1. Dezember 2015

Wie viel Integration ist machbar?

Sie schlägt, sie schreit, sie beleideigt ihre Mitschüler. Ein verhaltensauffälliges Mädchen bringt die Lehrerin einer Hamburger Stadtteilschule an ihre Grenzen. Die Pädagogin fragt sich: Ist das der Preis des gemeinsamen Lernens?











Wann wird die Inklusion zu viel für die Lehrkräfte? Bild: Peter Endig
Oh, Delia, Die Zeit, 29.11. von Nicola Meier


Ich erinnere mich noch an den ersten Schultag, im August vor zwei Jahren. Als Klassenlehrerin übernahm ich die fünfte Klasse, Delia* war aber gar nicht da. Ihre Mutter hatte den Schulstart versäumt. Am dritten Tag kam sie dann: einen Kopf größer als die anderen, moppelig, ein bisschen überdreht. Im Unterricht wurde mir schnell klar, dass Delia eine extrem schwache Schülerin ist. Sie versuchte mitzumachen, aber nach ein paar Wochen hörte sie auf, sich anzustrengen. Sie brachte ihre Materialien nicht mehr mit, machte keine Hausaufgaben. Die Sportlehrerin sagte mir: Delia hat Ärger mit den anderen, sie flippt aus, schreit herum, tritt um sich. Delia selber sagte: Es ist alles in Ordnung. Aber das war es nicht. Sie sah zunehmend ungepflegter aus, trug immer dieselben schmuddeligen Jeans und Jogginghosen. Und sie nahm stark zu, man konnte zugucken, wie ihre Kleidung enger wurde.
Ich habe sieben Mal versucht, Delias Mutter telefonisch zu erreichen. Ich weiß es so genau, weil ich es aufgeschrieben habe. Bis es Anfang Dezember zu einem ersten Telefonat kam, musste die Schule einen Brief schicken.
Delias Eltern hatten sich getrennt. Am Wochenende lebte Delia beim Vater, unter der Woche bei ihrer Mutter. Das Verhältnis der beiden schien schlecht zu sein, die Mutter war mit der Erziehung von Delia überfordert. Sie begann am Telefon sofort zu weinen. Mir war klar: So würden wir nicht weiterkommen.
Ich schaltete die Sozialpädagogin der Schule ein, künftig sollte Delia einmal die Woche zur Beratung. Viele Termine versäumte sie. Wenn sie kam, blieben die Gespräche oberflächlich.
Delia kam zwar jeden Tag zum Unterricht, beteiligte sich aber gar nicht mehr. Wenn man sie drannahm, wusste sie nicht, worum es ging. In den Pausen rastete sie aus, schlug zu. Versuchte man, mit ihr zu sprechen, brüllte sie nur rum. Ein Mädchen wie Delia, 12 Jahre alt, mit einem so auffälligen Verhalten und einer deutlich verzögerten sozial-emotionalen Entwicklung wäre früher an einer Sonderschule unterrichtet worden. Mit der Inklusion aber sollten jetzt alle Kinder gemeinsam lernen.
Im Mai 2014 gab es ein persönliches Treffen mit der Mutter, bei dem ich das Thema Erziehungshilfe ansprach. Die Mutter hatte schon einmal Hilfe vom Jugendamt angefordert. Sie hatte sich dabei vorgestellt, dass jemand bei ihr einziehen würde, so wie bei der Super Nanny auf RTL. Als alles anders lief als im Fernsehen, brach sie den Kontakt zum Jugendamt ab.
Ich sprach auch mit dem Vater, mit dem Delia besser klarkam. Er versprach, künftig mehr Zeit mit seiner Tochter zu verbringen, auch unter der Woche. Das Schuljahr endete mit der Hoffnung, dass sich Delias Situation dadurch vielleicht verbessern würde.
