In den
letzten 25 Jahren hat sich die Schule stark verändert. Viele LehrerInnen
kritisieren neue Hierarchien, fehlende Mitsprache und überbordende Bürokratie.
Wie ist es dazu gekommen? Und was lässt sich dagegen tun?
Der Umbruch kam auf leisen Sohlen, Wochenzeitung, 28.1. von Bettina Dyttrich
Georg
Geiger ist seit bald zwanzig Jahren Gymnasiallehrer in Basel. Und er ist es
gerne: Literatur, Philosophie und Geschichte faszinieren ihn, und er mag die
Arbeit mit Jugendlichen. In diesem Beruf kann er beides verbinden.
Dennoch
findet Geiger die Arbeit in der Schule zunehmend frustrierend: «Man hat einen
immer grösseren administrativen Aufwand und immer weniger zu sagen.»
Standardisierte Vergleichstests im ersten Gymijahr, immer wieder Fragebögen,
die akribisch ausgewertet werden müssen, MitarbeiterInnengespräche, an denen
«Zielvereinbarungen» formuliert werden, Formulare für die Absenzen und die
Praktika, Prüfungsdokumentationen …
Gleichzeitig
schwinde die Mitsprache: «In unserer Schule wird ein neuer Rektor gewählt.
Bisher hatte das Kollegium ein Anhörungsrecht. Wer Rektor werden wollte,
stellte sich vor, und es gab eine strukturierte Diskussion. Jetzt wird das
abgeschafft. Der Mittelschulleiter des Basler Erziehungsdepartements sagt,
Hearings seien aus Personenschutzgründen nicht rechtens und könnten zu
unzumutbaren Blossstellungen führen. Dabei ist das nie passiert!»
Gremien erfinden sich selbst
Auf
vielen Ebenen sei die Schule hierarchischer geworden, sagt Geiger: «Man hat
immer mehr Funktionsstellen über sich. Gremien entstehen, indem sie behaupten,
sie seien zuständig. Zum Beispiel treffen sich in Basel die Gymirektoren
regelmässig mit dem kantonalen Mittelschulleiter – dieses Gremium hat
nie jemand offiziell eingeführt. Vielleicht ist diese Entwicklung nötig, weil
die Strukturen grösser und komplexer werden. Aber als Lehrer erlebe ich sie als
Entdemokratisierung.»
Es sei
schwierig, sich zu wehren, da viele Reformen mit hehren Absichten verkauft
würden: «Man nimmt einen guten Gedanken – etwa die Inklusion behinderter
Kinder in die Regelklassen – und setzt ihn bürokratisch von oben nach
unten um. Das Ergebnis ist oft schlechter und teurer als das, was vorher war.
Jetzt zwängt man diese Kinder in den Regelunterricht, aber es darf nicht mehr
kosten. Sie sind heillos überfordert.»
Georg
Geiger ist nicht der Einzige. Viele LehrerInnen aller Stufen berichten
Ähnliches: Die Schule werde hierarchischer, verbunden mit einer überbordenden
Bürokratie, sie fühlten sich nicht mehr ernst genommen und hätten immer weniger
Zeit für ihre Kernaufgabe – das Unterrichten.
Auch die
LehrerInnen, die sich im letzten Herbst der Debatte «Was läuft schief in der
Bildungspolitik?» des linken Thinktanks Denknetz im Liestaler Kulturzentrum
Palazzo zu Wort melden, sind sich weitgehend einig: «Man will nicht mehr, dass
die Basis die Schule gestaltet.» Ein Lehrer erzählt, er habe gekündigt, weil er
sich so entmündigt gefühlt habe: «Das Schulhaus wurde renoviert, und unsere
Bedürfnisse wurden null berücksichtigt, nicht einmal bei den Waschbecken.
