24. Januar 2016

Neoliberalismus und Reformpädagogik

Unser Bildungswesen hat sich die letzten Jahre gravierend verändert. Warum eigentlich? Welche Leitbilder liegen dem zugrunde? Oder sollte man besser fragen: Wer profitiert davon? Profitieren dürften eigentlich nur die Schüler, doch die tun das offenbar nicht. Grund genug, sich über die Bedeutung und den Sinn von Erziehung und Bildung klar zu werden. 
Eine unheilige Allianz, Ökologie Politik, Nr. 169, 2016

Interview mit Prof. Dr. Jochen Krautz

ÖkologiePolitik: Herr Prof. Krautz, warum sind Erziehung und Bildung wichtig?

Prof. Dr. Jochen Krautz: Anthropologisch gesehen sind wir Menschen offene Wesen. Wir kommen im Vergleich mit anderen Säugetieren unfertig auf die Welt. Die Entwicklungspsychologie hat gezeigt, wie wichtig der Aufbau einer sicheren Bindung zum Kind ist, eben weil die weitere Entwicklung sich im „sozialen Uterus“ vollzieht: im Schoß der menschlichen Gemeinschaft. Sind dies zunächst Eltern und enge Bezugspersonen, so weitet sich dieses Beziehungsnetz, je älter wir werden. Doch können sich Erziehung und Bildung immer nur in interpersonaler Beziehung vollziehen. Hierdurch entfaltet der Mensch seine angelegte Sozialität, seine Fähigkeit zu Kooperation und Verstehen. Individualität entwickelt sich nur in und durch Gemeinschaft. Auch das Lernen beruht auf der spezifisch menschlichen Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit auf Fragen und Sachverhalte der gemeinsamen Welt. Aus Sicht der neueren Evolutionsbiologie unterscheidet uns Menschen diese Fähigkeit von anderen höheren Primaten: Wir können unsere Aufmerksamkeit gemeinsam auf ein Drittes richten und dabei voneinander wissen, dass wir dies tun. Wir treten in eine geistige Kooperation und stimmen unsere Vorstellungen von einer konkreten oder auch sehr abstrakten Sache aufeinander ab, indem wir versuchen, die Vorstellung des anderen nachzubilden, ihn zu verstehen – so wie Sie und später die Leser versuchen, den Inhalt unseres Gesprächs geistig zu erfassen. Das können nur wir Menschen.

Welche Bedeutung hat der Lehrer?

Der Lehrer kann den Schüler anregen, eine geistige Aktivität zu entfalten. Tun muss dies der Schüler aber selbst. Die klassische Bildungstheorie betonte daher schon immer, dass Bildung nur Selbstbildung sein kann. Man kann nicht gebildet werden. Ohne innere Aktivität geschieht gar nichts. Ein Lehrer kann und muss den Schüler dazu auffordern, ihn für etwas interessieren, ihn ermutigen, ermahnen, motivieren, unterstützen. So kann man jungen Menschen z.B. aus einer Lernentmutigung heraushelfen oder auch eine passiv-verwöhnte Haltung korrigieren. Aber dazu muss der Schüler kooperieren.

Ist nicht auch die Realität ein „Lehrmeister“?

Ja, in gewisser Weise. „Bindung“ und „Beziehung“ werden heute gerne missverstanden, als ginge es um ein persönliches Coaching, um Beziehungsarbeit unabhängig von der Sache. Wir haben aber ein pädagogisches Dreieck. Der Mittelpunkt ist die gemeinsame Arbeit an Weltzugängen, die die Schulfächer repräsentieren: die Sprachen, die naturwissenschaftliche Sichtweise, die historische Perspektive, die bildnerisch-gestalterische Dimension usw. Nur durch eine intensive Auseinandersetzung mit den „Realia“ – den Dingen und Themen unserer gemeinsamen Welt – entwickelt man sich zu einer reifen Persönlichkeit.

Ist der Leistungsanspruch richtig? Und wichtig?

