Bircher: Kooperation mit Universität bezüglich Doktoratsprogrammen für Fachdidaktik, Bild: Karin Hofer
"Ich schaue gern nach vorn", NZZ, 17.12. von Walter Bernet
Da sitze ich einem gegenüber, der nach 45 Jahren in Schule und
Lehrerbildung direkt vor der Pensionierung steht, und worüber sprechen wir?
Über die Schule der Zukunft, über die künftige Aus- und Weiterbildung der
Lehrkräfte und über die Weiterentwicklung der pädagogischen Hochschulen. Kein
Zweifel, Rektor Walter Bircher steckt mit allen Fasern in seiner Aufgabe, immer
noch.
Die Schule von morgen
Es
gehöre zu seinen Aufgaben, zu antizipieren, wie die Schule von morgen aussehen
könnte, sagt er. Und es werde ihn auch künftig interessieren, ob wirklich
eintreffe, was er und sein Kollegium prognostizierten. Blicken wir trotzdem
kurz zurück. Vor 45 Jahren begann in einem Primarschulhaus in Frick Birchers
Laufbahn als Lehrer auf verschiedenen Stufen. Sie führte bald auch an die ETH
und die Universität Zürich, wo Bircher in physischer Geografie doktorierte.
1982 wechselte Bircher als Didaktik-Dozent an das Primarlehrerseminar in Zürich
Oerlikon, das er später leitete. 1993 wurde er Direktor des Real- und
Oberschullehrerseminars. Mit der Gründung der Pädagogischen Hochschule Zürich
(PHZH) übernahm Bircher 2001 das Prorektorat Ausbildung. Seit 2007 amtet er als
ihr Rektor.
Wenn
Bircher in die Zukunft blickt, tut er das also mit viel Wissen über die
Vergangenheit. Als er in die Lehrerbildung eingestiegen sei, habe man dem
Nachwuchs vor allem einen für eine möglichst lange Zeit reichenden Rucksack an
praktisch-didaktischem Wissen mitgeben wollen - aus der Praxis für die Praxis.
Der Nachteil: Wie man Wissen selber aufbereitet und wie man konzeptionell
arbeitet, lernten Lehrkräfte nicht.
Für
die vielfältigen Aufgaben, mit denen Lehrerinnen und Lehrer heute konfrontiert
seien, tauge das nicht mehr. Angehenden Lehrkräften seien die Kompetenzen für
die Wahrnehmung ihres ganzen Aufgabenspektrums zu vermitteln. Die
Auseinandersetzung mit Konzepten, mit Methodik und Didaktik, die Reflexion von
Inhalten habe deshalb eine zentrale Bedeutung, obwohl der Anteil der Praxis an
der Ausbildung gegenüber früher noch gewachsen sei. Sie diene nicht zuletzt der
Selbsteinschätzung. Gefordert sei eine grosse Selbständigkeit, sagt Bircher.
Anderseits spiele die Zusammenarbeit im Team eine immer wichtigere Rolle, was
sich in der Ausbildung spiegle.
Was
sich in Schule und Bildung zurzeit entwickle, sei an sich schon spannend.
Unglaublich sei aber das Tempo, mit dem das geschehe, sagt Bircher. In der
Informatik-Grundbildung zum Beispiel liege die Schweiz zurück. Die
pädagogischen Hochschulen müssten eine Vorreiterrolle übernehmen und auch dann
innovativ und kreativ bleiben, wenn sie auf Kritik stiessen.
Die
grosse Herausforderung der Zukunft stellt für Bircher die sich abzeichnende
Mittelverknappung dar. Wie lassen sich die Ziele trotzdem erreichen? Ohne enge
Zusammenarbeit von Lehrerbildung, Schule und Bildungspolitik sei dies nicht
möglich, sagt Bircher. Es mangle in diesem Dreieck aber an der Klärung der
Rollen. So bestünden zwischen Volksschulamt und PHZH nie gelöste
Doppelspurigkeiten in der Weiterbildung für Lehrkräfte.