Als die sechste Klasse begann, flippte Delia immer öfter aus, jetzt auch im Unterricht. Ihre Mitschüler beschimpfte sie als Nutten und Hurensöhne. Die anderen ärgerten sie, wollten sie nirgendwo dabei haben. Das Klassenklima wurde immer schlechter.
Wir Lehrer haben dann in einer Konferenz beschlossen, den sogenannten No-Blame-Approach einzuführen, ein Vorgehen gegen Mobbing. Bei diesem Ansatz wird bei Konflikten nicht nach dem Schuldigen gesucht. Es geht darum, Schüler wie Delia besser zu integrieren. Eine Gruppe von sechs Schülern bekam die Aufgabe, sie künftig zu unterstützen. Kurze Zeit lief es besser. Die Schüler banden Delia ein und verteidigten sie auch, wenn jemand sie ärgerte. Delia begann nun, sich wie eine Königin zu fühlen und die anderen auszunutzen. Im November war sie so gemein zu ihren Mitschülern, dass wir das Ganze abbrechen mussten – die Schüler wollten Delia nicht mehr helfen.
Mit Delias schulischen Leistungen ging es weiter bergab. Nichts schien sie mehr zu erreichen. Auf der Klassenfahrt aß sie nachts heimlich Chips unter der Bettdecke.
Die Mutter sagte mir bei einem erneuten Gespräch, dass sie aufgegeben hätte. Das bricht einem natürlich das Herz – eine Mutter, die sagt: Ich habe mein Kind aufgegeben. Wenn ein Kind so etwas spürt: Was kann man dann überhaupt noch tun?
"Wir können als Lehrer nicht mehr viel tun"
Delia wollte bei ihrem Vater wohnen, der sagte: Das geht nicht. Am liebsten hätte ich sie adoptiert, so leid tat sie mir. Und dann brachte sie mich wieder zur Weißglut, und auch ich ertappte mich dabei, zu denken: Ich will das alles nicht mehr. Es war furchtbar: Ein Kind, das sowieso nur Ablehnung bekommt und darunter leidet – und dann lehnt man selbst es auch noch ab, weil man an seine Grenzen kommt.
Eine Zeit lang konnte ich nur noch schlecht einschlafen, musste Hörspiele hören, damit es ging. Mein Freund hat irgendwann gesagt: Man kann nicht alle retten. Über den Satz habe ich mich geärgert, aber im Nachhinein gedacht: Vielleicht hat er recht. Bei Delia war klar: Wir kommen in einen Bereich, da können wir als Lehrer nicht mehr viel tun.
Ich habe wieder mit Delias Eltern geredet, diesmal mit beiden gemeinsam. Der Vater zeigte sich aggressiv, schlug auf den Tisch, beschimpfte Delias Mutter, gab ihr die Schuld. Er leugnete auch, dass Delia überhaupt Probleme hatte. Die anderen seien schuld, und ich sei als Lehrerin eine Versagerin.
Manche Eltern denken, weil ihre Kinder heute so viel Zeit in der Schule verbringen, übernehmen wir Lehrer die Erziehung gleich mit. Da gibt es eine enorme Anspruchshaltung. Aber der erzieherische Auftrag liegt nun mal in erster Linie bei den Eltern.
Ich überredete Delias Mutter, erneut Erziehungshilfe anzufordern und mit ihrer Tochter zu einem Psychologen zu gehen. Außerdem entschied ich, eine Paragraf-12-Testung bei Delia vornehmen zu lassen. Seit der Abschaffung der Sonderschulen regelt dieser Paragraf, wie viele Stunden Extrabetreuung Schülern mit erhöhtem Förderbedarf zustehen.
Die meisten denken beim Thema Inklusion an Kinder mit Behinderung. Ich hatte in meiner Klasse einen stark sehbehinderten Jungen. Ich bekam eine Fortbildung, bei der mir erklärt wurde, worauf ich im Unterricht zu achten hatte, mehr brauchte es eigentlich nicht. Das lief problemlos. Die Chancen von Inklusion sehen wir Lehrer alle. Behinderungen sollten als etwas Normales wahrgenommen werden. Was aber mit Kindern wie Delia ist und wie viele es davon gibt, das wird vergessen. Wie wir mit ihnen umgehen sollen, darauf bereitet uns keiner vor.