Wenn Sie Leistung soziologisch als Anspruch von Wirtschaft und Gesellschaft zwecks Selektion und „Allokation von Chancen“ verstehen, dann würde ich diesem Leistungsanspruch nur ein begrenztes Recht einräumen. Ein pädagogischer Leistungsbegriff meint mehr: Schule stellt Aufgaben, weil wir in einer Welt leben, die uns immer schon Aufgaben stellt. Diese Aufgaben sind in den von den Schulfächern repräsentierten Weltzugängen und im Erziehungsauftrag der Schule präsent. Es geht um Inanspruchnahme und Entsprechung: Inanspruchnahme durch die Lebensaufgaben – aber nicht verkürzt durch einzelne gesellschaftliche Akteure wie die Wirtschaft, auch wenn das heute gerne suggeriert wird. Die Schule und jeder einzelne Lehrer müssen die Aufgaben, die sich aus Demokratie, Kultur und Wirtschaft ergeben, sowie den Anspruch der Sache und den Bildungsanspruch des jungen Menschen beständig pädagogisch austarieren, ohne zu vereinseitigen. Junge Menschen stärkt nicht, wenn wir sie vor Ansprüchen verschonen, sondern wenn wir Forderungen stellen und ihnen helfen, diese zu bewältigen – nicht indem wir die Anforderungen senken. Das wirkt sich verheerend auf Wissen, Können, Mündigkeit und Reife der Jugendlichen aus. Solche Erleichterungspädagogik suggeriert Kindern und Jugendlichen eine Scheinwelt, die im allverfügbaren Konsum ihre Entsprechung findet. Doch nur mit einem kritischen Realitätssinn, mit Wissen, Urteilskraft und sozialer Verbundenheit entwickeln sich Verantwortlichkeit und Mündigkeit als für eine demokratische Gesellschaft wesentliche Fähigkeiten.

Passen Erziehungsauftrag und Leistungsanspruch zusammen?

Zum Gegensatz wird das nur, wenn man den Leistungsbegriff verengt und Bildung auf „Kompetenzen“ reduziert. Dann kommt man auf die seltsame Idee, für jede Erziehungsaufgabe – zur Mitmenschlichkeit, zur Friedfertigkeit, zum Gewaltverzicht – eigene „Trainings“ und „Programme“ einrichten zu müssen, die außerhalb des Unterrichts stattfinden. Tatsächlich kann ein erziehender Unterricht beides leisten: Erziehung und Bildung. Dazu muss man Unterrichtsgegenstände so auswählen und behandeln, dass darin wesentliche menschliche Fragen sichtbar und diskutierbar werden. Dabei geht es nicht nur um Themen in Religion und Geschichte, sondern auch im Mathematikunterricht kann die Frage, ob und warum eine Prozentrechnung stimmt, sehr wohl zum Nachdenken darüber führen, was uns allerorten als „Sonderangebote“ feilgeboten wird, was das mit uns macht und wie wir uns dazu verhalten wollen. Zudem ist die Klassengemeinschaft von großer Bedeutung. Wenn man diese pädagogisch gestaltet, kann sie zu einem Ort werden, an dem sich wichtige soziale Erfahrungen machen lassen, an dem sich modellhaft erleben lässt, was es heißt, gemeinsam an etwas zu arbeiten, das eigene Tun zu verantworten, sich zu helfen, anderen etwas zu erklären, Konflikte friedlich zu lösen und miteinander Probleme anzugehen.

Momentan entwickeln sich die Lehrpläne in eine andere Richtung.

Ja – und das läuft den eben erläuterten Zielen von Bildung und Erziehung völlig zuwider. Die „Bildungsreformen“ der letzten beiden Jahrzehnte haben die größeren Zusammenhänge und Ziele von Bildung und Erziehung systematisch ausgeblendet. Sie befördern nicht die Entwicklung von Mündigkeit, sondern zersetzen Sozialität als Grundlage und Ziel der Pädagogik. Und ich verwende hier bewusst den Begriff „Zersetzung“ und nicht „Zerstörung“, um zu betonen, dass dies nicht zufällig geschieht.

Sondern?

Diese Entwicklung wurde strategisch konzipiert und umgesetzt. Und dabei sind zwei scheinbar widersprüchliche Strömungen beteiligt: Auf der einen Seite haben wir die Akteure einer Ökonomisierung von Bildung. Hierbei geht es nicht vorrangig um die Privatisierung von Schulen und Hochschulen zu profitablen Dienstleistungsbetrieben, sondern vor allem um die Neudefinition dessen, was man unter Bildung versteht, nämlich: Anpassungsleistung. Deshalb werden reales Wissen und Können wie auch Mündigkeit und Gemeinsinn abgebaut. Auf der anderen Seite haben wir eine bildungsromantisch-reformpädagogisch geprägte Fraktion. Die tendiert zu Erleichterungspädagogik, weil sie die pädagogische Bedeutung jener Inanspruchnahme verkennt. Stattdessen plädiert man für „Selbstentfaltung" und „Selbststeuerung“ der Kinder. So haben wir heute eine „große Koalition“ – oder besser: „unheilige Allianz“ – aus neoliberalen und reformpädagogisch klingenden Paradigmen, die vereint gegen Bildung und Wissen arbeitet.

Wie sieht „selbstgesteuertes Lernen“ aus?

