Mangelnde Alphabetisierung in einem Land mit langer
Schulpflicht-Tradition schien lange undenkbar zu sein. Dass es auch hierzulande
noch zahlreiche Menschen gibt, die mit der Schriftsprache massive Probleme
haben, stellte sich erst zu Beginn der 1980er- Jahre heraus, als in den
Industrieländern auch für einfachere Berufstätigkeiten mehr und mehr Schriftkompetenz
erforderlich wurde.
Für den Illettristen ein wirren Buchstabensalat, Bild: Christoph Weymann
Jeder Brief, jedes Formular, jede Notiz ein Problem, Basler Zeitung, 9.12. von Christoph Weymann
«Primäre»
Analphabeten, die nie Lesen und Schreiben gelernt haben, gibt es in Westeuropa
fast keine mehr. Dafür aber einen hohen Prozentsatz von «sekundären»
Analphabeten, die ihre Schulkenntnisse wieder verlernt haben. Der
internationale Fachbegriff des «funktionalen» Analphabetismus bewertet die
Schriftkompetenz in Abhängigkeit von den Anforderungen der persönlichen
Umgebung.
Wer
gerade mal seinen Namen schreiben kann, ansonsten aber alles stockend Buchstabe
für Buchstabe oder Wort für Wort entziffern muss, kann damit vielleicht in der
ländlichen Region eines Drittweltlandes noch gut zurechtkommen. In hoch
entwickelten Gesellschaften wie der Schweiz oder Deutschland hat er oder sie
schon im Alltag bei jedem Wegweiser, Billettautomaten, Beipackzettel,
Formular, Brief und Notizzettel ein Problem – von den Anforderungen an einer
modernen Arbeitsstelle ganz zu schweigen.
Verschämtes
Doppelleben
In
der Schweiz wird für das Phänomen seit etwa zehn Jahren der Begriff
«Illettrismus» verwendet, um die Betroffenen durch eine verbale
Beinahe-Gleichsetzung mit Analphabeten nicht zusätzlich zu stigmatisieren.
Viele schämen sich ohnehin für ihr «Versagen» und tun alles, um sich nicht zu
verraten. Wie sich der Druck anfühlt, wenn man über Jahrzehnte ein solches
Doppelleben führt, hat vor einigen Jahren der Schweizer Metallbauer und Coach
Kilian Fuhrer in seinem autobiografischen Bericht «Der Falschschreiber»
aufgezeichnet: «Das Leben ist voller Buchstaben, und alle erwarten, dass diese
zu Worten zusammengefügt werden, auf Formularen und anderen Papieren
Niederschrift finden.»
Die
Betroffenen haben zwar das Gefühl, als Einziger inkompetent zu sein, wenn es um
Lesen und Schreiben geht. Spätestens durch die 2006 veröffentlichte
internationale ALL-Studie über die Grundkompetenzen von Erwachsenen in
verschiedenen Ländern wurde aber deutlich, dass in der Schweiz 16 Prozent der Bevölkerung
zwischen 16 und 65 Jahren gerade das unterste Leseniveau erreichen: «Nahezu
800 000 Personen stellt das Lesen selbst eines sehr einfachen Textes vor
unüberwindbare Verständnisprobleme», resümiert eine Broschüre des Bundesamts
für Statistik das Resultat der ALL-Studie. Weitere 34 Prozent erreichen nur die
nächsthöhere Lesekompetenzstufe, so dass insgesamt etwa 50 Prozent der
Bevölkerung nur eingeschränkt mit der Schriftsprache klarkommen.
Verantwortlich
dafür machen Experten wie Sven Nickel, Professor für Sprach- und
Literaturdidaktik an der Uni Bremen, heute ein Geflecht von individuellen,
familiären, schulischen und gesellschaftlichen Faktoren, die sich gegenseitig
beeinflussen. Immer wieder wird auch eine Art Teufelskreis der Demotivierung beschrieben,
der sich seit der Kindheit wiederholt. In der Schule wurden die Betroffenen –
bis hin zu Blossstellungen durch den Lehrer –oft selbst für ihre Lernprobleme
verantwortlich gemacht und gerieten so in eine Schleife aus niedrigem
Selbstvertrauen, geringer Lernmotivation und ausbleibenden Erfolgserlebnissen.
Als
ungünstig gelten auch Familienverhältnisse, in denen Lesen und Schreiben häufig
als rein schulische Angelegenheit galten, die im Alltag keine Rolle spielte,
während gleichzeitig auf Lernprobleme des Kindes abwertend reagiert wurde. Die
«Level-One-Studie» der Universität Hamburg hat sogar gezeigt, dass geringe
Literalität sozial vererbt zu werden scheint. So stellte sich etwa heraus, dass
bei Illettristen vier Mal so häufig keiner der Elternteile einen Schulabschluss
hatte.