Dasselbe bei der Abschaffung der Kleinklassen: Es gab keine Mitsprache, es
wurde einfach befohlen.» Ein anderer berichtet von Bewerbungsgesprächen für
eine Schulleitungsstelle: «Die Bewerber wurden gefragt: ‹Sind Sie bereit,
Entscheidungen gegen den Willen Ihrer Lehrpersonen durchzusetzen?›»
Globalisierung fördert Kantönligeist
Die
aktuelle Diskussion entzündet sich am Lehrplan 21 (vgl. Seite 1). Doch die
Gründe für den Unmut liegen tiefer. In den letzten zwei Jahrzehnten blieb in
den Schulen kaum ein Stein auf dem anderen. Die Laiengremien, die in der
föderalistischen Schweiz seit dem 19. Jahrhundert eine grosse Rolle in der
Schulverwaltung und -aufsicht spielten, haben an Bedeutung verloren: Ausser in
Appenzell Innerrhoden sind Schulleitungen heute in der ganzen Deutschschweiz
Standard. Aus der Lehrerseminarausbildung, die direkt nach der Sekundarschule
begann, ist ein Masterstudium geworden. Gleichzeitig wälzte der Bologna-Prozess
die universitäre Bildung um – auch die LehrerInnenbildung. Und
spätestens seit den ersten Pisa-Tests im Jahr 2000 hat die Debatte über
schulische Standards und schulübergreifende Tests die Schweiz erreicht.
Es sind
internationale Entwicklungen, auf die die Schweiz reagiert. Aber weil
hierzulande die Kantone für die Schulbildung zuständig sind, trifft die
internationale Ebene direkt auf die kantonale – Globalisierung vermischt
sich mit Kantönligeist. Oder fördert ihn sogar: «Die Globalisierung hat zu viel
mehr Wettbewerb zwischen den Kantonen geführt», sagt der ehemalige Aargauer
SP-Nationalrat Hans Zbinden. «Alle sehen sich als ‹Standortkantone›. Dieser
Wettbewerb fördert den Lernaustausch nicht. Es ist wie früher im Klassenzimmer:
Man stellt ein Mäppchen auf, damit der Banknachbar nichts sieht.»
Zbinden
sass bis 2002 im Nationalrat, er hat auf allen Stufen der Schweizer Bildung
gearbeitet – als Kindergärtner, Primarlehrer, Rektor, Hochschuldozent
– und war vielleicht der letzte linke Bildungspolitiker mit
gesamtschweizerischem Blick. «In der Bildung ist die Schweiz bis heute ein
Staatenbund, kein Bundesstaat», sagt er heute. Entsprechend steht an der Spitze
der Schweizer Volksschule kein Bundesamt, sondern die
Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), das Gremium der zuständigen
Regierungsräte. «Weil die Arbeitsbedingungen kantonal sind, fokussiert sich die
Bildungspolitik stark auf die kantonale Ebene, auch in der SP», sagt Zbinden.
Grosse
Veränderungen – wie die geleiteten Schulen – kamen schleichend:
Ein Kanton nach dem anderen führte sie ein, und am Ende war die Schule eine
andere, ohne dass eine gesamtschweizerische Diskussion stattgefunden hatte.
Genauso diskussionslos hat die Schweiz 1999 die Bologna-Deklaration
unterzeichnet. Hingegen verursachen viel weniger grundlegende Fragen wie die
erste Fremdsprache riesige Kontroversen. «Laute Kleinreformen – leise
Grossreformen» hat Zbinden dieses Paradox schon vor einigen Jahren auf den
Punkt gebracht.
Hans
Zbinden hat den neuen Bildungsverfassungsartikel entworfen, über den 2006
abgestimmt wurde. Damit sollten die Dauer von Primar- und Sekundarschule, die
Bildungsinhalte und die Übertritte von einer Stufe in die andere
vereinheitlicht werden – so weit, dass Kinder problemlos den Kanton
wechseln können, ohne den Anschluss zu verlieren. Der Bildungsartikel war ein
grosser Schritt weg vom Kantönligeist – nur interessierte er damals
niemanden: Ein Abstimmungskampf fand nicht statt, die Stimmbeteiligung lag bei
gerade einmal 27 Prozent, davon stimmten 86 Prozent Ja. «Es gab keine
Diskussion und deshalb auch keine Verankerung in der Öffentlichkeit», sagt
Zbinden heute.