Das Lernen im Klassenverband löst sich auf, die Schüler arbeiten an Einzelarbeitsplätzen, am besten per Sichtschutz getrennt und am PC wie in einem Großraumbüro. Der Lehrer unterrichtet nicht mehr, sondern stellt Arbeitsblätter zur Verfügung, verteilt „Lernjobs“ und berät als „Coach“. Die Schüler tragen ihren eigenen Lernfortschritt in Kompetenzraster ein. Das ist das perfekte Modell des in sich selbst investierenden, flexiblen Selbstunternehmers. Es geht hier um Anpassung an äußere Vorgaben, um eine subtile Form von Steuerung, getarnt als angebliche Selbstständigkeit. Dies zerstört Sozialität und Realität als Grundlagen von Mündigkeit systematisch. Übrig bleiben atomisierte Individuen, deren Lernen im Wortsinne „sinn-los“ ist, weil kein Sinnzusammenhang mehr gemeinsam erfahrbar ist.

Welche sozialen Konsequenzen hat das?

Es setzen sich die Starken durch, die gute Voraussetzungen haben und Eltern, die ihnen zu Hause selbst erklären oder durch Nachhilfelehrer beibringen lassen können, was der Lehrer in der Schule nicht mehr leistet. Die Schwachen aus bildungsferneren Elternhäusern verlieren. Auf der Strecke bleiben gerade diejenigen, von denen alle beteuern, dass sie besonderer Förderung bedürften. Faktisch können gerade Kinder aus sozial schwachen Milieus mit diesen offenen Unterrichtsformen am schlechtesten umgehen. Sie brauchen Zuwendung, Anleitung, Forderung und Ermutigung durch direkte Ansprache und enge Beziehung.

Wieso passen Reformpädagogik und Ökonomisierung so gut zusammen?

Manche Reformpädagogik sieht strukturiertes, lehrergeleitetes Lernen tendenziell als der „freien“ Entwicklung des Kindes entgegenlaufend an. Dieser Naturalismus behauptet, das Kind entfalte sich am besten von selbst oder indem man nur seine Umgebung anregend einrichte. So haben es etwa Ellen Key oder Maria Montessori formuliert. Hier wird ein Widerspruch zwischen menschlicher Natur und Kultur konstruiert, womit die Ansprüche dieser Kultur als nicht kindgemäß gelten. Auf der einen Seite haben wir nun das Prinzip „Markt“ als vermeintlich naturgegebenen Raum, in dem sich das Individuum im Wettbewerb positionieren soll. Auf der anderen Seite die Vorstellung von einer Art ökologischem Reservat, in dem die „freie Entfaltung“ des Subjekts vonstattengehen soll. Beide Räume sind frei von Kultur, von Tradition und Geschichte, von Wissen und Können, von Verantwortung für das Gemeinwohl. Beide betonen und fördern das egoistische Selbst: einmal als „homo oeconomicus“, einmal als „natürliches Kind“. Beide verstehen Lernen als Anpassung an die Umgebung. Beide vernachlässigen Bindung und Beziehung. Beide vereinzeln die Schüler und bringen sie in verschärfte Konkurrenz zueinander. Ich bezeichne diese Gemengelage hier einmal als „neoliberalen Ökologismus“.

Das ist merkwürdig und schwer verständlich.

In der Tat, ich kann dies bislang auch nur vom Phänomen her analysieren. Fakt ist aber, dass ausgerechnet rot-grüne Landesregierungen in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen diese Modelle der Selbststeuerung derzeit mit aller Gewalt durchsetzen – und das mit Unterstützung der üblichen neoliberalen Akteure wie der Bertelsmann-Stiftung. Möglicherweise gibt es eine ideologische Konvergenz: das geteilte Interesse an Macht und Steuerung? Auffallend ist, dass sowohl der Neoliberalismus als auch der „progressive Ökologismus“ auf das Prinzip der permanenten Reform und „schöpferischen Zerstörung“ setzen: Reform an sich gilt als gut. Wer Reformen kritisiert, gilt als konservativ und reaktionär.

Beide Seiten verbindet ihr Reformeifer?

Gewissermaßen. Und beide Seiten bewirken das, was Simone Weil hellsichtig als „mit Abstand die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaften“ bezeichnet hat: die Entwurzelung. Ich halte es deshalb mit Pierre Bourdieu, der formulierte, „Bewahrung“ sei heute die stärkste Kraft des Widerstands gegen die Macht der neuen Ordnung, die als permanente Umwälzung daherkommt. Damit ist kein Konservativismus der Macht, sondern der Sinngebung gemeint. Und das war und ist die Aufgabe von Bildung und Bindung.


Herr Prof. Krautz, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

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