Sein
Ziel sei stets eine bessere Vernetzung der PHZH im Schulfeld gewesen, sagt der
scheidende Rektor. Er sieht seine Hochschule als Dienstleisterin, welche die
Volksschule in ihrer eigenen Entwicklung unterstützt, ohne ihr Vorschriften zu
machen. Diese Rolle werde an Bedeutung gewinnen, etwa wenn Schulen trotz
zunehmender Heterogenität grössere Klassen bilden müssten. Dabei gehe es um
Hilfe bei der Entwicklung von Lösungen, die auf die lokalen Bedingungen
Rücksicht nehmen. Dafür seien den Schulen mehr Freiheiten und Kompetenzen
zuzugestehen.
«Man
baut keine Hochschule in einem Jahrzehnt», sagt Bircher und meint damit, dass
der Prozess der Tertiarisierung der Lehrerbildung noch nicht abgeschlossen ist.
Die PHZH habe zwar durch den Campus beim Hauptbahnhof ein Gesicht erhalten,
aber fertig strukturiert sei sie nicht. Ihr Ziel müsse sein, dass die
Studierenden einen Habitus erreichten, der dem im Unterrichtsalltag geforderten
sehr nahe komme. Dafür müsse sich die Ausbildung Richtung selbständiges
Zeitmanagement, weniger Präsenzunterricht und stärkere IT-Nutzung entwickeln.
Zudem
gelte es, das starke Defizit in der in der seit 50 Jahren praktisch
inexistenten fachdidaktischen Forschung zu beheben. Für die effiziente Nutzung
der dafür auf nationaler Ebene vorgesehenen Fördermittel brauche es eine
verstärkte Zusammenarbeit der pädagogischen Hochschulen, zum Beispiel in
Verbünden um grössere Hochschulen. Endlich vorwärts müsse es auch in der
Kooperation mit der Universität Zürich bezüglich Doktoratsprogrammen gehen.
«Wir möchten Dissertationen aus jenem Bereich haben, der uns am stärksten
interessiert, nämlich der Fachdidaktik», sagt Bircher. Heute müssten
Doktoranden dafür ins Ausland ausweichen.
Billiger produzieren
Der
PHZH droht eine Reduktion des Staatsbeitrags. Angesichts des anhaltenden
Wachstums stelle sich die Frage, wie man billiger mehr produzieren könne. Schon
in den letzten vier Jahren war eine Verdoppelung der Studierendenzahl zu
verkraften. Trotzdem decken die jährlich 600 Studienabgänger den Bedarf längst
nicht. Man werde sich mit einer Verkürzung des Grundstudiums auseinandersetzen
müssen, sagt Bircher, und im Gegenzug einen Ausbau der Ausbildung on the job
ins Auge fassen. Von der Forderung, wieder vermehrt Allrounder auszubilden,
hält er nichts. Das führe nur zu Schmalspurausbildungen.
Generell
geht für Bircher die Entwicklung im Lehrerberuf in Richtung einer stärkeren
Differenzierung der Berufsrollen. An das Modell des Versuchs «Fokus starke
Lernbeziehungen» mit zwei Lehrpersonen pro Klasse glaubt der PHZH-Rektor
angesichts der weiterhin wachsenden Schülerzahlen nicht. Dafür gebe es zu wenig
Lehrpersonen und zu wenig finanzielle Mittel. Die Schule müsse sich der Tatsache
anpassen, dass viele Lehrpersonen Teilzeit arbeiteten. Vermehrt werde es um die
Klassen möglichst konstante und einheitliche Netzwerke von Personen mit
unterschiedlichen Rollen geben - voll ausgebildete Lehrpersonen, Fachkräfte,
Praktikantinnen, Senioren, Klassenassistenten -, wie es das in Ansätzen heute
schon gibt.
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