Wendelspiess arbeitete 38 Jahre auf dem Volksschulamt, davon 18 als Chef, Bild: Chris Iseli
Martin Wendelspiess: "Die Schule muss reagieren", Limmattaler Zeitung, 28.12. von Matthias Scharrer
Selten war die Volksschule derart im Umbruch wie während seiner
Amtszeit: Martin Wendelspiess war Volksschulamtschef unter vier Zürcher
Bildungsdirektoren, von Alfred Gilgen (LdU) über Ernst Buschor (CVP), Regine
Aeppli (SP) bis hin zu Silvia Steiner (CVP). Nun steht Wendelspiess vor der
Pensionierung. Im Interview blickt der Geroldswiler zurück auf das Zeitalter
der Schulreformen, das noch nicht vorbei ist.
Herr Wendelspiess, Sie waren während 17
Jahren Zürcher Volksschulamtschef ...
Martin Wendelspiess: Wenn ich kommenden Mai aufhöre, sind es
18 Jahre.
Es war eine Zeit grosser
Volksschulreformen, und mit dem Lehrplan 21 gehts gleich weiter. Warum ist die
Schule so stark im Umbruch?
Weil sie keine andere Wahl hat. Die Schule hat die Aufgabe, Kinder auf
die Welt vorzubereiten, die sie antreffen. Und wenn sich die Welt verändert,
muss die Schule reagieren.
Worauf vor allem?
Zum einen auf technischen Wandel, neue Medien und Computertechnologien.
Eine zweite grosse Veränderung ist die Kleinfamilie. Die Schule muss viel mehr
Soziales lehren, was früher in einer Grossfamilie fast automatisch passiert
ist. Und: Man hat heute mehr als früher die Überzeugung, jeder müsse seine
Chance haben, Stichwort integrative Förderung.
Mit dem Zürcher Volksschulgesetz wurde
2005 im zweiten Anlauf ein grosses Reformpaket angenommen, das Geleitete
Schulen, Blockzeiten, Tagesstrukturen und andere Neuerungen brachte. Jetzt
steht mit dem Lehrplan 21 das nächste Reformprojekt an. Ist das Gröbste vorbei
– oder kommt es noch?
Wir sind jetzt in einer Phase der Konsolidierung und Feinjustierung. Der
Lehrplan 21 wird die Schule nicht auf den Kopf stellen. Da gibt es ganze
Fachbereiche, bei denen sich inhaltlich nichts oder fast nichts ändert. Daher
glaube ich, dass die grossen Schulreformen momentan vorbei sind. Man kann sie
übrigens auch nicht erzwingen. Es braucht dafür ein bestimmtes
gesellschaftliches Klima.
Was hat das Reformfenster in Ihrer
Amtszeit geöffnet?
Ich weiss nicht, woran es lag. Es geschah ja nicht nur im Kanton Zürich,
obwohl es oft auf den früheren Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor
fokussiert wurde. Tagesschulen waren schon unter seinem Vorgänger Alfred Gilgen
möglich, Blockzeiten sind unter Gilgen entstanden, ebenso die erste
Fremdsprache in der Primarschule und integrative Schulungsformen. Aber die Zeit
war politisch noch nicht reif. Und plötzlich, mit Buschor als Motor und einer
veränderten gesellschaftlichen Grundstimmung, ist alles – zumindest im zweiten
Anlauf – in einem Guss gegangen.
Welche Schulreform war am einschneidendsten?
Die Einführung der Schulleitungen. Sie änderte das Berufsbild jeder
einzelnen Lehrperson, vom «Ich und meine Klasse» zum «Wir und unsere Schule».
Ist dieser Wandel vollzogen, oder ist
es immer noch ein Kampf?
Alles in allem ist er vollzogen, auch wenn es noch solche gibt, die ihn
innerlich noch nicht ganz akzeptieren. Aber das ist eine Generation, die jetzt
älter ist. Für die jüngeren Lehrerinnen und Lehrer ist völlig klar: Es gibt
einfach Schulleitungen, und ich kann nicht mehr alles selber bestimmen.
Sie sagten, der Lehrplan 21 werde die
Schule nicht auf den Kopf stellen. Dennoch gibt es Kritiker, die warnen, dass
mit dem Lehrplan 21, der die Schulen in der Deutschschweiz vereinheitlicht,
alles noch stärker normiert wird. Ist das falsch?
Diese Kritik ist falsch. Es wird nicht mehr, sondern anders normiert. Im
traditionellen Lehrplan heisst es zum Beispiel: In der zweiten Sekundarklasse
nimmt man den Zweiten Weltkrieg durch. Der eine Lehrer handelt das in 30
Minuten ab, der andere behandelt vier Wochen lang fast jede einzelne Deutsche
Geschützstellung. Ich finde es vernünftiger, wenn man definiert, was ein
Schüler können und wissen muss und welche Kompetenzanforderungen sich daraus
ergeben.
