18. Februar 2016

Das erfolgreichste Lehrmittel wird 30

Im besten Fall ist Kochen ein Gefühl, in meinem Fall ist es vor allem Erinnerung. An Frau Ehrenbold, die Hauswirtschaftslehrerin, die uns immer Pouletbrüstli mit Kräuterrahmsauce kochen liess. An die Devise «E guets Mise en place isch halbe kochet», den Refrain dieser Schulstunden. Und an den Tiptopf, natürlich.
Revolutionäres Lehrmittel, Bild: Florian Bärtschiger
Tiptop, Basler Zeitung, 18.2. von Samuel Tanner

Der Tiptopf war für uns eine Art Verfassung des Kochens. Was darin stand, galt. Wir lernten die Regeln des Dünstens und des Dämpfens. Wir studierten die Ernährungspyramide. Frau Ehrenbold wollte uns Buben ein Gefühl fürs Kochen geben. Wir aber klammerten uns bis am Schluss an den Tiptopf.

Wenn ich das Buch heute noch einmal aufschlage, riecht es zum Beispiel nach dem Kuchen meines Klassenkameraden Edin. Er rührte einst aus Versehen grosszügig Salz statt Zucker unter seinen Teig – als er es merkte, warf er die exakt doppelte Menge Zucker hinterher, als könnte er das Salz damit auflösen. Sein Kuchen war am Ende kein Dessert, sondern eine Mutprobe. Es ist nur eine Anekdote unter vielen. Ungefähr 2,2 Millionen Exemplare des Tiptopfs stehen in den Küchen dieses Landes – das Buch bewahrt die alten Rezepte auf und die alten Geschichten. Der Tiptopf ist ein grosser gemeinsamer Nenner und das erfolgreichste Lehrmittel der Schweiz. In diesem Jahr feiert er seinen dreissigsten Geburtstag.

«Baldige Befleckung»
Ursula Affolter, 63, Lehrerausbildnerin in Bern, und Monika Jaun, 55, Hauswirtschaftslehrerin in Biglen im Emmental, haben mehr Bücher verkauft als viele Bestsellerautoren, aber weniger Allüren. Sie sind zwei von fünf Tiptopf-Autorinnen, sie sitzen in einem Schlauch der Pädagogischen Hochschule am Rand der Stadt Bern – und versuchen zu erklären, was ihr Buch ausmacht.

«Der Tiptopf ist Kult inzwischen», beginnt Ursula Affolter dann: «Man findet alle Basics darin, von A bis Z. Und Basics verändern sich nicht.»

«Vor der letzten Überarbeitung», sagt Monika Jaun, «ging ich in verschiedene Buchhandlungen und sagte: ‹Ich möchte ein Buch, mit dem ich kochen lernen kann.› Überall empfahlen sie mir den Tiptopf.»

«Er gehört zur Grundausstattung in einem Schweizer Haushalt. Viele Töchter und Söhne sagen: Wenn ich ausziehe, nehme ich auf jeden Fall den Tiptopf mit.» Ursula Affolter hört ihrem Satz noch ein bisschen hinterher und nickt dann zufrieden.

Am Ende ihrer Arbeit sollte ein Monument stehen und würde der Bundespräsident der Schweizerischen Eidgenossenschaft in einem Brief an die Autorinnen schreiben: «Das Buch spricht mich sehr an und wird in meiner Kochbuchbibliothek dort Platz nehmen, wo häufige Konsultationen während des Wirkens in der Küche für baldige Befleckung sorgen.» Moritz Leuenberger hob den Tiptopf mit seinen eingesalbten Sätzen auf die höchste Ebene.

Am Anfang ihrer Arbeit war eine Lücke. Zu Beginn der 80er-Jahre lernten die Mädchen in Bern mit dem «Berner Kochbuch», einem dünnen Ringheftbüchlein; in Zürich gab es kein Lehrmittel für diese Stufe und in anderen Kantonen stiefelten sie selber etwas zusammen, wie Monika Jaun sagt. Die Interkantonale Lehrmittelzentrale entwickelte schliesslich eine landesweite Lösung – «das war eigentlich revolutionär», sagt Jaun. Der Tiptopf wurde das erste harmonisierte Lehrmittel der Schweiz. Und ein Produkt des Föderalismus. Zwei Autorinnen aus Bern, zwei aus Zürich, eine aus Luzern – und eine Expertengruppe mit Vertreterinnen aus weiteren Kantonen.

Es ging darum, eine gemeinsame Sprache zu finden. Ein Kuchen kann in der Schweiz ein Kuchen sein oder ein Flade oder eine Wähe. Der Weg zu Kompromissen war manchmal lang. Die Arbeit am Tiptopf dauerte fünf Jahre.

Der Name des Buchs ist in angenehmem Mass doppeldeutig. Einerseits vereinigt es die Wörter Tip und Topf, andererseits lehnt es sich auch an die Qualifizierung tipptopp. Und tipptopp ist in der Schweiz nicht nur ein Wort, sondern ein Lebensgefühl. Ein Kompliment mit der Handbremse. Nur nicht übertreiben.

Am Anfang waren sich die Macherinnen nicht sicher, sie hätten sich auch «Chuchichäschtli» vorstellen können oder sonst einen Namen. Wichtig war nur, dass er nicht auf einen einzelnen Kanton anspielte und nicht nur nach Kochbuch, sondern auch noch nach Lehrmittel klang.