Umso
heftiger brach die Diskussion um das Harmos-Konkordat los, das den
Verfassungsartikel umsetzen sollte. Rechte und freikirchliche Kreise fürchteten
eine «Verstaatlichung der Kindheit», ergriffen in vielen Kantonen das
Referendum und gewannen es teils auch, etwa in Schwyz, Luzern und im Thurgau.
Seither folgt eine Volksschulkontroverse auf die andere.
Alle Macht den Schulleitungen?
Die
Schule ist hierarchischer geworden – doch das liegt weniger an Harmos
oder an Beschlüssen der EDK als an der neuen Hierarchiestufe in jedem
Schulhaus: den SchulleiterInnen. Sie beurteilen den Unterricht der Lehrkräfte,
stehen im Kontakt mit staatlichen Stellen, Heilpädagoginnen, Schulpsychologen
und Eltern und planen Projekte, die das ganze Schulhaus betreffen.
«Die
Einführung der Schulleitungen war eine viel tiefgreifendere Änderung als der
Lehrplan 21», sagt Christina Rothen. «Aber es gab nirgends einen Aufschrei.»
Rothen war Primarlehrerin, danach studierte sie Erziehungswissenschaften,
dozierte an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, schrieb ihre Dissertation
über die Primarschulverwaltung im Kanton Bern und arbeitet jetzt an der
Universität Zürich. Gute Voraussetzungen, um die unübersichtliche
Deutschschweizer Bildungslandschaft zu verstehen. Die Schulleitungen sieht sie
kritisch: «Ihre Einführung war mit den
New-Public-Management-Verwaltungsreformen verbunden. Es ist widersprüchlich,
die Lehrerausbildung professionalisieren zu wollen und gleichzeitig eine neue
Hierarchiestufe einzuführen, die die Selbstbestimmung der Lehrerinnen und
Lehrer untergräbt. Sie können ihre Arbeit nicht selbst gestalten, wenn sie
einer Hierarchie gegenüber loyal sein müssen.» Sie vertrete die Philosophie,
dass man Macht bändigen müsse, indem man sie verteile, sagt Christina Rothen.
Mit den Schulleitungen sei das Gegenteil geschehen: «Wir geben Einzelpersonen
sehr viel Macht. Damit das gut geht, braucht es unglaublich gute, integre Leute
auf diesen Posten.»
Was nicht
immer der Fall ist. Schulleitungen könnten «sowohl rational als auch irrational
handeln», schreibt Christina Rothen lakonisch in ihrer Dissertation. Wer im
Alltag mit LehrerInnen zu tun hat, kennt die Geschichten von SchulleiterInnen,
denen persönliche Machtkämpfe wichtiger sind als das Wohl der Schule. «Eine
gute Schulleitung gibt den Lehrpersonen Freiheiten, eine schlechte ist der
Horror», fasst die Erziehungswissenschaftlerin zusammen. «Ich denke, dass sich
als Folge dieser Entwicklung auch andere Leute für den Lehrerberuf entscheiden
als früher. Solche, die sich in Hierarchien wohlfühlen.»
Auch das
New Public Management (NPM) war und ist eine internationale Entwicklung
– aber eine, die bestens zur geschäftstüchtigen Schweizer Mentalität passt.
Vorreiter des NPM in der Schule war der Zürcher CVP-Regierungsrat Ernst
Buschor, bei der Umsetzung der Verwaltungsreformen arbeiteten vielerorts
SozialdemokratInnen und Neoliberale zusammen – es hat mit solchen
Allianzen zu tun, dass viele linke LehrerInnen das Gefühl haben, mit ihrer
Kritik gegen eine Wand anzurennen. Er habe oft mit SP-KollegInnen gestritten,
weil sie zusammen mit der FDP das New Public Management am stärksten
unterstützt hätten, sagt Hans Zbinden. Georg Geiger erwähnt die gleichen
Verbindungen: «FDP- und SP-Leute treiben die Hierarchisierung und Normierung in
den Schulen voran – die einen aus ökonomischen Gründen, die anderen,
weil sie denken, das mache die Schule gerechter.»