Andere Kritiker stört, dass im Lehrplan
21 die Lerninhalte nicht mehr so klar definiert sind. Man rede von Kompetenzen,
wisse aber nicht so recht, was die Schüler am Schluss inhaltlich können müssen
...
... und das stimmt nicht. Kompetenz setzt Wissen voraus. Wenn zum
Beispiel die Anforderung lautet: Die Kinder können Vergleiche zwischen dem
Arabischen Frühling und der Französischen Revolution ziehen, dann ist klar,
dass man die Französische Revolution in der Schule behandelt haben muss.
Blicken Sie dem Reformprojekt Lehrplan
21 gelassen entgegen, oder wird es für Unruhe sorgen?
Es wird für Unruhe sorgen. Aber letztlich wird der Lehrplan 21
eingeführt und akzeptiert werden.
Es gibt ja Lehrer, die unter der
«Reformitis» stöhnen ...
... fast nicht mehr! Wir machen seit Jahren eine Austrittsbefragung, in
der wir nach den Gründen für eine Kündigung fragen. An der Spitze sind immer
persönliche Gründe wie Mutterschaft, Wegzug oder Auslandaufenthalt. Die
Kündigungen wegen zu vieler Reformen sanken von zehn auf zwei Prozent, sind
inzwischen also völlig marginal.
Als was sehen Sie den Lehrplan 21?
Als Chance, und zwar auf zwei Ebenen: Zum einen vereinfacht er die
Koordination zwischen den Kantonen, wie es die Stimmbürgerinnen und -bürger mit
dem Bildungsartikel deutlich beschlossen haben. Zum anderen schafft er mehr
Transparenz darüber, was ein Kind lernt. Es hängt nicht mehr so viel vom Zufall
ab, zu welcher Lehrperson ein Kind kommt.
Bleibt das nicht trotzdem entscheidend?
Vom Unterrichtsstil her bleibt es entscheidend. Inhaltlich kann man aber
mit dem Lehrplan 21 mehr Sicherheit und Gleichheit gewährleisten.
Wenn die Persönlichkeit entscheidend
bleibt: Wie muss der Lehrer, die Lehrerin heute sein?
Wenn man die Kinder fragt, was ein guter Lehrer ist, sind zwei Faktoren
mit Abstand an der Spitze: Gerecht muss er sein – und humorvoll.
Steht das jetzt auch im Lehrplan?
Nein, aber im Hilfsmittel für die Mitarbeiterbeurteilung. Da kommt
zumindest die Gerechtigkeit vor. Mit dem Humor ist es schwieriger. Selbst, wenn
man feststellt, dass ein Lehrer keinen Humor hat: Was macht man da für eine
Förderplanung? Schickt man ihn ans Humorfestival nach Arosa? Spass beiseite:
Der Unterricht muss nicht immer lustig sein, aber abwechslungsreich. Und die
Kinder finden es schön, wenn man auch einmal Blödsinn machen darf, ohne dass
gleich Regelverstösse geahndet werden.
Zurück zu Ihrer Rolle als
Volksschulamtschef der grossen Schulreformzeit: Worauf kommt es an, wenn man Reformen
umsetzt?
Man muss erstens Geduld haben. Viele Reformelemente wurden 20 bis 25
Jahre erprobt. Die Volksschule mit ihren 16 000 Lehrerinnen und Lehrern
ist ein Tanker und nicht ein kleines Segelboot. Zweitens muss man möglichst
viele an der Entscheidfindung beteiligen. Und drittens: Man muss politische
Mehrheiten finden, im Kantonsrat und in Volksabstimmungen.
Wie sinnvoll ist es, dass Kantonsräte
über den Lehrplan mitreden und die Bevölkerung über Themen wie
Kindergartenorganisation entscheidet?
In der Sache könnte man durchaus die Experten entscheiden lassen. Wenn
man aber bedenkt, wie schulische Institutionen in der Bevölkerung verankert
sind, macht die Schlaufe über Parlamente und Volksabstimmungen dennoch Sinn.
Dass es lange dauert, hat uns manchmal vor Fehlern bewahrt. Aber wir haben
bisweilen auch geflucht. Der Lehrplan, ein dickes technisches Werk für
Fachleute, eignet sich für eine Volksabstimmung kaum, deshalb liegt die
Entscheidkompetenz darüber beim Bildungsrat.
Wann haben Sie geflucht?
