11. Dezember 2015

Mangelnde Alphabetisierung

Mangelnde Alphabetisierung in einem Land mit langer Schulpflicht-Tradition schien lange undenkbar zu sein. Dass es auch hierzulande noch zahlreiche Menschen gibt, die mit der Schriftsprache massive Probleme haben, stellte sich erst zu Beginn der 1980er- Jahre heraus, als in den Industrie­ländern auch für einfachere Berufs­tätigkeiten mehr und mehr Schrift­kompetenz erforderlich wurde.
















Für den Illettristen ein wirren Buchstabensalat, Bild: Christoph Weymann
Jeder Brief, jedes Formular, jede Notiz ein Problem, Basler Zeitung, 9.12. von Christoph Weymann


«Primäre» Analphabeten, die nie Lesen und Schreiben gelernt haben, gibt es in Westeuropa fast keine mehr. Dafür aber einen hohen Prozentsatz von «sekundären» Analphabeten, die ihre Schulkenntnisse wieder verlernt haben. Der internationale Fachbegriff des «funktionalen» Analphabetismus bewertet die Schriftkompetenz in Abhängigkeit von den Anforderungen der persönlichen Umgebung.

Wer gerade mal seinen Namen schreiben kann, ansonsten aber alles stockend Buchstabe für Buchstabe oder Wort für Wort entziffern muss, kann damit vielleicht in der ländlichen Region eines Drittweltlandes noch gut zurechtkommen. In hoch entwickelten Gesellschaften wie der Schweiz oder Deutschland hat er oder sie schon im Alltag bei jedem Wegweiser, Billett­automaten, Beipackzettel, Formular, Brief und Notizzettel ein Problem – von den Anforderungen an einer modernen Arbeitsstelle ganz zu schweigen.

Verschämtes Doppelleben
In der Schweiz wird für das Phänomen seit etwa zehn Jahren der Begriff «Illettrismus» verwendet, um die Betroffenen durch eine verbale Beinahe-Gleichsetzung mit Analphabeten nicht zusätzlich zu stigmatisieren. Viele schämen sich ohnehin für ihr «Ver­sagen» und tun alles, um sich nicht zu verraten. Wie sich der Druck anfühlt, wenn man über Jahrzehnte ein solches Doppelleben führt, hat vor einigen Jahren der Schweizer Metallbauer und Coach Kilian Fuhrer in seinem autobiografischen Bericht «Der Falschschreiber» aufgezeichnet: «Das Leben ist voller Buchstaben, und alle erwarten, dass diese zu Worten zusammengefügt werden, auf Formularen und anderen Papieren Niederschrift finden.»

Die Betroffenen haben zwar das Gefühl, als Einziger inkompetent zu sein, wenn es um Lesen und Schreiben geht. Spätestens durch die 2006 veröffentlichte internationale ALL-Studie über die Grundkompetenzen von Erwachsenen in verschiedenen Ländern wurde aber deutlich, dass in der Schweiz 16 Prozent der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren gerade das unterste Leseniveau erreichen: «Nahezu 800 000 Personen stellt das Lesen selbst eines sehr einfachen Textes vor unüberwindbare Verständnisprobleme», resümiert eine Broschüre des Bundesamts für Statistik das Resultat der ALL-Studie. Weitere 34 Prozent erreichen nur die nächsthöhere Lesekompetenzstufe, so dass insgesamt etwa 50 Prozent der Bevölkerung nur eingeschränkt mit der Schriftsprache klarkommen.

Verantwortlich dafür machen Experten wie Sven Nickel, Professor für Sprach- und Literaturdidaktik an der Uni Bremen, heute ein Geflecht von individuellen, familiären, schulischen und gesellschaftlichen Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen. Immer wieder wird auch eine Art Teufelskreis der Demotivierung beschrieben, der sich seit der Kindheit wiederholt. In der Schule wurden die Betroffenen – bis hin zu Blossstellungen durch den Lehrer –oft selbst für ihre Lernprobleme verantwortlich gemacht und gerieten so in eine Schleife aus niedrigem Selbstvertrauen, geringer Lernmotivation und ausbleibenden Erfolgserlebnissen.

Als ungünstig gelten auch Familienverhältnisse, in denen Lesen und Schreiben häufig als rein schulische Angelegenheit galten, die im Alltag keine Rolle spielte, während gleichzeitig auf Lernprobleme des Kindes abwertend reagiert wurde. Die «Level-One-Studie» der Universität Hamburg hat sogar gezeigt, dass geringe Literalität sozial vererbt zu werden scheint. So stellte sich etwa heraus, dass bei Illettristen vier Mal so häufig keiner der Elternteile einen Schulabschluss hatte.