Ich als Klassenlehrerin redete irgendwann regelmäßig mit der Sozialpädagogin der Schule, mit Delias Eltern, mit dem Jugendamt, mit Delias Psychologin und mit der Frau, die die Paragraf-12-Tests machte. Diese tragende Rolle, die man als Lehrer auf einmal hat, diese immense Verantwortung: Das hat mir Angst gemacht. Und es gab 23 andere Schüler, um die ich mich auch kümmern musste.
Die Testung zog sich. Die Behörde hatte so viele Anträge auf dem Tisch, dass sie überhaupt nicht hinterherkam. Delias Mutter berichtete unterdessen, dass ihre Tochter sie zu Hause mit einem Messer bedroht hätte.
Im April kam das Ergebnis. Delias IQ ist gerade noch im Normalbereich, im sozialen und emotionalen Bereich ist sie deutlich unterentwickelt. Sie ist nicht auf dem Stand einer Zwölfjährigen, eher auf dem einer Sechsjährigen.
Was dieses Ergebnis konkret bedeutet: Zwei Stunden pro Woche würde künftig eine Sonderpädagogin in die Klasse kommen, um Delia im Unterricht zu unterstützen. Zwei Stunden! Das ist nichts.
Vor den Sommerferien haben wir einen Ausflug gemacht, bei dem Delia eine Schülerin so heftig mit einem Stock geschlagen hat, dass sie eine blutende Platzwunde an der Schläfe hatte. Die Mutter der verletzten Schülerin blieb ganz ruhig, als ich sie anrief. Delias Vater aber schrie mich an.
Ich habe mit Delias Psychologin telefoniert. Ist es sinnvoll, fragte sie, dass Delia vorübergehend stationär eingewiesen wird? Das war der Punkt, an dem ich nicht mehr konnte. Vielleicht wäre es genau das Richtige, vielleicht wäre es aber auch genau das Falsche. Woher sollte ich das wissen? Ich bin Lehrerin. Solche Entscheidungen kann ich nicht treffen.
Ich arbeite an einer Schule, die in einem guten Hamburger Stadtteil liegt. Bei uns sind in einer Klasse im Schnitt ein, zwei starkverhaltensauffällige Schüler. In manch anderem Bezirk wäre eine Klasse mit fünf Problemschülern eine gute Klasse. Und doch kommen die Lehrer auch bei uns an ihre Grenzen. Ich finde, Inklusion ist eine gute Sache, aber als man die Schulen dazu verpflichtete, gab es kein ausreichendes Konzept. Uns Lehrern kommt es eher wie eine Sparmaßnahme vor. Wir brauchen dringend Unterstützung und mehr Personal.
Als das Schuljahr zu Ende war und ich die Klasse mit Delia abgab, war ich vor allem eines: erleichtert, dass ich das alles nicht mehr würde ertragen müssen. Normalerweise ist es immer traurig, eine Klasse abzugeben. Dieses Mal war ich froh. Das hat mich erschreckt, und dafür habe ich mich geschämt.
Ich bin in den Urlaub geflogen, abschalten konnte ich schwer. Ich musste mir immer wieder sagen: Du hast alles getan, was möglich war.
Jetzt, im neuen Schuljahr, sehe ich Delia nur noch auf dem Schulhof. Sie hat etwas abgenommen. Vielleicht geht es ihr besser, habe ich gedacht. Bis ich vor ein paar Tagen gehört habe, dass sie im Matheunterricht zugeschlagen hat.
* Der Name der Schülerin wurde geändert. Die Lehrerin hat um Anonymität gebeten.
Aufgezeichnet von Nicola Meier


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