Wer
New-Public-Management-Literatur liest, wundert sich nicht mehr, dass kritische
LehrerInnen manchmal leicht paranoid klingen. Zum Beispiel «Die teilautonome
Schule» (2011) von Wirtschaftspädagoge Rolf Dubs, einem ehemaligen Rektor der
Universität St. Gallen: Zu den Merkmalen des New Public Management zählt Dubs
explizit den «Widerstand gegen Forderungen der Gewerkschaften». Um die
Lehrkräfte weniger misstrauisch zu machen, solle man statt von NPM lieber von
«wirkungsorientierter Verwaltungsführung» sprechen. Das Buch liest sich wie ein
Ratgeber im Umgang mit widerspenstigen LehrerInnen.
Ein dicker Kompass
Und jetzt
also der Lehrplan 21. Er listet auf, was SchülerInnen alles können müssen: 363
«Kompetenzen», aufgeteilt in über 2000 «Kompetenzstufen». Solche
Wirtschaftsjargonbegriffe machen KritikerInnen misstrauisch. Sie befürchten,
Bildung werde auf messbare Tätigkeiten reduziert und damit ihres kritischen
Potenzials beraubt. Wer den Lehrplan liest, stösst allerdings auf viele
«Kompetenzen», die in bester Tradition der Aufklärung stehen und sich kaum
messen lassen: Die SchülerInnen sollen sich etwa mit Geschlechterrollen
auseinandersetzen, die Menschenrechte kennen oder ihr Konsumverhalten
reflektieren.
Hans
Zbinden versteht die Aufregung um den Kompetenzbegriff nicht ganz: «Er wurde
auch früher schon in der Pädagogik verwendet. Ich finde ihn nicht so schlimm,
weil sowieso niemand genau weiss, was er bedeuten soll.» Trotzdem sieht er den
Lehrplan 21 kritisch – dieser sei von Anfang an falsch konzipiert
worden: «Nicht von den Betroffenen her, sondern top-down.»
Die
Erziehungsdirektorenkonferenz habe den Verfassungsartikel falsch verstanden:
«Ich habe ihn bewusst Bildungsrahmenartikel genannt: Oben setzt man einen
Rahmen, aber lässt darin viel Gestaltungsspielraum, Raum für kreative Lösungen.
Mir schwebte das so vor: Ein Drittel legt der Bund fest, ein Drittel die
Kantone, ein Drittel die Schulen vor Ort. Mit einem solchen Konzept hätte man
die Bevölkerung hinter sich, da bin ich überzeugt. Und man könnte
sprachregionale und regionale Spezifika belassen. Partnerschaftlich statt
top-down.»
Ein
Lehrplan müsse ein Alltagswerkzeug sein, ein Kompass. Aber dafür sei der
Lehrplan 21 viel zu umfangreich. «Viele gute Leute aus der Praxis waren bei der
Planung dabei, aber man sieht, dass alle versuchten, ihre Interessen
reinzubringen. Welcher Lehrer hat im Alltag Zeit, ein solches Buch zu lesen?»
Wochenlang testen
Viel
beunruhigender als der Lehrplan ist allerdings eine andere Entwicklung: das
überbordende Testwesen. Einige Kantone setzen auf standardisierte «Checks», die
ausserhalb der Schule von Universitätsinstituten oder Firmen entwickelt und
ausgewertet werden. In der Nordwestschweiz sind sie bereits üblich.