Am meisten, als das Volksschulgesetz im ersten Anlauf 2002 abgelehnt
wurde. Nein, es war eher Enttäuschung, als wir an jenem Sonntagabend
feststellten, dass wir nach fünf Jahren Arbeit wieder zurück zum Start mussten.
Und in welchen Momenten war es gut,
dass das Volk oder das Parlament die Schulexperten gebremst hat?
Zum Beispiel, als es vor gut 20 Jahren diesen Hype um die Mengenlehre
gab. Da wussten wir: Wir dürfen nicht zu weit gehen, sonst werden wir gebremst.
Ähnlich ist es jetzt mit der integrativen Förderung von Kindern mit
Behinderung. Integration in die Regelklasse ist wenn immer möglich das Ziel.
Aber nicht immer und nicht um jeden Preis. Es braucht auch separative
Einrichtungen.
Was ist heute die drängendste
Herausforderung in der Schule? Die multikulturelle Gesellschaft?
Ja, wobei in den letzten Jahren primär Deutsche eingewandert sind,
sodass keine sprachliche Barriere da war. Dieses Jahr hat die Zahl der
Flüchtlingskinder stark zugenommen. Das ist eine gewaltige Herausforderung.
2015 sind etwa 850 Flüchtlingskinder gekommen. Wenn man das auf die kantonsweit
rund 600 Schulhäuser bezieht, ist es nicht alarmierend. Aber für die Gemeinden,
die Flüchtlings-Durchgangszentren haben, sind die ständig schwankenden
Schülerzahlen eine grosse Herausforderung.
Im Jugoslawien-Krieg gab es ähnliche
Erfahrungen. Welche Lehren sind daraus für die Schule zu ziehen?
Die Flüchtlinge, die während des Jugoslawien-Konflikts kamen, waren
sprachlich homogener. Wir hatten Lehrkräfte hier, die deren Sprache
beherrschten. Jetzt kommen Leute zu uns, an die wir nicht gewöhnt sind, aus
Afghanistan, Eritrea und Syrien. Das schafft neue Herausforderungen. Es fängt
schon bei der Schrift an: Wie mache ich Deutschunterricht mit Kindern, die nur
die arabische Schrift kennen – oder die noch nie zur Schule gegangen sind und
gar kein Alphabet kennen? Hinzu kommt, dass die Kinder zum Teil jahrelang auf
der Flucht waren, traumatisiert sind und keinerlei Bezugsperson haben.
Wie kann die Schule in solchen Fällen
reagieren?
Es braucht verantwortungsvolle, gute Lehrpersonen, die sich nicht nur
ums Rechnen und Deutsch kümmern, sondern auch ums Wohlbefinden. Gleichzeitig
geht es darum, unsere Regeln bekannt zu machen und durchzusetzen. Und dann
brauchen wir gute Angebote an der Nahtstelle Volksschule/Berufsbildung, damit
die Flüchtlingskinder die Chance haben, ins Berufsleben zu einzusteigen.
Das kostet Geld. Jetzt steht die
nächste Sparrunde beim Kanton an, mit der Leistungsüberprüfung 2016. Wo wird
das Sparprogramm die Schulen treffen?
Der Regierungsrat hat noch keine Entscheide gefällt. Die Volksschule
wird pro Jahr rund 20 Millionen Franken einsparen müssen, bei Gesamtkosten von
jährlich 2 Milliarden im Kanton Zürich. Es geht also um Einsparungen von ein
bis zwei Prozent. Das ist eigentlich machbar. Aber es trifft uns trotzdem hart,
weil wir stark wachsende Schülerzahlen haben. Dennoch sehe ich das mit
Gelassenheit. Ich habe in den 37 Jahren, seit ich im Volksschulamt arbeite,
mehrere Sanierungsprogramme erlebt. Am Schluss kam es nie so schlimm wie zuerst
befürchtet. Vielleicht wirft ja die Nationalbank wieder Gewinn ab. Die UBS
fängt jetzt wieder an, Steuern zu bezahlen. Bei der Credit Suisse dürfte es
nächstes Jahr so weit sein.
Sie setzen aufs Prinzip Hoffnung?
Ich setze auf «historische Erfahrungen». Bei den letzten Sparpaketen kam
es jedes Mal so heraus, dass sich die Situation wieder veränderte, bis sie
umsetzungsreif waren. In Parlaments- und Volksentscheiden wurden viele
schulische Sparmassnahmen wieder rückgängig gemacht. Offenbar ist unsere Volksschule
stark verankert. Daher habe ich keine Angst, dass unsere Stimmbürgerinnen und
Stimmbürger absurde Sparmassnahmen tragen würden.
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