Unser
Bildungswesen hat sich die letzten Jahre gravierend verändert. Warum
eigentlich? Welche Leitbilder liegen dem zugrunde? Oder sollte man besser
fragen: Wer profitiert davon? Profitieren dürften eigentlich nur die Schüler,
doch die tun das offenbar nicht. Grund genug, sich über die Bedeutung und den
Sinn von Erziehung und Bildung klar zu werden.
Eine unheilige Allianz, Ökologie Politik, Nr. 169, 2016
Interview mit Prof. Dr. Jochen
Krautz
ÖkologiePolitik: Herr Prof. Krautz, warum
sind Erziehung und Bildung wichtig?
Prof.
Dr. Jochen Krautz: Anthropologisch gesehen sind wir Menschen offene Wesen. Wir
kommen im Vergleich mit anderen Säugetieren unfertig auf die Welt. Die
Entwicklungspsychologie hat gezeigt, wie wichtig der Aufbau einer sicheren
Bindung zum Kind ist, eben weil die weitere Entwicklung sich im „sozialen
Uterus“ vollzieht: im Schoß der menschlichen Gemeinschaft. Sind dies zunächst
Eltern und enge Bezugspersonen, so weitet sich dieses Beziehungsnetz, je älter
wir werden. Doch können sich Erziehung und Bildung immer nur in interpersonaler
Beziehung vollziehen. Hierdurch entfaltet der Mensch seine angelegte
Sozialität, seine Fähigkeit zu Kooperation und Verstehen. Individualität
entwickelt sich nur in und durch Gemeinschaft. Auch das Lernen beruht auf der
spezifisch menschlichen Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit auf Fragen und
Sachverhalte der gemeinsamen Welt. Aus Sicht der neueren Evolutionsbiologie
unterscheidet uns Menschen diese Fähigkeit von anderen höheren Primaten: Wir
können unsere Aufmerksamkeit gemeinsam auf ein Drittes richten und dabei
voneinander wissen, dass wir dies tun. Wir treten in eine geistige Kooperation
und stimmen unsere Vorstellungen von einer konkreten oder auch sehr abstrakten
Sache aufeinander ab, indem wir versuchen, die Vorstellung des anderen
nachzubilden, ihn zu verstehen – so wie Sie und später die Leser versuchen, den
Inhalt unseres Gesprächs geistig zu erfassen. Das können nur wir Menschen.
Welche Bedeutung hat der Lehrer?
Der
Lehrer kann den Schüler anregen, eine geistige Aktivität zu entfalten. Tun muss
dies der Schüler aber selbst. Die klassische Bildungstheorie betonte daher
schon immer, dass Bildung nur Selbstbildung sein kann. Man kann nicht gebildet
werden. Ohne innere Aktivität geschieht gar nichts. Ein Lehrer kann und muss
den Schüler dazu auffordern, ihn für etwas interessieren, ihn ermutigen,
ermahnen, motivieren, unterstützen. So kann man jungen Menschen z.B. aus einer
Lernentmutigung heraushelfen oder auch eine passiv-verwöhnte Haltung
korrigieren. Aber dazu muss der Schüler kooperieren.
Ist nicht auch die Realität ein
„Lehrmeister“?
Ja, in
gewisser Weise. „Bindung“ und „Beziehung“ werden heute gerne missverstanden,
als ginge es um ein persönliches Coaching, um Beziehungsarbeit unabhängig von
der Sache. Wir haben aber ein pädagogisches Dreieck. Der Mittelpunkt ist die
gemeinsame Arbeit an Weltzugängen, die die Schulfächer repräsentieren: die Sprachen,
die naturwissenschaftliche Sichtweise, die historische Perspektive, die
bildnerisch-gestalterische Dimension usw. Nur durch eine intensive
Auseinandersetzung mit den „Realia“ – den Dingen und Themen unserer gemeinsamen
Welt – entwickelt man sich zu einer reifen Persönlichkeit.
Ist der Leistungsanspruch richtig? Und
wichtig?
Wenn
Sie Leistung soziologisch als Anspruch von Wirtschaft und Gesellschaft zwecks
Selektion und „Allokation von Chancen“ verstehen, dann würde ich diesem
Leistungsanspruch nur ein begrenztes Recht einräumen. Ein pädagogischer
Leistungsbegriff meint mehr: Schule stellt Aufgaben, weil wir in einer Welt
leben, die uns immer schon Aufgaben stellt. Diese Aufgaben sind in den von den
Schulfächern repräsentierten Weltzugängen und im Erziehungsauftrag der Schule
präsent. Es geht um Inanspruchnahme und Entsprechung: Inanspruchnahme durch die
Lebensaufgaben – aber nicht verkürzt durch einzelne gesellschaftliche Akteure
wie die Wirtschaft, auch wenn das heute gerne suggeriert wird. Die Schule und
jeder einzelne Lehrer müssen die Aufgaben, die sich aus Demokratie, Kultur und
Wirtschaft ergeben, sowie den Anspruch der Sache und den Bildungsanspruch des
jungen Menschen beständig pädagogisch austarieren, ohne zu vereinseitigen.