Die
Kantone Basel-Stadt und Baselland, Aargau und Solothurn arbeiten in
Bildungsfragen zusammen, koordinieren die LehrerInnenbildung und haben nun auch
gemeinsam Checks in der Volksschule eingeführt – in Natur und Technik,
Deutsch, Englisch, Französisch und Mathematik. Geprüft wird in der dritten und
der sechsten Primar, in der zweiten und der dritten Sek. Die Checks dienten
«der Förderung und der Standortbestimmung» und seien «kein Prüfungsinstrument»,
heisst es in einem Elternbrief der Baselbieter Bildungsdirektion vom Sommer
2014.
Die Idee
tönt ja gut: Mit einem Test, den alle machen müssen, bekommt das Kind eine
objektive Beurteilung seiner Leistung, unabhängig von den Besonderheiten seiner
Klasse oder den Sympathien der Lehrerin. Danach kann es gezielt dort gefördert
werden, wo es Mühe hat.
Doch
Florence Brenzikofer, grüne Baselbieter Kantonsrätin und Sekundarlehrerin in
Liestal, ist skeptisch. Sie wird ihre Klasse 2017 erstmals prüfen müssen;
miterlebt hat sie die Tests bereits bei ihrem Sohn, der die sechste
Primarklasse besucht. «Für gute Schülerinnen und Schüler sind die Checks kein
Problem, aber für Kinder mit Prüfungsangst eine enorme Belastung. Sie dauern
über einen Zeitraum von mehreren Wochen», sagt sie. «Die Checks führen zu einer
verschärften Konkurrenz unter Kindern, Schulklassen und Lehrpersonen. Es heisst
zwar, die Resultate würden nicht veröffentlicht, ein Schulranking sei
ausgeschlossen. Aber wer weiss, ob das so bleibt?» Vor allem befürchtet
Brenzikofer, dass die Tests den Unterricht verändern und statt vertiefter
Bildung die kurzfristige Vorbereitung auf die Prüfungen in den Vordergrund
rückt – «teaching to the test» nennt man das im angelsächsischen Raum.
Ist die
Nordwestschweiz der erste Dominostein in einer Entwicklung, die die ganze
Schweiz erfassen wird? Der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver kann sich
das nicht vorstellen: «Was die Nordwestschweiz macht, nehmen die anderen
Kantone eher aus Distanz zur Kenntnis. Für uns in Bern ist es undenkbar.»
Allerdings
plant die EDK eine eigene Überprüfung der «Grundkompetenzen» – als
Ersatz für die Pisa-Tests, an denen die Schweiz nur noch sehr reduziert
(letztes Jahr mit 5000 Jugendlichen) teilnimmt. Dieses Jahr sollen rund tausend
NeuntklässlerInnen pro Kanton eine dreistündige Mathematikprüfung absolvieren,
nächstes Jahr kommt dann die Muttersprache dran. Bernhard Pulver nimmt die
Gefahr von Schulrankings ernst. «In kleinen Kantonen, wo alle Schulen mitmachen
müssen, damit es statistisch relevante Daten gibt, werden wir mit technischen
Massnahmen dafür sorgen, dass keine Rankings möglich sind – die EDK wird
nur das Schlussergebnis pro Kanton erhalten.»
Keine
Ranglisten zwischen einzelnen Schulen also – aber Ranglisten zwischen
Kantonen? Das sei ein Problem, räumt Pulver ein. «Wichtig ist, dass der Kanton
Bern weiss: Erreichen wir die Ziele – gut, knapp oder gar nicht? Aber
ich will nicht wissen, ob der Kanton Freiburg im gleichen Fach fünf Punkte
besser abschneidet. Sonst reden alle nur noch davon, das führt zu politischem
Aktionismus und sinnloser Reformitis.»
Wild arbeitende Lobbys
Warum
wächst die Bürokratie ausgerechnet in einem politischen Klima, in dem fast alle
sparen wollen? Diese Frage treibt Beat Ringger, den Sekretär des Denknetzes,
schon lange um. Inzwischen hat er Antworten: «Neoliberale Bürokratie» heisst
ein Text, den er zusammen mit dem Sozialwissenschaftler Bernhard Walpen für das
neuste «Denknetz-Jahrbuch» geschrieben hat. Der Titel überrascht: Schliesslich
werden die Neoliberalen nicht müde, die Staatsbürokratie als ineffizient und
aufgebläht anzuprangern. «Davon haben auch wir uns lange blenden lassen», sagt
Ringger. «Dabei fördert der Neoliberalismus die Bürokratisierung massiv: weil
Dienstleistungen zu Waren umgeformt werden. Dafür muss man sie quantifizieren.
