18. Februar 2016

"Es verträgt momentan nichts mehr"

Der umstrittene Lehrplan 21 und die Umstellung auf die Sek-Stufe: Vor einem halben Jahr wurde in Basel das Schulsystem erneut auf den Kopf gestellt – obwohl die Umsetzung früherer Neuerungen, wie etwa die Integrative Schule oder die Frühfremd­sprachen, noch nicht abgeschlossen ist. Glatt gelaufen sind auch die jüngsten Reformen erwartungsgemäss nicht: Zu den grössten Baustellen gehören aktuell fehlende Lehrmittel und IT-Technik, ein Mangel an Fachpersonal und zu grosse Klassen.













Anfällige Infrastruktur stellt den Schulalltag vor Probleme, Bild: Keystone
Reformflut bringt Lehrer ans Limit, Basler Zeitung, 18.2. von Nina Jecker


Gaby Hintermann ist Präsidentin der Kantonalen Schulkonferenz Basel-Stadt. Sie wirkt selber ein wenig erschöpft, wenn man sie zu all den Reformen befragt. Wie viele ihrer Kollegen musste sie sich in den letzten Jahren an immer neue Veränderungen gewöhnen. Zuerst die Orientierungsschule, dann die Übergangszeit, ­während der man das alte Schulsystem auslaufen liess, und letztes Jahr nun der Start des komplett neuen Systems. Wie viele Lehrer kam auch Hintermann dafür in ein neues Schulhaus mit einem ihr bis dahin unbekannten Team. «Das erschwert am Anfang alles, man kennt weder die Infrastruktur noch die Kollegen. Da ‹mönschelet› es dann natürlich auch bei uns.» Aber nicht nur zwischenmenschlich, sondern auch was die Infrastruktur, die Räumlichkeiten und die Schülermenge angeht, läuft noch nicht alles rund.

Raummangel ist vorhersehbar
Schief gelaufen ist letztes Jahr beispielsweise das Anmeldeprozedere für die neue Sek-Schule. Zahlreiche Eltern wehrten sich gegen die Zuteilung ihrer Kinder, teilweise heftig. Dazu überschritten bei Schulbeginn fast die Hälfte aller 21 Sek-Klassen des P-Zugs, in dem die besseren Schüler unterrichtet werden, die vorgegebene maximale Klassengrösse von 25 Kindern um bis zu drei Kinder. «Das mag einem gering vorkommen, hat aber je nachdem grosse Auswirkungen auf den Schulbetrieb», sagt Hintermann. Ein Schüler brauche nicht nur Tisch und Stuhl, sondern auch Betreuung, Lernberichte und Eltern­gespräche.

Das Problem bei den Zuteilungen: Die Kinder werden zwar nach ihrem vorletzten Primarschulzeugnis in die einzelnen Leistungszüge eingeteilt, können aber mit einem guten letzten Zeugnis kurzfristig auf Bewährung eine Stufe höher kommen. «So ist wenig Planungssicherheit gegeben», sagt Hintermann. Sie schlägt vor, dass das erste Zeugnis verbindlich zählen sollte und das zweite nur noch über Provisorium oder eine definitive Aufnahme entscheidet. Die Möglichkeit einer Aufnahmeprüfung bliebe bestehen, würde aber zu einem früheren Zeitpunkt angesetzt.

Hintermann fürchtet allerdings, dass bald sowieso wieder über höhere Klassengrössen diskutiert wird. Denn der Schulraum, der neu gebaut wurde, reiche bereits heute kaum noch aus. «Mit den steigenden Schülerzahlen ist eine Raumknappheit bereits wieder programmiert», prognostiziert sie. Dieses Problem mit grösseren Klassen zu lösen, ist für Hinterman bei der heterogenen Schülerschaft ein No-Go.

Die Hilfsmittel versagen
Auch in Sachen Technik reicht die Infrastruktur oft hinten und vorne nicht aus. Dies unter anderem, weil viele der neuen Lehrmittel bis zur Hälfte am Computer oder mit einem Tablet ausgeführt werden müssen. «Diese Geräte sind aber, wenn man sie braucht, meist nicht in genügender Menge vorhanden, oder die Hälfte davon läuft nicht, wie es sein sollte.» Für andere Fächer, dazu gehören die neuen Sammelfächer des Lehrplans 21, gibt es überhaupt noch keine Lehrmittel. Die Verlage warten zu, bis auch Bern und Zürich den neuen Lehrplan umsetzen; Basel alleine ist als Abnehmer zu klein. «Dabei wären gerade hier die Lehrkräfte auf gute Unterrichtsmaterialien angewiesen», sagt Hintermann. Denn wer früher an der Oberstufe Geschichte unterrichtet hat, soll nun auf einmal «Räume, Zeiten, Gesellschaft» anbieten, ein Sammelfach, welches auch Geografie beinhaltet. «Natürlich gäbe es auch hier wie für so vieles Weiterbildungen. Wenn ich wollte, könnte ich an 40 Wochenenden im Jahr eine Weiterbildung besuchen. Aber dafür fehlt den meisten bei all den Neuerungen einfach die Zeit», sagt Hintermann.

Dennoch ist sie froh, dass Basel-Stadt den neuen Lehrplan als erster Kanton eingeführt hat. «Sonst hätten wir für die Umstellung auf die Sek-Stufe einen Übergangslehrplan gebraucht, wie es das Baselbiet kennt. Das wäre wirklich zu kompliziert geworden.» Für die Zukunft jedoch wünscht sich ­Hintermann, dass die Basler nicht immer überall die Ersten sein wollen. «Ich würde gerne mal bei einer Reform in Ruhe abwarten, wie es in einem anderen Kanton läuft.»

Nicht nur bei den neuen Sammel­fächern fehlt es an fachlich ausgebildetem Personal. Auch die Stellen der Heilpädagogen, welche sich in den Regelklassen um die Integrationskinder – also jene mit Behinderungen, Lernstörungen, Verhaltensauffälligkeiten und anderen Problemen – kümmern sollen, sind nicht alle mit ausgebildetem Personal besetzt. Stattdessen werden auch Lehrer eingesetzt, welche auf dem Gebiet Erfahrung vorweisen können. Auch das sei keine wünschenswerte Situation, findet Hintermann.

Trotz allem bleibt die Sek-Lehrerin optimistisch. «Wir werden es schon schaffen, wir Lehrkräfte geben unser Bestes.» Wichtig sei einfach, dem Ganzen jetzt Zeit zum Wachsen zu lassen. «In fünf, sechs Jahren hat sich wohl alles eingependelt.» Vor allem sollen die Bildungsverantwortlichen in der nächsten Zeit auf weitere Neuerungen verzichten und die Schule in Ruhe lassen. «Es verträgt momentan nichts mehr, wir müssen erst wieder zum Atmen und zu einem Alltag kommen. Sonst fliegt uns die ganze Sache noch um die Ohren.»


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