Junge Menschen stärkt nicht, wenn wir sie vor Ansprüchen verschonen, sondern
wenn wir Forderungen stellen und ihnen helfen, diese zu bewältigen – nicht
indem wir die Anforderungen senken. Das wirkt sich verheerend auf Wissen,
Können, Mündigkeit und Reife der Jugendlichen aus. Solche
Erleichterungspädagogik suggeriert Kindern und Jugendlichen eine Scheinwelt,
die im allverfügbaren Konsum ihre Entsprechung findet. Doch nur mit einem
kritischen Realitätssinn, mit Wissen, Urteilskraft und sozialer Verbundenheit
entwickeln sich Verantwortlichkeit und Mündigkeit als für eine demokratische
Gesellschaft wesentliche Fähigkeiten.
Passen Erziehungsauftrag und
Leistungsanspruch zusammen?
Zum
Gegensatz wird das nur, wenn man den Leistungsbegriff verengt und Bildung auf
„Kompetenzen“ reduziert. Dann kommt man auf die seltsame Idee, für jede
Erziehungsaufgabe – zur Mitmenschlichkeit, zur Friedfertigkeit, zum
Gewaltverzicht – eigene „Trainings“ und „Programme“ einrichten zu müssen, die
außerhalb des Unterrichts stattfinden. Tatsächlich kann ein erziehender
Unterricht beides leisten: Erziehung und Bildung. Dazu muss man
Unterrichtsgegenstände so auswählen und behandeln, dass darin wesentliche
menschliche Fragen sichtbar und diskutierbar werden. Dabei geht es nicht nur um
Themen in Religion und Geschichte, sondern auch im Mathematikunterricht kann
die Frage, ob und warum eine Prozentrechnung stimmt, sehr wohl zum Nachdenken
darüber führen, was uns allerorten als „Sonderangebote“ feilgeboten wird, was
das mit uns macht und wie wir uns dazu verhalten wollen. Zudem ist die
Klassengemeinschaft von großer Bedeutung. Wenn man diese pädagogisch gestaltet,
kann sie zu einem Ort werden, an dem sich wichtige soziale Erfahrungen machen
lassen, an dem sich modellhaft erleben lässt, was es heißt, gemeinsam an etwas
zu arbeiten, das eigene Tun zu verantworten, sich zu helfen, anderen etwas zu
erklären, Konflikte friedlich zu lösen und miteinander Probleme anzugehen.
Momentan entwickeln sich die Lehrpläne in
eine andere Richtung.
Ja –
und das läuft den eben erläuterten Zielen von Bildung und Erziehung völlig
zuwider. Die „Bildungsreformen“ der letzten beiden Jahrzehnte haben die
größeren Zusammenhänge und Ziele von Bildung und Erziehung systematisch
ausgeblendet. Sie befördern nicht die Entwicklung von Mündigkeit, sondern
zersetzen Sozialität als Grundlage und Ziel der Pädagogik. Und ich verwende
hier bewusst den Begriff „Zersetzung“ und nicht „Zerstörung“, um zu betonen,
dass dies nicht zufällig geschieht.
Sondern?
Diese
Entwicklung wurde strategisch konzipiert und umgesetzt. Und dabei sind zwei
scheinbar widersprüchliche Strömungen beteiligt: Auf der einen Seite haben wir
die Akteure einer Ökonomisierung von Bildung. Hierbei geht es nicht vorrangig
um die Privatisierung von Schulen und Hochschulen zu profitablen
Dienstleistungsbetrieben, sondern vor allem um die Neudefinition dessen, was
man unter Bildung versteht, nämlich: Anpassungsleistung. Deshalb werden reales
Wissen und Können wie auch Mündigkeit und Gemeinsinn abgebaut. Auf der anderen
Seite haben wir eine bildungsromantisch-reformpädagogisch geprägte Fraktion. Die
tendiert zu Erleichterungspädagogik, weil sie die pädagogische Bedeutung jener
Inanspruchnahme verkennt. Stattdessen plädiert man für „Selbstentfaltung" und
„Selbststeuerung“ der Kinder. So haben wir heute eine „große Koalition“ – oder
besser: „unheilige Allianz“ – aus neoliberalen und reformpädagogisch klingenden
Paradigmen, die vereint gegen Bildung und Wissen arbeitet.
Wie sieht „selbstgesteuertes Lernen“ aus?