In der Bildung macht man das mit Tests. Dann kann man das System deregulieren
und private Elemente reinbringen.»
Aber
Bildung lasse sich genau wie Pflege schlecht quantifizieren: «Der innere Gehalt
wird verändert, wenn man zu messen anfängt.» Die Messung verändert das
Gemessene – was für die Quantenmechanik gilt, gilt auch für die Schule.
Lehrer Georg Geiger gibt ein Beispiel: «Prüfungen werden grundsätzlich
schlechter, wenn man sie standardisiert; normieren heisst immer vereinfachen.
In Österreich wird Literatur an der Matura nicht mehr geprüft – weil sie
nicht beurteilbar sei.» Und Standardisierung führt wiederum zu mehr Bürokratie,
wie Beat Ringger ausführt: «Man muss sicherstellen, dass alle die gleichen
Tests machen, und dann muss man sicherstellen, dass niemand geschummelt hat …»
Ein Blick in die USA zeigt, wohin das führen kann: Dort sind
Schulvergleichstests zu einem enormen Druckmittel geworden. In manchen Schulen
hängt der Lohn oder sogar der Job der LehrerInnen von den Ergebnissen ab
– ein klarer Anreiz, Ergebnisse zu manipulieren.
Im
Denknetz-Text analysiert Ringger das Phänomen im Gesundheitswesen, wo es
– mit Fallpauschalen und der Zerstückelung der Pflegezeit in Tarifminuten
– schon viel weiter fortgeschritten ist als in der Bildung. Doch viele
Tendenzen liessen sich auf die Bildung übertragen, sagt Ringger: «Sobald sich
eine starke privatwirtschaftliche Lobby in einem Bereich des Service public
festgesetzt hat, arbeitet sie wie wild und verteidigt ihre Privilegien. Wir
müssen verhindern, dass es so weit kommt.»
Die Suche nach dem Schulkonsens
Was ist
die Aufgabe der Schule? Soll sie mündige, kritische Menschen bilden oder
«Humankapital» für die Wirtschaft bereitstellen? Der Druck, die Schule auf
Letzteres zu reduzieren, ist gross – von rechten Parteien,
WirtschaftsvertreterInnen, aber auch von vielen Eltern. Die Bildung sei zum
Seitenwagen der Wirtschaft geworden, sagt Hans Zbinden. «Und es ist nicht der
Seitenwagen, der Gas gibt.»
Wie kann
sich die Linke gegen diese Entwicklungen wehren? Der Föderalismus ist auch hier
Chance und Hindernis zugleich: Einerseits erschwert er zentralistische
Top-down-Reformen. Andererseits behindert er den Austausch, weil kaum jemand den
Überblick hat, was in anderen Kantonen gerade geschieht. Sich den
rechts-christlich und SVP-dominierten Initiativkomitees gegen den Lehrplan 21
anzuschliessen, die in vielen Kantonen entstanden sind, kann es jedenfalls
nicht sein.
Beat
Ringger schlägt einen «linken Schulgrundkonsens» vor: «Gemeinsame Forderungen
könnten sein: Keine Checks, kein Schulranking, Methodenfreiheit, Mitbestimmung
der Basis. Dann gäbe es auch keine Allianzen mit der SVP.»
Und
Erziehungswissenschaftlerin Christina Rothen sagt: «Wir sollten von Pisa
gelernt haben, dass es unglaublich schwierig ist, Daten zu vergleichen. Und
dass solche Vergleiche immer ein Druckmittel sind. Ich wünsche mir mehr
Aufmüpfigkeit im Umgang mit den neuen Evaluationsinstrumenten.»
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