11. Dezember 2015

Pichard warnt vor Lehrplan 21

Alain Pichard, Lehrer und GLP-Stadtrat von Biel veröffentlicht mit "Einspruch" zusammen mit 20 Mitautoren eine Streitschrift gegen den Lehrplan 21.













Pichard veröffentlicht bereits die zweite Streitschrift gegen den Lehrplan 21, Bil: Stefan Anderegg
Pichard warnt Linke vor dem Lehrplan 21, Berner Zeitung, 10.12. von Marius Aschwanden


Die Einführung des Lehrplans 21 ist im Kanton Bern bereits weit fortgeschritten. Kommt Ihre Streitschrift nicht viel zu spät?
Alain Pichard:
 Es geht uns nicht allein um den Lehrplan 21, sondern um die Entwicklung unseres Bildungswesens. Diese fing mit Bologna an, wurde mit Pisa fortgesetzt und vollzog mit Harmos eine grundlegende Weichenstellung. Der Lehrplan 21 ist hier nur ein weiterer Baustein.

Was wollen Sie mit der Streitschrift erreichen?
Es geht um Aufklärung: Wir zeigen auf, wie sich die Bildungsbürokratie schon lange vom Gedanken der Harmonisierung verabschiedet hat und stattdessen eine Steuerung der Schule anstrebt, wie wir sie aus der Wirtschaft kennen. Da fragen wir: Wollen wir Normierung, Standardisierung, zentral ausgearbeitete Testbatterien? Wollen wir einen Lehrplan, der nicht mehr sagt, was wir machen, sondern detailliert vorschreibt, wie wir es machen sollen? Oder, wie es Peter Bieri formuliert: Wollen wir Bildung durch Ausbildung ersetzen? Zudem wollen wird die Linke warnen, indem wir sagen: Aufgepasst, nur weil die SVP dagegen ist, handelt es sich nicht um ein progressives Projekt, im Gegenteil.

Erziehungsdirektor Bernhard Pulver, die EDK und andere Befürworter des Lehrplans betonen stets, dass auch sie gegen eine solche Entwicklung sind und davon nichts im Lehrplan steht.
Die Lehrplanverantwortlichen fallen vor allem durch eine atemberaubende Widersprüchlichkeit in ihren Aussagen auf. Herr Pulver verkündet ja überall, dass sich für die Lehrer nichts verändern würde, während seine ehemalige Amtskollegin Frau Aeppli von einem Jahrhundertwerk sprach, welches die Schule entscheidend verändern werde. Und Professor Reusser spricht gar von einem Paradigmenwechsel in der Steuerung der Schule. Alle drei waren leitende Mitglieder des Lehrplangremiums.

Frau Aeppli war Bildungsdirektorin in Zürich. Im Kanton Bern dürfte der Sprung von der Lernzielorientierung im Lehrplan 95 hin zur Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 kleiner sein als andernorts.
Wie gesagt, es geht nicht um Lernzielorientierung und Transfer, das wäre in der Tat banal. Es geht um Anwendbarkeit, Messbarkeit, Steuerung, und testbasiertes Monitoring, wie wir es aus der Wirtschaft kennen, in Zürich wie in Bern.

Sie propagieren auch eine Verschiebung der Kompetenzen für die Einführung des Lehrplans von der Regierung zum Volk. Wieso?
Die EDK hat den ursprünglichen Harmonisierungsauftrag der Stimmbürger als Freipass gedeutet, unserem öffentlichen Schulsystem eine OECD-Agenda zu verpassen. Und solche Grundsatzentscheide werden in der Schweiz vom Volk entschieden. Das hätte man bei Bologna auch machen sollen.

Muten Sie dem Stimmbürger nicht zu viel zu, wenn er über ein 470-seitiges fachliches Werk ­abstimmen soll?
Wenn ich die Reformruinen sehe, welche uns die Bildungsexperten allein im Kanton Bern in den letzten Jahren in die Landschaft gestellt haben, erstaunt mich diese Frage. Es geht um den geschilderten Grundsatzentscheid, und den sollen und können auch die Stimmbürger fällen.

Es fanden eine breite Mitwirkung und Hearings der Lehrpersonen statt. Genügt das nicht?
Kanalisierte Vernehmlassungen mit kurzen Fristen und Jubelveranstaltungen nach dem Motto «Wir da oben und ihr da unten» ersetzen keinen demokratischen Entscheidungsprozess. Zumindest bei uns in der Schweiz nicht.

Wieso sind Sie nicht im Initiativkomitee der Interessengemeinschaft für eine starke Volksschule im Kanton Bern, die genau dies erreichen will?
Ich unterstütze ein allfälliges Volksbegehren. Mit meinen 60 Jahren betrifft mich der Lehrplan allerdings nicht mehr. Und ich sehe mich in erster Linie als Lehrer, der gut unterrichten will. Einen Abstimmungskampf möchte ich mir ehrlich gesagt nicht mehr zumuten.

Die Lehrer betonen stets, dass die Lehrmittel wichtiger sind als ein Lehrplan. Kochen Sie die Suppe nicht viel heisser, als sie gegessen wird?
Das sagen nicht nur die Lehrkräfte, das sagen auch die Lehrplanverantwortlichen: Der Lehrplan sei gar nicht für uns bestimmt, sondern für die Lehrmittelhersteller. Wir Lehrer erhalten diese, müssen damit unterrichten, und die Lehrplanverantwortlichen testen dann, ob wir es gut gemacht haben. Weil der Lehrplan als Basis für die Lehrmittel dient, ist er aber ernst zu nehmen.

War die Schule vor Harmos und Bologna tatsächlich besser ?
Das ist eine alberne Frage. Die Schule und auch ich als Lehrer müssen uns verändern. Ich unterrichte ziemlich anders als in den 70er-Jahren. Ich frage mich allerdings, ob ein föderatives Schulsystem, das immer noch die meisten Nobelpreisträger pro Kopf der Bevölkerung aufweist, an den Lehrlingsweltmeisterschaften jeweils Spitzenplätze belegt, in den Pisa-Erhebungen sehr gut abschneidet, eine rekordtiefe Jugendarbeitslosigkeit produziert, wirklich derart reformbedürftig sein soll.


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