Tausendundein
Trick
Viele
versuchen so lange wie möglich, «kritische» Situationen durch Vermeiden,
Täuschen oder das Delegieren von Schreibaufgaben zu bewältigen. «Man beginnt
sich tausendundeinen Trick zuzulegen, erfindet harmlose Notlügen, um nicht noch
stärker verletzt zu werden», erinnert sich Kilian Fuhrer in seinem Rückblick.
Er
hatte verständnisvolle Eltern, aber schlechte Lehrer gehabt, und obwohl er zwei
Ausbildungen geschafft hatte und erfolgreich in mehreren Berufen tätig war,
begleitete ihn immer die Angst davor, etwas auf die Schnelle lesen oder
schreiben zu müssen. Als er eine Stelle als Sachbearbeiter in einem Lager
antrat, lernte er «die ganze Liste mit rund 50 verschiedenen Artikeln über
Nacht auswendig».
Die
schmerzhafte Erfahrung, bei anderen weniger zu gelten, «wenn sie von meinem
Handicap erfuhren», liess ihn so vorsichtig werden, dass er selbst seiner
damaligen Partnerin erst «nach etwa einem Jahr» von seinem Problem erzählte.
Von ihr liess er sich schliesslich mit Anfang dreissig ermutigen, an der
Volkshochschule beider Basel (VHSBB) einen Kurs zu machen.
Dass
viele «ältere» Illettristen lange brauchen, «um sich einzugestehen, dass sie
nicht mehr ausweichen und kompensieren können, was sie nicht können», ist auch
die Erfahrung von Nicolas Füzesi, der bei der VHSBB den Bereich «Sprachen und
Grundbildung» verantwortet. Nur etwa 0,5 Prozent derjenigen, die eigentlich von
diesen Angeboten für Erwachsene profitieren würden, finden den Weg in einen
Kurs. Über die Mehrheit der Betroffenen und ihren tatsächlichen Leidensdruck
weiss man deshalb immer noch wenig.
Eine
im Frühjahr veröffentlichte Studie der deutschen «Stiftung Lesen» über den
Umgang mit Illettristen im beruflichen Umfeld ergab überraschend, dass viele
durchaus offen mit ihrem Handicap umgehen und sich von Kollegen unterstützen
lassen: «Die Unterstützungsmechanismen wirken oftmals so gut, dass ein
Grossteil der Befragten keine Notwendigkeit sieht, dass Arbeitnehmer in
bestimmten Branchen und Tätigkeitsfeldern über umfassende Lesekenntnisse
verfügen müssen.»
Fortschritte
in ein bis zwei Jahren
Auch
wenn es weniger Diskriminierung und einen geringeren Leidensdruck gebe als
vermutet, würden aber oft «nur die Symptome kuriert». Auf Dauer tun sich die
Betroffenen mit solchen improvisierten Lösungen aber weder persönlich noch
beruflich einen Gefallen. Der «Verein Lesen und Schreiben» versucht deshalb
gezielt, interessierte Organisationen und Einzelpersonen für das Thema zu
sensibilisieren, damit sie jemanden, der nicht gut genug lesen und schreiben
kann, erkennen und behutsam ansprechen können.
Wer
den Schritt in einen Grundbildungskurs wagt, profitiert meist schon, bevor er
irgendetwas gelernt hat. Allein die Begegnung mit Leidensgenossen führe oft zu
einer massiven Erleichterung, bestätigt Füzesi. «Es war nicht Schule, wie ich
es vorher kannte», schreibt Fuhrer. «Ich wurde ganz anders herangeführt, wie
ich mit dem Buchstabensalat umgehen sollte.»
Die
meisten brauchen etwa zwei Jahre, bis sie deutliche Fortschritte gemacht haben,
viele blieben auch danach noch dabei, sagt Nicolas Füzesi. Neben der gezielten
fachlichen Förderung jedes Einzelnen gehe es oft auch darum, an den negativen
«Programmierungen» zu arbeiten, erklärt er. Wer sich vieles nicht zugetraut
hat, muss eben auch persönlich gestärkt und mit Lernstrategien versorgt werden.
Bündelung
mit Alltagsmathematik
Seit
einigen Jahren wird das Thema Illettrismus vermehrt unter dem Begriff der
Grundbildung und Literalität gefasst und so in einen grösseren Zusammenhang
gestellt. «Das entspricht», so Füzesi, «eher der Realität und bildet sich entsprechend
deutlich im Angebot der Basler VHS ab.» Die Zukunft werde in einer Bündelung
der Grundkompetenzen Lesen und Schreiben, Alltagsmathematik und der Anwendung
von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) liegen, erklärt der
Leiter des Fachbereichs.
Das
Wechselspiel dieser Kompetenzen lässt Füzesi optimistisch in die Zukunft
schauen: «Wir sollten sehen, dass mehr Menschen besser lesen und schreiben,
rechnen und die elektronischen Medien nutzen können als noch vor ein paar
Jahren und dass es immer mehr werden von Jahr zu Jahr. Die Kompetenzen bauen
sich nicht ab, sondern vielmehr auf und verschieben sich zum Teil. Es ist also
unangebracht, Alarm zu schlagen!»
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