Das
Lernen im Klassenverband löst sich auf, die Schüler arbeiten an
Einzelarbeitsplätzen, am besten per Sichtschutz getrennt und am PC wie in einem
Großraumbüro. Der Lehrer unterrichtet nicht mehr, sondern stellt Arbeitsblätter
zur Verfügung, verteilt „Lernjobs“ und berät als „Coach“. Die Schüler tragen
ihren eigenen Lernfortschritt in Kompetenzraster ein. Das ist das perfekte
Modell des in sich selbst investierenden, flexiblen Selbstunternehmers. Es geht
hier um Anpassung an äußere Vorgaben, um eine subtile Form von Steuerung,
getarnt als angebliche Selbstständigkeit. Dies zerstört Sozialität und Realität
als Grundlagen von Mündigkeit systematisch. Übrig bleiben atomisierte
Individuen, deren Lernen im Wortsinne „sinn-los“ ist, weil kein
Sinnzusammenhang mehr gemeinsam erfahrbar ist.
Welche sozialen Konsequenzen hat das?
Es
setzen sich die Starken durch, die gute Voraussetzungen haben und Eltern, die
ihnen zu Hause selbst erklären oder durch Nachhilfelehrer beibringen lassen
können, was der Lehrer in der Schule nicht mehr leistet. Die Schwachen aus
bildungsferneren Elternhäusern verlieren. Auf der Strecke bleiben gerade
diejenigen, von denen alle beteuern, dass sie besonderer Förderung bedürften.
Faktisch können gerade Kinder aus sozial schwachen Milieus mit diesen offenen
Unterrichtsformen am schlechtesten umgehen. Sie brauchen Zuwendung, Anleitung,
Forderung und Ermutigung durch direkte Ansprache und enge Beziehung.
Wieso passen Reformpädagogik und
Ökonomisierung so gut zusammen?
Manche
Reformpädagogik sieht strukturiertes, lehrergeleitetes Lernen tendenziell als
der „freien“ Entwicklung des Kindes entgegenlaufend an. Dieser Naturalismus
behauptet, das Kind entfalte sich am besten von selbst oder indem man nur seine
Umgebung anregend einrichte. So haben es etwa Ellen Key oder Maria Montessori
formuliert. Hier wird ein Widerspruch zwischen menschlicher Natur und Kultur
konstruiert, womit die Ansprüche dieser Kultur als nicht kindgemäß gelten. Auf
der einen Seite haben wir nun das Prinzip „Markt“ als vermeintlich
naturgegebenen Raum, in dem sich das Individuum im Wettbewerb positionieren
soll. Auf der anderen Seite die Vorstellung von einer Art ökologischem
Reservat, in dem die „freie Entfaltung“ des Subjekts vonstattengehen soll.
Beide Räume sind frei von Kultur, von Tradition und Geschichte, von Wissen und
Können, von Verantwortung für das Gemeinwohl. Beide betonen und fördern das
egoistische Selbst: einmal als „homo oeconomicus“, einmal als „natürliches
Kind“. Beide verstehen Lernen als Anpassung an die Umgebung. Beide
vernachlässigen Bindung und Beziehung. Beide vereinzeln die Schüler und bringen
sie in verschärfte Konkurrenz zueinander. Ich bezeichne diese Gemengelage hier
einmal als „neoliberalen Ökologismus“.
Das ist merkwürdig und schwer verständlich.
In der
Tat, ich kann dies bislang auch nur vom Phänomen her analysieren. Fakt ist
aber, dass ausgerechnet rot-grüne Landesregierungen in Baden-Württemberg und
Nordrhein-Westfalen diese Modelle der Selbststeuerung derzeit mit aller Gewalt
durchsetzen – und das mit Unterstützung der üblichen neoliberalen Akteure wie
der Bertelsmann-Stiftung. Möglicherweise gibt es eine ideologische Konvergenz:
das geteilte Interesse an Macht und Steuerung? Auffallend ist, dass sowohl der
Neoliberalismus als auch der „progressive Ökologismus“ auf das Prinzip der permanenten
Reform und „schöpferischen Zerstörung“ setzen: Reform an sich gilt als gut. Wer
Reformen kritisiert, gilt als konservativ und reaktionär.
Beide Seiten verbindet ihr Reformeifer?
Gewissermaßen.
Und beide Seiten bewirken das, was Simone Weil hellsichtig als „mit Abstand die
gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaften“ bezeichnet hat: die
Entwurzelung. Ich halte es deshalb mit Pierre Bourdieu, der formulierte,
„Bewahrung“ sei heute die stärkste Kraft des Widerstands gegen die Macht der neuen
Ordnung, die als permanente Umwälzung daherkommt. Damit ist kein
Konservativismus der Macht, sondern der Sinngebung gemeint. Und das war und ist
die Aufgabe von Bildung und Bindung.
Herr Prof. Krautz, herzlichen Dank für das
interessante Gespräch.
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