Sprechen
überhaupt alle vom gleichen Text? Diese Frage stellt sich immer wieder, wenn
vom Lehrplan 21 die Rede ist. So verschieden wird dieser erste Versuch
eines einheitlichen Deutschschweizer Volksschullehrplans interpretiert. Zeugt er
von einem «zutiefst demokratischen Verständnis von Schule», wie Christine
Flitner von der Gewerkschaft VPOD schreibt? Oder soll mit ihm «alles, was in
der Schule gelernt wird, mess- und vergleichbar gemacht werden», wie die Lehrer
Alain Pichard und Beat Kissling befürchten? Ist er eine rigide Anleitung oder
eine offene Anregung? Bestimmt
haben schon die Pädagoginnen und Fachdidaktiker, die den Lehrplan 21 im
Auftrag der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) ausarbeiteten, nicht alle das
Gleiche darunter verstanden. Genauso wird der Lehrplan bei der Umsetzung sehr
verschieden interpretiert werden.
Das Misstrauen der LehrerInnen, Wochenzeitung, 28.1. von Bettina Dyttrich
Für den
grünen Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver ist der Fall allerdings klar:
«Der Lehrplan ist ein Kompass, kein Gesetzbuch, das man sklavisch umsetzen
muss. Es droht keine Lehrplanpolizei.» Er wünsche sich Lehrerinnen und Lehrer,
die auf sich vertrauten, verschiedene Unterrichtsformen ausprobierten, nicht
nur nach Schema unterrichteten. «Die Lehrpersonen sind nicht
Lehrplananwendungsmaschinen, sondern mündige Fachleute.»
Es wäre
schön, wenn das alle Schulbehörden so sähen. Doch lange nicht überall werden
die LehrerInnen so respektiert. Die Schule sei hierarchischer und
bürokratischer geworden, kritisieren sie in vielen Kantonen. Sie fühlen sich
übergangen, kontrolliert, nicht ernst genommen – von Schulleiterinnen,
Schulinspektoraten, Vertretern der pädagogischen Hochschulen.
Da
verbietet die Schulleitung einer Lehrerin, sich öffentlich politisch zu
äussern, dort wird ein Schulleiter nur eingestellt, wenn er verspricht, sich
über die LehrerInnen hinwegzusetzen. Viele spüren von oben vor allem eines:
Misstrauen. Kein Wunder, dass sie selbst mit Misstrauen auf Reformen von oben
reagieren. Ein Schulleiter, dem es um seine persönliche Macht geht, kann auch
den Lehrplan 21 benutzen, um seine Untergebenen zu kontrollieren.
Einiges
ist wirklich gut am neuen Lehrplan: Er gibt der Umwelt- und der politischen
Bildung den Platz, die sie verdienen. Auch dass er in der Oberstufe die Themen
Wirtschaft, Arbeit und Haushalt zu einem Fach zusammenfasst, ist erfreulich. Es
stimmt, die Anforderungen sind hoch – aber dass die Bildung hohe Ziele
steckt, ist nicht problematisch. Sondern dass die hohen Ziele letztlich der
Selektion dienen. Das ist nicht neu und nicht die Schuld des Lehrplans
21.
Doch wie
soll die Schule das alles umsetzen? Eine Schule, die überall sparen soll, in
der immer weniger Zeit für das einzelne Kind bleibt? Die Oberstufenzeit ist für
viele Jugendliche zu einer Zeit der Angst geworden: Angst, keine Lehrstelle zu finden,
den Anforderungen des Lehrbetriebs nicht zu genügen, an der Gymiprüfung zu
scheitern. Da bleibt kaum noch die Konzentration, um sich in die spannenden
Themen zu vertiefen, die der Lehrplan vorsieht: die Französische Revolution,
die Analyse von Figuren in literarischen Texten oder erneuerbare Energien.
Und die
Angst wird immer jünger: In der Nordwestschweiz beginnen die
schulübergreifenden «Checks» schon in der dritten Primarklasse – mit dem
entsprechenden Druck auf die LehrerInnen, den Unterricht auf diese Tests
auszurichten. Das sind viel grössere Gefahren für die humanistische Bildung als
Begriffe wie «Kompetenzen» oder «Lernumgebungen» im Lehrplan. Checks und
Sparmassnahmen: Dagegen sollten sich LehrerInnen und Linke wehren.
Denn um
zu verhindern, dass er zum Kontrollinstrument wird, muss man nicht den Lehrplan
21 selbst bekämpfen, sondern sich für Strukturen und Behörden einsetzen,
die die LehrerInnen stärken, damit sie den Unterricht selbstbewusst gestalten
können. Damit sie als das respektiert werden, was sie sind: mündige Fachleute.
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