichtig war nur, dass er nicht auf einen
einzelnen Kanton anspielte und nicht nur nach Kochbuch, sondern auch noch nach
Lehrmittel klang.
«Jetzt ist der Name ein
richtiger Ohrwurm», sagt Ursula Affolter. – «Und es ist auch kein
Modename, nicht etwa ein englischer Spruch. Die Bezeichnung hält», sagt Monika
Jaun. Als die Rechtschreibreform kam und man Tip auf einmal Tipp schrieb,
überlegte sich der Verlag, den Namen des Buchs anzupassen. Am Ende beliessen
sie es bei der alten Version. Die Marke Tiptopf war inzwischen stärker.
Die Karl-May-Küche
In all den Jahren gab es
drei Überarbeitungen – die Autorinnen versuchten immer, ihre Grundidee von
damals in die neuen Zeiten rüberzuretten: die Techniken in Bildchen erklärt,
die Gerichte einfach und ohne Schnickschnack, die Ernährungspyramide als
pädagogisches Gewissen. «Der Tiptopf ist in erster Linie Lehrmittel, nicht
Kochbuch», sagt Ursula Affolter. «Er ist wie ein Sprachbuch: Du musst die
Zutaten kennen und wissen, wie sie sich verhalten – zudem die Verfahren.
Die Verknüpfung dieser Dinge ist dann die Grammatik des Kochens. Und die bleibt
immer gleich», sagt Monika Jaun.
Dennoch haben die Zeiten
auch den Tiptopf verändert. 1986 standen der Aufstieg von Rucola oder Aceto
balsamico erst noch bevor. Monika Jaun: «Damals sagte man: ‹Hm, was ist das?
Wir haben doch Kressi! Heute kennt Aceto und auch Olivenöl jedes Kind.»
Bei der letzten
Überarbeitung im Jahr 2006 versuchten die Autorinnen, dem neuen Jahrtausend
gerecht zu werden. Sie bauten den Teil «Snacks & Lunches» ein, weil ja
alles schneller und englischer geworden ist mit den Jahren. Dafür fielen die
Kutteln raus und die Läberli. «Nicht mehr so in Mode sind auch Gerichte wie Riz
Casimir oder Toast Hawaii. In den 80er-Jahren war das noch ein grosser Renner,
heute kennen es die Kinder gar nicht mehr», sagt Monika Jaun.
Ausländische Gerichte
gehörten schon immer zum Tiptopf – wobei Riz Casimir oder Toast Hawaii ja
streng genommen keine ausländischen Gerichte sind, sondern eher das, was man
als Schweizer damals für das Ausland hielt. Die Karl-May-Küche, wenn man so
will.
Am Ende des Gesprächs
frage ich die beiden Frauen nach ihrem Lieblingsrezept aus dem Tiptopf. Monika
Jaun sagt sofort: «Das Gemüse-Tajine, ein marokkanisches Eintopfgericht mit
Kichererbsen, das ist super. Das müssen Sie mal ausprobieren!»
Ein paar Tage später stehe
ich in der Küche und in Gedanken noch einmal im Hauswirtschaftsunterricht der
Sekundarschule. In den geistigen Kulissen mahnt Frau Ehrenbold mein Mise en
place an und schüttet Klassenkamerad Edin noch einmal Zucker in seinen
Kuchenteig.
Das Tajine-Rezept, eines
der Menüs aus der Karl-May-Küche, liegt vor mir:
1 KL
Olivenöl – erwärmen
150g
Gemüse, z. B. Kürbis, Zucchetti, Peperoni – vorbereiten, in gleichmässige
Stücke schneiden, beifügen
Der Sound des Kochens. Ich
dämpfe das Gemüse zusammen mit «fein geschnittenen» Zwiebeln und Knoblauchzehen
in der Pfanne, ich gebe Pelati hinzu, würze mit Safran, Paprika und Thymian;
mische dann die Kichererbsen hinzu und schmecke mit Harissasauce ab. Für einen
Moment komme ich mir ziemlich marokkanisch vor.
Entscheidend verfeinert
Der Tiptopf regelt nur das
Minimum, «die Basics», wie mir Ursula Affolter in Bern gesagt hatte – so wie es
sich für eine Verfassung gehört. Unter den Rezepten stehen aber immer Tipps. Im
Fall des Tajine: 300 g Pouletwürfel mitkochen, 50 g Sultaninen mit den
Kichererbsen zugeben. Die Tipps appellieren an die Eitelkeit des Kochs. Und ich
glaube, Schweizer mögen das Gefühl, ein Gericht selber noch entscheidend
verfeinert zu haben.
Ich gebe zwei Pouletfilets
in eine separate Bratpfanne – mein Mise en place ist schon lange nur noch eine
Vorstellung – und brate sie auf der höchsten Stufe. Das Tajine wird am
Ende scharf und gut, wobei das mehr am Tiptopf liegt als an mir. Ich denke an Ursula
Affolter, die mir gesagt hat: «Die Gerichte im Tiptopf haben eine
Gelinggarantie, die all die tausend Rezepte im Internet nicht geben können. Das
ist der Unterschied.»
Um sicher zu sein, ob das
Poulet durchgebraten ist, drücke ich mit der Bratkelle ins Fleisch, bis es
zerfällt. Das war schon in der Hauswirtschaftslehre so: Poulet sah bei mir am
Ende immer aus wie gerupftes Huhn. Das Tajine sieht, fast fertig, erstaunlich
gelungen aus – da bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, mit wie viel Harissasauce
ich den Eintopf abschmecken soll.
Ich schaue im Tiptopf
nach.
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