«Jetzt ist der Name ein richtiger Ohrwurm», sagt Ursula Affolter. – «Und es ist auch kein Modename, nicht etwa ein englischer Spruch. Die Bezeichnung hält», sagt Monika Jaun. Als die Rechtschreibreform kam und man Tip auf einmal Tipp schrieb, überlegte sich der Verlag, den Namen des Buchs anzupassen. Am Ende beliessen sie es bei der alten Version. Die Marke Tiptopf war inzwischen stärker.

Die Karl-May-Küche
In all den Jahren gab es drei Überarbeitungen – die Autorinnen versuchten immer, ihre Grundidee von damals in die neuen Zeiten rüberzuretten: die Techniken in Bildchen erklärt, die Gerichte einfach und ohne Schnickschnack, die Ernährungspyramide als pädagogisches Gewissen. «Der Tiptopf ist in erster Linie Lehrmittel, nicht Kochbuch», sagt Ursula Affolter. «Er ist wie ein Sprachbuch: Du musst die Zutaten kennen und wissen, wie sie sich verhalten – zudem die Verfahren. Die Verknüpfung dieser Dinge ist dann die Grammatik des Kochens. Und die bleibt immer gleich», sagt Monika Jaun.

Dennoch haben die Zeiten auch den Tiptopf verändert. 1986 standen der Aufstieg von Rucola oder Aceto balsamico erst noch bevor. Monika Jaun: «Damals sagte man: ‹Hm, was ist das? Wir haben doch Kressi! Heute kennt Aceto und auch Olivenöl jedes Kind.»

Bei der letzten Überarbeitung im Jahr 2006 versuchten die Autorinnen, dem neuen Jahrtausend gerecht zu werden. Sie bauten den Teil «Snacks & Lunches» ein, weil ja alles schneller und englischer geworden ist mit den Jahren. Dafür fielen die Kutteln raus und die Läberli. «Nicht mehr so in Mode sind auch Gerichte wie Riz Casimir oder Toast Hawaii. In den 80er-Jahren war das noch ein grosser Renner, heute kennen es die Kinder gar nicht mehr», sagt Monika Jaun.

Ausländische Gerichte gehörten schon immer zum Tiptopf – wobei Riz Casimir oder Toast Hawaii ja streng genommen keine ausländischen Gerichte sind, sondern eher das, was man als Schweizer damals für das Ausland hielt. Die Karl-May-Küche, wenn man so will.

Am Ende des Gesprächs frage ich die beiden Frauen nach ihrem Lieblings­rezept aus dem Tiptopf. Monika Jaun sagt sofort: «Das Gemüse-Tajine, ein marokkanisches Eintopfgericht mit Kichererbsen, das ist super. Das müssen Sie mal ausprobieren!»

Ein paar Tage später stehe ich in der Küche und in Gedanken noch einmal im Hauswirtschaftsunterricht der Sekundarschule. In den geistigen Kulissen mahnt Frau Ehrenbold mein Mise en place an und schüttet Klassenkamerad Edin noch einmal Zucker in seinen Kuchenteig.

Das Tajine-Rezept, eines der Menüs aus der Karl-May-Küche, liegt vor mir:
1 KL Olivenöl – erwärmen
150g Gemüse, z. B. Kürbis, Zucchetti, Peperoni – vorbereiten, in gleichmässige Stücke schneiden, beifügen
Der Sound des Kochens. Ich dämpfe das Gemüse zusammen mit «fein geschnittenen» Zwiebeln und Knoblauchzehen in der Pfanne, ich gebe Pelati hinzu, würze mit Safran, Paprika und Thymian; mische dann die Kichererbsen hinzu und schmecke mit Harissasauce ab. Für einen Moment komme ich mir ziemlich marokkanisch vor.

Entscheidend verfeinert
Der Tiptopf regelt nur das Minimum, «die Basics», wie mir Ursula Affolter in Bern gesagt hatte – so wie es sich für eine Verfassung gehört. Unter den Rezepten stehen aber immer Tipps. Im Fall des Tajine: 300 g Pouletwürfel mitkochen, 50 g Sultaninen mit den Kichererbsen zugeben. Die Tipps appellieren an die Eitelkeit des Kochs. Und ich glaube, Schweizer mögen das Gefühl, ein Gericht selber noch entscheidend verfeinert zu haben.

Ich gebe zwei Pouletfilets in eine separate Bratpfanne – mein Mise en place ist schon lange nur noch eine Vorstellung – und brate sie auf der höchsten Stufe. Das Tajine wird am Ende scharf und gut, wobei das mehr am Tiptopf liegt als an mir. Ich denke an Ursula Affolter, die mir gesagt hat: «Die Gerichte im Tiptopf haben eine Gelinggarantie, die all die tausend Rezepte im Internet nicht geben können. Das ist der Unterschied.»

Um sicher zu sein, ob das Poulet durchgebraten ist, drücke ich mit der Bratkelle ins Fleisch, bis es zerfällt. Das war schon in der Hauswirtschaftslehre so: Poulet sah bei mir am Ende immer aus wie gerupftes Huhn. Das Tajine sieht, fast fertig, erstaunlich gelungen aus – da bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, mit wie viel Harissasauce ich den Eintopf abschmecken soll.


Ich schaue im Tiptopf nach.

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