Der Lehrplan 21 kommt in den ersten
Kantonen vors Volk. Für das Reformprojekt sind diese Stimmungstests
entscheidend. Bisher waren vor allem die Gegner zu hören, nun werden die
Befürworter aktiv - und holen die Wirtschaft an Bord.
2016 als entscheidendes Jahr für den Lehrplan 21
Wirtschaft will den Lehrplan 21, NZZ, 30.1. von Erich Aschwanden und Daniel Gerny
Die Landsgemeinde im Kanton Appenzell Innerrhoden ist jeweils ein
regionales Highlight, doch in diesem Jahr blickt die gesamte schweizerische
Bildungslandschaft gespannt nach Appenzell: Dort entscheiden die
Stimmberechtigten am 24. April über eine Einzelinitiative unter dem Titel «Für
eine starke Volksschule». Das Begehren verlangt, dass künftig das
Kantonsparlament und via fakultatives Referendum gar das Volk und nicht bloss
die Landesschulkommission über die Lehrpläne entscheidet. Es ist der erste Volksentscheid
dieser Art im Land. Der Initiant will mit diesem Vorgehen erklärtermassen die
Einführung des Lehrplans 21 verhindern. Wie die Landsgemeinde entscheidet, ist
offen.
Volksabstimmung im
Baselbiet
Vielerorts
versuchen die Gegnerinnen und Gegner, den Entscheid über den Lehrplan 21 durch
eine solche Kompetenzverlagerung auf die politische Ebene zu hieven - und das
Projekt so zu verhindern. Bereits im Juni folgt die nächste Bewährungsprobe vor
dem Volk - dieses Mal an der Urne. Der Kanton Basel-Landschaft entscheidet
ebenfalls über eine Initiative, die die Genehmigung der Lehrpläne von einem
Fachgremium auf das Kantonsparlament übertragen will. Klar ist, dass die
Einführung des umstrittenen Lehrplans auf der Baselbieter Sekundarstufe mehr
als schwierig wird, wenn die Initiative angenommen wird. Die Opposition ist
inzwischen so breit abgestützt, dass allgemein mit einer Zustimmung zur
entsprechenden Initiative gerechnet wird. Ähnliche Volksbegehren sind in
zahlreichen anderen Kantonen unterwegs.
Doch
wird dadurch das Reformprojekt ernsthaft gefährdet? Ist der Widerstand im
Baselbiet, wo die Diskussionen über den Lehrplan begannen, genügend stark, um
einen Dominoeffekt in der ganzen Schweiz auszulösen? Die Gegner hoffen darauf:
Der grüne Bildungspolitiker Jürg Wiedemann, der sich wegen Bildungsfragen mit
seiner Partei zerstritten hat, stellt fest, dass der Lehrplan längst nicht mehr
nur von konservativen Gruppierungen abgelehnt werde. Das Baselbiet sei in
Bildungsfragen schon früher Vorreiter gewesen. Spreche sich das Volk für die
Initiative aus, müsse dies als Ausdruck eines breiten Unbehagens auch mit Blick
auf andere Kantone gewertet werden.
Diffuses Unbehagen
«Diese
Volksabstimmungen werden kein Spaziergang», erklärt vor diesem Hintergrund der
Schaffhauser Erziehungsdirektor Christian Amsler, der die Deutschschweizer
Erziehungsdirektorenkonferenz (D-EDK) präsidiert. Dort ist man sich der
Wichtigkeit der anstehenden Volksentscheide inzwischen sehr wohl bewusst,
nachdem der Widerstand zuerst lange eher unterschätzt worden war. Sorge
bereitet den Bildungsdirektoren vor allem ein diffuses Unbehagen breiter
Bevölkerungskreise gegenüber Schulreformen. Es bestehe die Gefahr, dass sich
die Stimmbürger gar nicht wirklich mit dem Lehrplan 21 auseinandersetzten,
sondern die Debatte darüber zum Anlass für generelle Unmutsbezeugungen nähmen.
Wirtschaft will
Selbständigkeit
Anzeichen
dafür gibt es: Aus einer anfänglich vorwiegend konservativ oder eher
rechtsbürgerlich geprägten Skepsis ist eine unübersichtliche und durchmischte
Allianz geworden. Im Dezember sorgte beispielsweise der Bieler Lehrer Alain
Pichard mit einer Streitschrift mit dem Titel «Einspruch!» für Nervosität.
Darin äusserten sich linke Politiker, Bildungswissenschafter und
Kulturschaffende kritisch zum Projekt. Die unterschiedlichen Motive sowie die
Heterogenität der Gegnerschaft führen dazu, dass die ohnehin schon komplexe
Diskussion schwer fassbar und inhaltlich teilweise diffus wird.
Inzwischen
werden auch die Befürworter aktiv: Die D-EDK erarbeitet derzeit für die Kantone
ein Argumentarium, das der Kritik von rechts und links Contra bieten soll.
«Ausserdem sind wir daran, wichtige Player an Bord zu holen, die uns in den
anstehenden Abstimmungskämpfen unterstützen. Dazu gehören die Wirtschaft, das
Gewerbe und die Lehrerschaft», erklärt Amsler.
Interessanterweise
bezeichnet Ivo Zimmermann vom Verband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und
Metallindustrie (Swissmem) die Kompetenzorientierung als zentral für die
Wirtschaft - und verteidigt damit just das umstrittenste Element der Reform.
«Die Kompetenzorientierung, sprich, sich die Fähigkeit zu erarbeiten, Probleme
zu lösen, ermöglicht einen nahtlosen Übergang von der Sekundarstufe in die
Berufslehre», davon ist Zimmermann überzeugt.
Parlamente für Lehrplan
Swissmem
will in erster Linie seinen Mitgliederfirmen die Bedeutung und Relevanz des
Lehrplans 21 klarmachen. Sie sollen anschliessend in den Kantonen ihren Beitrag
leisten, dass das Reformprojekt wie geplant in der ganzen Deutschschweiz
eingeführt werden kann. Der Schweizerische Gewerbeverband hat die kantonalen
Gewerbeverbände über die Vorlage informiert und empfohlen, diese auf kantonaler
Ebene zu unterstützen. Auch Economiesuisse hält die Einführung des Lehrplans
für vordringlich: «Bildung muss zu einer selbständigen Lebensweise befähigen»,
erklärt Stefan Vannoni von Economiesuisse. Der Lehrplan 21 bringt in dieser
Hinsicht zahlreiche Vorteile. Vannoni betont dabei aber, dass der Verband die
kantonale Bildungshoheit respektiere.
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