Tausendundein Trick
Viele versuchen so lange wie möglich, «kritische» Situationen durch Vermeiden, Täuschen oder das Delegieren von Schreibaufgaben zu bewältigen. «Man beginnt sich tausendundeinen Trick zuzulegen, erfindet harmlose Notlügen, um nicht noch stärker verletzt zu werden», erinnert sich Kilian Fuhrer in seinem Rückblick.

Er hatte verständnisvolle Eltern, aber schlechte Lehrer gehabt, und obwohl er zwei Ausbildungen geschafft hatte und erfolgreich in mehreren Berufen tätig war, begleitete ihn immer die Angst davor, etwas auf die Schnelle lesen oder schreiben zu müssen. Als er eine Stelle als Sachbearbeiter in einem Lager antrat, lernte er «die ganze Liste mit rund 50 verschiedenen Artikeln über Nacht auswendig».

Die schmerzhafte Erfahrung, bei anderen weniger zu gelten, «wenn sie von meinem Handicap erfuhren», liess ihn so vorsichtig werden, dass er selbst seiner damaligen Partnerin erst «nach etwa einem Jahr» von seinem Problem erzählte. Von ihr liess er sich schliesslich mit Anfang dreissig ermutigen, an der Volkshochschule beider Basel (VHSBB) einen Kurs zu machen.

Dass viele «ältere» Illettristen lange brauchen, «um sich einzugestehen, dass sie nicht mehr ausweichen und kompensieren können, was sie nicht können», ist auch die Erfahrung von Nicolas Füzesi, der bei der VHSBB den Bereich «Sprachen und Grundbildung» verantwortet. Nur etwa 0,5 Prozent derjenigen, die eigentlich von diesen Angeboten für Erwachsene profitieren würden, finden den Weg in einen Kurs. Über die Mehrheit der Betroffenen und ihren tatsächlichen Leidensdruck weiss man deshalb immer noch wenig.
Eine im Frühjahr veröffentlichte Studie der deutschen «Stiftung Lesen» über den Umgang mit Illettristen im beruflichen Umfeld ergab überraschend, dass viele durchaus offen mit ihrem Handicap umgehen und sich von Kollegen unterstützen lassen: «Die Unterstützungsmechanismen wirken oftmals so gut, dass ein Grossteil der Befragten keine Notwendigkeit sieht, dass Arbeitnehmer in bestimmten Branchen und Tätigkeitsfeldern über umfassende Lesekenntnisse verfügen müssen.»

Fortschritte in ein bis zwei Jahren
Auch wenn es weniger Diskriminierung und einen geringeren Leidensdruck gebe als vermutet, würden aber oft «nur die Symptome kuriert». Auf Dauer tun sich die Betroffenen mit solchen improvisierten Lösungen aber weder persönlich noch beruflich einen Gefallen. Der «Verein Lesen und Schreiben» versucht deshalb gezielt, interessierte Organisationen und Einzelpersonen für das Thema zu sensibilisieren, damit sie jemanden, der nicht gut genug lesen und schreiben kann, erkennen und behutsam ansprechen können.

Wer den Schritt in einen Grundbildungskurs wagt, profitiert meist schon, bevor er irgendetwas gelernt hat. Allein die Begegnung mit Leidensgenossen führe oft zu einer massiven Erleichterung, bestätigt Füzesi. «Es war nicht Schule, wie ich es vorher kannte», schreibt Fuhrer. «Ich wurde ganz anders herangeführt, wie ich mit dem Buch­stabensalat umgehen sollte.»

Die meisten brauchen etwa zwei Jahre, bis sie deutliche Fortschritte gemacht haben, viele blieben auch danach noch dabei, sagt Nicolas Füzesi. Neben der gezielten fachlichen Förderung jedes Einzelnen gehe es oft auch darum, an den negativen «Programmierungen» zu arbeiten, erklärt er. Wer sich vieles nicht zugetraut hat, muss eben auch persönlich gestärkt und mit Lernstrategien versorgt werden.

Bündelung mit Alltagsmathematik
Seit einigen Jahren wird das Thema Illettrismus vermehrt unter dem Begriff der Grundbildung und Literalität gefasst und so in einen grösseren Zusammenhang gestellt. «Das entspricht», so Füzesi, «eher der Realität und bildet sich ­entsprechend deutlich im Angebot der Basler VHS ab.» Die Zukunft werde in einer Bündelung der Grundkompetenzen Lesen und Schreiben, Alltags­mathematik und der Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) liegen, erklärt der Leiter des Fachbereichs.

Das Wechselspiel dieser Kompetenzen lässt Füzesi optimistisch in die Zukunft schauen: «Wir sollten sehen, dass mehr Menschen besser lesen und schreiben, rechnen und die elektronischen Medien nutzen können als noch vor ein paar Jahren und dass es immer mehr werden von Jahr zu Jahr. Die Kompetenzen bauen sich nicht ab, sondern vielmehr auf und verschieben sich zum Teil. Es ist also unangebracht, Alarm zu schlagen!»


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